
Im November 1956 beendete die Sowjetunion den ungarischen Volksaufstand durch den Einsatz von Panzern. Ganz Europa hatte anschließend Angst, dass „die Russen kommen“ und sich auch andere Länder einverleiben. In der Schweiz ging die Angst so weit, dass das kleine und unabhängige Land ein eigenes Atomwaffenprogramm auflegte. Soweit die Historie.
In der Fiktion nimmt die Schweizer Bundespolizei, Abteilung Antispionage und Abwehr, kurz darauf einen einheimischen Journalisten fest, Werner Eiselin, und zwar unter dem dringenden Tatverdacht der Spionage für die Sowjetunion. Der Beweis ist ein Foto, auf dem zu sehen ist, dass Eiselin auf dem Roten Platz Dokumente von einem sowjetischen Verbindungsoffizier erhält. Dem ermittelnden Kommissar Rappold wird dieses Bild von einem externen Mitarbeiter der Abwehr zugespielt, Major Harry Windt. Eiselin leugnet, natürlich, und nach 33 Tagen in Haft und 68 Verhören, ohne Kontakt zu seiner Frau, überhaupt ohne Kontakt zur Außenwelt, in Isolationshaft und ohne Anwalt, erschießt sich Eiselin in Rappolds Büro.
Jetzt, ein Jahr später, taucht plötzlich das Schweizer Atomwaffenprogramm in der sowjetischen Prawda auf. Zum Teil sogar wortgetreu. Und es taucht ein Film auf, auf dem zu sehen ist, dass Major Harry Windt, ehrenvolles Mitglied der Schweizer Wehrgesellschaft und gut befreundet mit dem kompletten Offiziersstab von Heer und Abwehr, dass dieser Major Windt, der beruflich Public Relation-Kampagnen für das Schweizer Heer und für Politiker durchführt, dass besagter Major Windt Dokumente an einen russischen Verbindungsoffizier weitergibt. Vier Tage, bevor die Prawda das besagte Atomwaffenprogramm abdruckt. Hauptkommissar Rappold soll ermitteln. Er lässt Major Harry Windt verhaften, und hat damit sofort und automatisch die gesamte Spitze von Heer und Abwehr gegen sich. Seinen Vorgesetzten, seine Vertrauten, alle sind gegen ihn. Denn Harry Windt ist so etwas wie das militärische Gegenstück zu einem Popstar. Ein Mann der die Wahrheit und die Aufrichtigkeit gepachtet hat. Bis er seine Version der Geschichte erzählt …
Zu viel darf man nicht über MANIPULATION wissen, und ich stelle mal die Behauptung in den Raum, dass die obige Inhaltsangabe knapp die Hälfte des Filmes darstellt. Die eher vorhersehbarere Hälfte. Und über die andere Hälfte mag ich nichts erzählen … Nur so viel, dass sie einige, nun ja, nicht vorhersehbare Ereignisse enthält.
Tatsächlich ist MANIPULATION ein fieser und hinterfotziger Thriller, der in seiner Machart erstaunlich altbacken wirkt, in seiner Wirkung hingegen hochmodern ist. Wir verlassen das Büro Rappolds nur für ein paar kurze Aufnahmen, aber eigentlich könnte man auch von einem Theaterstück reden, so fixiert scheint der Film auf das Büro und den Verhörraum. Hier, im Herzen einer erstarrten und unbeweglichen Bürokratie, entscheidet sich das Schicksal freier Menschen. Eines Journalisten, der aus Versehen in Spionageverdacht gerät und auch in einer modernen Vorzeigedemokratie damit aller(!) seiner Bürgerrechte verlustig geht. Eines PR-Beraters, der ebenfalls der Spionage verdächtigt wird, aber intelligenter und trickreicher scheint als der Journalist. Eines Abwehroffiziers und Verhörspezialisten, der an seiner eigenen Wahrnehmung zweifelt und an der Realität scheitert. Dies ist die eine Hälfte der Wahrheit(?), die andere Hälfte ist das grandiose Spiel vor allem Sebastian Kochs als Harry Windt. Was Koch an kleinen und kaum merkbaren Spitzen heraushaut, wie er den Zuschauer und auch Rappold foppt, die Wahrheit(?) andeutet, die Lüge kultiviert, und damit jeden aufs Glatteis führt, das ist über alle Maßen sehenswert und geradezu überwältigend. Vor allem im Hinblick darauf, wie sich nach dem Ende des Films die Puzzleteile zusammenfügen und ein Bild ergeben, das eigentlich dazu führt, dass man sich den Film noch einmal anschauen müsste, um die kleinen Hinweise und Spitzfindigkeiten erst richtig schätzen zu lernen. Wie DIE ÜBLICHEN VERDÄCHTIGEN, nur kälter. Realistischer. Böser.
MANIPULATION ist ein trickreiches Spiel mit Lüge und Wahrheit, und die Inszenierung steht dem in Nichts nach. Wir sehen Bilder und hören dazu die Töne einer anderen Szene, Rückblenden können natürlich visuell ausfallen, aber auch rein akustisch sein. Wir sind in Rappolds Kopf und nehmen dergestalt seine Erinnerungen wahr, versuchen sie einzuordnen und die eine, die wesentliche, die übersehene Information daraus zu ziehen. War Eiselin ein Kommunist? Oder ein Bauernopfer in einem viel größeren Spiel? Was stellt Windt dar? Einen raffinierten Spion? Oder einen Kleinkriminellen, der zur richtigen Zeit am richtigen Ort war und die Chance seines Lebens ergriffen hat? Und überhaupt: Manipulation – Wer manipuliert hier wen? Manipuliert Rappold Eiselin, wenn er ihm im Verhör etwas vorlügt? Oder manipuliert Windt Rappold, wenn er ihm die Wahrheit erzählt? MANIPULATION ist eine Scharade, deren Fazit es ist, um Himmels Willen nicht alles zu glauben was in den Medien steht – Eine Schlussfolgerung, die heutzutage aktueller scheint denn je: Was ist in einer durchschnittlichen Nachrichtensendung die Wahrheit? Und was eine Lüge? Und welche „Meldung“ kann in einem sogenannten Sozialen Medium mit diesen Begriffen belegt werden? Der Film ist also nicht nur ein schlauer und ausgefuchster Thriller, sondern gleichzeitig auch eine Lehrstunde in Sachen Moral, aber auch und vor allem in Sachen Wahrnehmung und Wahrheit. Was immer man unter dem Begriff Wahrheit verstehen mag. Und gerade wegen der völligen Absenz von Actionszenen ist MANIPULATION allen schwerstens empfohlen, denen gutes Storytelling und intelligente Skripts im Film auch heute noch wichtig sind. Was keine Lüge ist. Oder?