Den Text habe vor ca. 4 Jahren geschrieben:
Originaltitel: Mangiati vivi!
Regisseur: Umberto Lenzi
Kamera: Federico Zanni
Musik: Roberto Donati, Fiamma Maglione
Drehbuch: Umberto Lenzi
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Nachdem er drei Menschen (in Ontario und New York) mit Giftpfeilen getötet hat, macht der Täter nun ebenfalls den Abflug. Die Polizei findet unter seinen Habseligkeiten einen Super 8 Farbfilm, der grausame Schmerz-Rituale (praktiziert auf einer Insel im Pazifischen Ozean) offenbart. Unter den Zeremonieteilnehmern lässt sich die seit sechs Monaten vermisste Diana Norris ausfindig machen. Demzufolge kontaktiert die Polizei Dianas Schwester, Sheila, die sich postwendend mit dem Vietnamveteranen, Mark Butler, auf den Weg nach Neuguinea macht, um ihre Schwester aus den Klauen des Sektenführers, Jonas, zu befreien. Die grüne Hölle hat ihre Pforten bereits geöffnet und der Teufel erwartet das Befreierduo mit ausgebreiteten Armen - und wen der Satan aufs Parkett bittet, der (die) kann sich auf ein heißes Tänzchen gefasst machen.
„Und der Joe mit seinem Messer ist der ärgste Menschenfresser;
schneidet ab nur Ohr und Nasen und versucht hindurch zu blasen.
…
Und der Häuptling „Scharfer Zacken“, der kaut einen weißen Backen;
und aus einem Säuglingsknochen lässt er sich ´ne Suppe kochen.“
So besagt es eine Textzeile aus dem Kinderlied „Negerlaufstand in Kuba“, das Wulf Schmidt-Wulffen in seinem Buch „Die zehn kleinen Negerlein: Zur Geschichte der Rassendiskriminierung im Kinderbuch“ zitiert. Ein Vokalstück, das mittlerweile aus der Mundorgel verbannt ist und die Frage aufwirft: warum sich der Autor eigentlich dieser, die Menschenfresserei verniedlichenden und heute rassistisch gedeuteten, Rhetorik bedient? Wer sind eigentlich diese verfluchten Kannibalen? Und was zum Teufel ist überhaupt Kannibalismus?
Der Ethnologe, Ewald Volhard, differenziert in seiner Studie über den Kannibalismus, zwischen profaner, gerichtlicher, magischer und ritueller Menschenfresserei. Er spricht zudem von Abscheu und morbider Faszination. Der Historiker, Jan Filip, erweitert das Forschungsfeld mit mystischer, pathologischer und der Ernährung dienender Menschenfresserei. Die Schriften der beiden Autoren aufzutreiben, gestaltet sich äußerst kompliziert, aus diesem Grunde empfehle ich zur kannibalischen Wissensbereicherung Heidi Peter-Röchers knackiges Buch „Mythos Menschenfresser“, welches dem wissbegierigen Menschen einige interessante Betrachtungsweisen zu bieten hat. Otto Normalverbraucher sind diese Aspekte natürlich scheißegal und (ungeachtet Springerbekannter kannibalischer Serienmörder) ist sein Wissen über den Kannibalismus bzw. über den Kannibalen auf die Cartoons diverser Klatschblätter reduziert. Der Kannibale als Witzfigur, ein auf dem schwarzen Kontinent beheimateter und mit einem opulenten Knochen im Haar geschmückter Primitivling, der Missionare und Expeditionsteilnehmer (selbsterklärend in voller Montur) in einen riesigen Kochtopf verfrachtet, darunter ein Feuerchen entfacht und gelegentlich nachwürzt.
Meine erste TV-Konfrontation mit den Kannibalen erfolgte während des sonntägigen ZDF-Matinee, in Form von Jean Sachas Defoe-Verfilmung „Robinson Crusoe“, wo der schiffbrüchige Robinson seinen späteren Diener und Freund, Freitag, vor zwei Menschenfressern rettet. Mein erstes exploitatives Kannibalenrendezvous erfolgte Ende der 1980er Jahre per ausgenudeltem VHS-Duplikat. Die vermeintlich 167ste Kopie einer Kopie auf der man die Typografie nur noch schwach erkennen konnte: LEBENDIG GEFRESSEN. Dieser (1980 von Umberto Lenzi inszenierte) Exploitation-Kracher ist mir bis heute als der geschmackloseste Menschenfresserfilm, den ich jemals zu Gesicht bekam, in Erinnerung geblieben. Wer meint er müsse diesen fragwürdigen Titel unbedingt „Nackt und zerfleischt“ zuschustern, der sollte beachten, dass Deodatos Film eine kritische Auseinandersetzung mit den Medien liefert. Lenzis „Lebendig gefressen“ propagiert hingegen ein absolut anspruchsloses, extrem menschenverachtendes und saubrutales Stück Film, das jegliche Grenzen des guten wie auch schlechten Geschmacks schamlos überschreitet und obendrein reichlich Tiersnuff verheizt.
Der Weg in die „Grüne Hölle“ ist diesmal nicht mit der Suche nach Reichtum, Sensationsgeilheit oder einem Flugzeugabsturz begründet, sondern mit der Suche nach einem verschollenen Familienmitglied. Folgerichtig geht es (nach einem Kurzaufenthalt in den Vereinigten Staaten) für Sheila und Mark per Flugzeug nach Neuguinea, um dort in die Hände von Jonas und seinen Jüngern zu fallen. Eine Purifikationssekte, die im Busch nach Reinheit sucht, während ihrer Zeremonien den Klängen von Bachs „Toccata“ lauscht und gelegentlich die nordstaatlerische und zugleich die Dschungelbesatzerische „Battle Hymn of the Republic“ anstimmt. Das Jonas freilich nicht der Messias ist, für den ihn seine Gefolgschaft hält, sollte nicht nur den mit allen verseuchten Wassern der Welt gewaschenen Genrefilmfreaks klar sein. Jonas agiert als ein (wahrscheinlich impotenter) Wüstling und autoritärer Sadist, der sich mit der zu Hilfenahme von Holzphallus und Peitsche an den Schmerzen seiner auserwählten Opfer weidet. Mit dem Ansiedeln (s)einer Purifikationssekte im Dschungel Neuguineas verweist Lenzi implizit auf die von Jim Jones gegründete Sekte „Peoples Temple“ und das Jonestown-Massaker, welches als Massensuizid in die Annalen Guyanas einging. Dessen Initiator, Jones, war bekannt für das Zelebrieren von Drogenexzessen und den sexuellen Missbrauch von Frauen. Abartigkeiten, die Lenzi (wie bereits umrissen) auch seinem Sektenführer, Jonas, verabreicht.
Der von Melvyn Jonas im Dschungel von Neuguinea erschaffene, geordnete sowie faschistisch geleitete Mikrokosmos wird von einem anarchistisch-chaotischen Wall umschlossen, der ein unerwünschtes Eindringen unmöglich macht. Unkontrollierbare Scharen von Menschfressern lauern hinter jedem Grashalm, um im rechten Moment zuzuschlagen und menschliche Beute einzufahren. Wesen aus der Hölle, die ihre Opfer bei lebendigem Leib verstümmeln und verspeisen. Lenzi gibt Vollgas, legt allen Respekt ab und präsentiert ein Naturvolk, das jegliche rassistischen Schablonen bestätigt und selbst die übelste Gräuelgeschichte vom bösen Buschmann als eine gemütliche Lagerfeuerburleske wirken lässt.
Im Gegensatz zu „Die Rache der Kannibalen“ und „Nackt und zerfleischt“ liefert „Lebendig gefressen“ kein Alibi für die Bestialität der Eingeborenen. Der Regisseur lässt die Grausamkeiten unbegründet eskalieren, zelebriert die Zerstörung menschlicher und animalischer Körper und lässt die Abscheulichkeiten in einem „lebendig gefressen werden“ gipfeln. Zu diesen zahlreichen Affektbildern, gesellt sich ein finaler Sarkasmus, der die Protagonisten (zum Schutze von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit) zu einem Leugnen der Menschenfresserei nötigt. Die erlebten Abartigkeiten haben nichts in einer modernen Gesellschaft zu suchen und demzufolge soll der Kannibale dem Reich der Ammenmärchen erhalten bleiben.
Mit der Auswahl seiner Darsteller hat Lenzi ein gutes Händchen bewiesen. Ivan Rassimov kann die Besessenheit und Perversion des Sektenführers, Jonas, ebenso passabel transportieren wie Robert Kerman den teilweise unüberlegt agierenden Vietnamveteranen, Mark Butler. Außerdem möchte ich Franco Coduti in der Rolle von Jonas´ Leibwächter, Karan, sowie Carlo Longhi (Dick) positiv erwähnen. Frauen sind in Lenzis Film übrigens gar nichts wert und der Regisseur nutzt jede Gelegenheit, um sie nackt durch die Botanik zu hetzen oder als Opfer von ritueller und sexueller Gewalt leiden zu lassen. Die Damen, der in den 1960er Jahren gegründeten „Aktion Saubere Leinwand“ hätten eine Sichtung von „Lebendig gefressen“ definitiv nicht überlebt!
Fazit: Religiöser Irrglaube, Tiersnuff, Kannibalismus und Darwinismus sind die Ingredienzien, die Lenzi zu einer ausbeuterischen Einheit formt, um das Kollidieren der Kulturen besonders abstoßend zu vermitteln. Dabei knüpft der Regisseur eine Grausamkeit an die nächste und lässt das Gesamtkonstrukt als einen der Pioniere und Taktgeber innert einer erst viele Jahre später ins Rollen kommenden Welle von Torture Porn Filmen agieren.
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