Re: Die gemütliche DELIRIA-LITERATUR LOUNGE
Verfasst: Di 14. Jan 2020, 10:31
Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 2: 1953 – 1954
„Demut vor dem Leben in all seiner Rätselhaftigkeit“ – Gary Groth über Charles M. Schulz
Wie in meinen Zeilen zum ersten Band bereits erwähnt, begann der Hamburger Carlsen-Verlag im November 2006, eine alle Strips umfassende, streng chronologisch sortierte „Peanuts“-Werkausgabe zu veröffentlichen. Der zweite, erneut rund 350 Seiten starke Hardcover-Band umfasst die täglichen Comic-Strips der Jahre 1953 und 1954 inkl. aller umfangreicheren Sonntagsseiten. Drei Seiten lang führt Andreas Platthaus, Comic-Experte der in ihren Beiträgen zur politischen Meinungsbildung so beschämend reaktionären, für ihren Kulturteil aber vielgelobten F.A.Z., in diese Ausgabe ein, indem er vornehmlich auf die Besonderheiten in Schulz’ Comics dieses Zeitabschnitts hinweist und damit noch neugieriger auf sie macht, als man als Peanuts-Freund und/oder Comic-Archäologe ohnehin schon ist. Zwei Seiten lang darf ferner Gary Groth Charles M. Schulz charakterisieren und ein Index sowie eine Vorschau auf den nächsten Band komplettieren das wie gehabt auf hochwertigem Kartonpapier gedruckte Buch im Schutzumschlag.
„Ich glaube, ich bin ein geborener Außenseiter… Ich scheine einfach nirgends hineinzupassen.“ – „Vielleicht könntest du dich einer Gruppe Außenseiter anschließen…“ – „Selbst da würde ich vermutlich nicht hineinpassen…“ – Charlie Brown und Schröder im Gespräch
Der Hauptteil gehört natürlich den unkolorierten Comic-Strips und der Evolution Schulz’ Figuren, die damals noch nicht abgeschlossen war: Sie alterten noch immer, was hier zu interessanten Entwicklungen wie den zahlreichen Marotten führt, die sie immer stärker ausbilden. Dies trifft insbesondere auf Lucy zu, die – neben Charlie Brown, versteht sich – diesen Band dominiert. So wird sie in Bezug auf Lebensmittel enorm pingelig, hadert bereits mit dem Kindergarten wie Ältere mit Schule oder Arbeit und versucht 1954 ständig, die Sterne am Himmel und später Wolken und Sonnen (!) zu zählen. Außerdem kommentiert sie in schöner Regelmäßigkeit mit Unverständnis die Texte von Kinderliedern – und natürlich ist sie stolz, eine Nörgelliese zu sein, was sie für eine Art sportlicher Disziplin hält. Erfreulich ist für sie, dass sie zu lesen beginnt, wenngleich sie nun gern pseudowissenschaftlichen Nonsens von sich gibt und den die Dinge besser wissenden Charlie als Dummkopf bezeichnet, was diesem auf den Magen schlägt und woran er im weiteren Verlauf regelrecht verzweifelt. Dass er trotzdem wirklich immer im Dame-Brettspiel gegen sie verliert, macht die Sache nicht besser.
Dass Charlie ein Alter Ego seines Schöpfers ist wird im Running Gag deutlich, in dem er Comics zeichnet, deren Pointen partout nicht ankommen. Geradezu selbstreferentiell mutet es an, wenn Schulz im Mai 1953 (S. 58) Comiczeichner Charlie in die Sprechblase legt, sein Humor sei zu subtil für den gemeinen Leser. Dies und vieles andere muss der Melancholiker mit sich selbst ausmachen. Dass man als Leser(in) bei Team-Aktivitäten Charlies wie z.B. Baseballspielen die Interagierenden so gut wie nie sieht, verstärkt den Eindruck von Einsamkeit und Isolation, der zu einem seiner Markenzeichen wurde, wenn er auch längst nicht jedem Strip immanent ist. Das Lächeln seines Hundes stimmt ihn aber schnell wieder fröhlich. Snoopy läuft nach wie vor auf allen Vieren, seine von Platthaus als vermeintlichen Stilbruch gewerteten Sprechblasen im August 1953 (S. 98) interpretiere ich eher als Gedankenblasen bzw. als Lautartikulation, die für Menschen unverständlich sind, aber natürlich auf Snoopys menschliche Eigenschaften verweisen. Wie häufig er Süßigkeiten zu fressen bekommt, irritiert indes noch immer.
Lucys kleiner Bruder Linus darf im Juni 1953 (S. 74) erstmals eigene Gedanken formulieren, seine Schmusedecke debütiert am 1. Juni 1954 (S. 222). Als sie später wieder aufgegriffen wird, avanciert sie gar kurzzeitig zum Trend: Alle Jungs haben plötzlich eine! Mit Schmuddelkind Pig-Pen feiert im Juli 1954 (S. 240) eine meiner Lieblingsfiguren ihren Einstand und hat eine ganze Reihe starker Auftritte, wenngleich sie noch nicht permanent eine Schmutzwolke um sich herum erzeugt. Als auf traurige Weise visionär erweist sich ein Strip aus dem Mai 1954, in dem Kriegscomicsammler Charlie nicht weiß, ob er sich nach den Ausgaben „Der Unabhängigkeitskrieg“, „Der Krieg von 1812“, „Bürgerkriegs-Comics“, „Der Erste Weltkrieg“, „Der Zweite Weltkrieg“ und „Der Koreakrieg“ auf das nächste Heft freuen soll. Im Oktober 1953 (S. 122) verfügt eine Sonntagsseite erstmals über einen eigenen Titel („Das Kricket-Spiel“) und das Motiv Charlies erfolgloser Drachensteigversuche wird auf einer Sonntagsseite im Juni 1954 (S. 227) eingeführt. So, wie die Figuren noch altern, tun dies auch die äußeren Umstände, sprich: Es gibt Jahreszeiten. Eigenartigerweise zeichnete Schulz am 31.10.1954 keinen Halloween-Strip, obwohl das Thema in den Strips zuvor aufgegriffen wurde. Dass Schulz neben seinem reduzierten Strich auch wesentlich aufwändiger, detaillierter und realistischer zeichnen konnte, beweisen in den Strips auftauchende Objekte wie Schröders Beethoven-Büste oder auch Vögel, die mit Snoopys späterem Freund (und hier noch lange nicht herbeiflatterndem) Woodstock nicht das Geringste gemein haben.
Welchen Aufwand es bedeutet, dem eigenen Komplettismusanspruch gerecht zu werden, lässt der abschließende Kommentar der Herausgeber erahnen, die einen Einblick in die schwierige Ausgangslage gewähren und denen gar nicht genug dafür gedankt werden kann, sich dennoch auch der verschollensten Strips angekommen und sie aufwändig restauriert zu haben, sodass auch diese Ausgabe vollständig ist und sich die Rezipientinnen und Rezipienten ins comichistorische Vergnügen stürzen können.