Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Moderator: jogiwan

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Reinifilm
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Reinifilm »

Bei „Tyrannenmord“ handelte es sich um einen Tatort der klassischen Art - sprich: Lahme Story spannungsarm inszeniert und dröge in Szene gesetzt, dazu ein supadupa Ermittler ohne Fehl und Tadel.
Ergebnis: Langweilige Einheitsware, die stark an die 90er Schlaftabletten-Tatorte erinnerte. 04/10
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Tyrannenmord

„Gewalt ist eine Lösung!“

Die fünfte „Tatort“-Inszenierung des Regisseurs Christoph Stark („Tabu – Es ist die Seele ein Fremdes auf Erden“) basiert auf einem Drehbuch Jochen Bitzers. Es handelt sich um „Tyrannenmord“, den 16. Einsatz für Bundespolizist Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring), zugleich der zehnte zusammen mit Bundespolizistin Julia Grosz (Franziska Weisz). Uraufgeführt wurde diese Episode der öffentlich-rechtlichen Krimireihe im September 2021 auf dem 28. Internationalen Filmfest Oldenburg, die TV-Erstausstrahlung folgte am 20. März 2022.

„Du hast nichts getan und trotzdem hast du lebenslänglich!“

Der 17-jährige vermeintliche Diplomatensohn Juan Mendez (Riccardo Campione, „Gladbeck“), Schüler eines südniedersächsischen Elite-Internats, entpuppt sich nach seinem plötzlichen Verschwinden als Lendenspross des Diktators des südamerikanischen Staats Orenaka. Dass dies ausgerechnet passiert, als Juans Eltern (Alexandra von Schwerin, „Helen Dorn“ und Bernhard Leute, „Herbstkind“) auf Staatsbesuch kommen, um über ein Handelsabkommen im Gegenzug für mehr Pressefreiheit zu verhandeln, verleiht der nicht nur für Juans Lehrerehepaar Bergson (Katarina Gaub, „Harter Brocken“ und Christian Erdmann, „Nächste Ausfahrt Glück“) unangenehmen Angelegenheit zusätzliche Brisanz. Bundesbulle Falke soll in diesem Fall ermitteln und wird zu höchster Diskretion verdonnert, an seine Seite stellt man ihm jedoch anstelle seiner eigentlichen Kollegin Julia Grosz den unerfahrenen Jungspund Felix Wacker (Arash Marandi, „Die defekte Katze“). Wer hat Juans bulligen Leibwächter Carlos (José Barros, „Goliath“) ein Getränk mit K.O.-Tropfen verabreicht? Versteckt sich Juan schlicht vor seinen Eltern, wie sein Schulfreund August (Anselm Bresgott, „Windstill“) vermutet, oder haben Regimegegner ihn auf dem Gewissen, wie Juans Freundin Hanna (Valerie Stoll, „Trübe Wolken“) befürchtet? Tatsächlich taucht ein Erpresserschreiben auf, das für eine Entführung spricht…

„…wie in so’ner Bananenrepublik!“

Im Internatsunterricht wird gerade verhandelt, inwieweit Gewalt für politische Lösungen taugt, während die Sicherheitschefin des Diktators eine Demo gegen die Diktatur untersagen will. Falke beweist dabei Haltung; bei manch Zuschauer(in) dürften Erinnerungen an die ungeheuerlichen Vorgänge während der Demonstrationen gegen den Schah von Persien wachwerden. Ein ebenso interessanter wie politischer Auftakt, dazu gesellt sich eine zarte Romanze zwischen Hanna und Juan, der stets seinen Leibwächter an den Hacken hängen hat. Die erste große Frage lautet kurz darauf, wer Carlos aus welchen Gründen derart sediert hat, dass ihm Juan entfleuchen konnte. Die zweite Frage: Wo steckt Juan und weshalb ist er verschwunden? Das klassische Whodunit?-Prinzip wird also nicht nur um die Motivsuche erweitert, sondern auch um das Rätsel, was überhaupt passiert ist.

„Herzinfarkt wär‘ jetzt nicht schlecht – dann wär‘ mein Tag gerettet!“

Das ist reizvoll und spannend, zumal gleich mehrere Figuren sich eigenartig verhalten und sich verdächtig machen – oder zumindest offenbar mehr wissen als die Polizei und das „Tatort“-Publikum. Als sich Juan als Diktatorensohn herausstellt, wird klar, dass reale Fälle wie der des aktuellen nordkoreanischen Machthabers, der eine Schweizer Lehranstalt besuchte, offenbar zu dieser Idee inspirierten. Wird nun also ein spannender Polit-Thriller daraus, in dem die Politik, durch Handelsbeziehungen zu einer Diktatur mehr Freiheiten für deren Volk zu erreichen, nicht nur diskutiert, sondern durch einen gewaltsamen Übergriff radikaler Regimegegner auch torpediert wird – und mittendrin ein mitteleuropäisch sozialisierter Junge, der einfach nur ein normales Leben führen und mit seiner Freundin glücklich werden möchte, aber nun um sein Leben bangen muss?

Leider nein. Stattdessen sehen wir, wie Falke mal mit und mal gegen Carlos ermittelt, der bei seinen eigenen Nachforschungen mit wesentlich rabiateren Methoden vorgeht. Wie ein Todesfall die Spannung eher herausnimmt, statt sie zu erhöhen. Wie ein offenbar fingiertes Geständnis breit ausgewalzt wird, Falke aber trotzdem den richtigen Riecher hat. Und wie eine überkonstruierte, höchst unwahrscheinliche Auflösung den Fall fast aller politischer Brisanz beraubt und den Großteil des Potenzials dieses „Tatorts“ verschenkt. Das ist enttäuschend. Immerhin involviert Falke seine Kollegin Grosz dann doch in die Ermittlungen, sodass Franziska Weisz zumindest zu etwas Bildschirmpräsenz kommt. Internate wie das hier dargestellte kommen nicht gut weg, sie bilden die Basis für ein wenig Sozialkritik – die angesichts der verpassten Chancen dieses Falls eher Alibicharakter hat.

Möhring gibt seinen Falke routiniert raubeinig und mürrisch, inklusive Punk-Soundtrack und dem obligatorischen Glas Milch. Schön und gut. Aber ein wirklicher runder, plausibler und trotzdem gern auch provokativer, harter, vor allem relevanter Fall für diese Figur dürfte es dann schon gern mal wieder sein.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Reinifilm
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von Reinifilm »

Tatort: Hubertys Rache“ - nach den Schnarchern der letzten Wochen eine echte Überraschung: Ein astreiner Geiselthriller! Gefiel mir wirklich gut - 08/10.
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Schliesse mich Reini an.
Exzellenter Cast. Gute Story. Spannend bis zum Schluss. Ausgefeilte Charaktere, bis in die Nebenrollen. OK, die Mutter Tochter Geschichte war vielleicht ein bisschen viel.
Und auch mal eine differenzierte Betrachtung der Opferperspektive in der Lehrer Schüler Affäre. Eindringlich.
Empfehlung.
jogiwan hat geschrieben: solange derartige Filme gedreht werden, ist die Welt noch nicht verloren.
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buxtebrawler
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Acht Jahre später

„Warum sind Sie so erregt?“

Am 28. April 1974 betrat eine neue Ermittlerfigur das Parkett des WDR-„Tatorts“: Hansjörg Felmy („Buddenbrooks“, „Der Henker von London“) verkörperte Kommissar Haferkamp aus Essen, einen in Scheidung lebenden, Bier und Korn alles andere als abgeneigten, drahtig schlanken Mann in den besten Jahren, der unter seiner betont sachlichen Analytik und scheinbaren Gefühlsarmut seine Desillusionierung in Bezug aufs große Lebensglück zu verbergen scheint. Das Drehbuch Karl Heinz Willschreis inszenierte Wolfgang Becker („Ich schlafe mit meinem Mörder“), der damit innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimireihe debütierte. Neun weitere Episoden unter Beckers Regie folgten, die meisten davon mit Haferkamp als Ermittler. Haferkamp zur Seite steht sein Assistent Willy Kreutzer (Willy Semmelrogge, „Der Nachtkurier meldet …“), ein etwas untersetzter und einfach gestrickter, aber nicht unsympathischer Malochertyp. Haferkamp ermittelte bis ins Jahr 1980 und war der meistbeschäftigte „Tatort“-Kommissar jener Ära.

„Statistik ist mein Hobby!“

Kommissar Heinz Haferkamp von der Essener Kripo stellt Serieneinbrecher Brossberg (Relja Bašić, „Malastrana“) und wird beschossen. Er zielt in Richtung des Mündungsfeuers, schießt zurück – und tötet dabei Brossbergs unbewaffneten Bruder. Brossberg wird verhaftet und zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Noch im Gerichtssaal schwört er Rache: sowohl an Haferkamp als auch an seiner ehemaligen Geliebten Frau Pallenburg (Christine Ostermayer, „Der zerbrochene Krug“), die ihn an die Polizei verriet. Nach acht Jahren wird er aus der Haft entlassen und Haferkamp rechnet nicht wirklich damit, dass sich Brossberg noch seinem Vergeltungsschwur verpflichtet fühlt, doch Frau Pallenburg scheint das ganz anders zu sehen – und quartiert sich kurzerhand schutzsuchend beim Kommissar ein…

„Zwei Weiber, die gemeinsam auf mich losgehen!“

Nach der aufsehenerregenden Schießerei im Prolog kristallisiert sich bald heraus, dass unter Kommissar Haferkamp die Fernsehsiebziger wieder so grau wurden, wie sie in Deutschland wirklich waren. Die Wohnzimmer-mit-Stehlampe-Ästhetik des Interieurs wirkt mehr spießig als gemütlich, sieht jedenfalls so gar nicht nach Post-‘68er-Freiheit aus. Haferkamp ist von seiner Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, „La Femme, le Mari et la Mort oder Über die Schwierigkeiten, seinen Mann umzubringen“) geschieden, wenngleich sie auf freundschaftlicher Basis weiterhin eine Rolle in seinem Leben – und in den „Tatorten“ – spielt. Aus den Dialogen mit Haferkamp lässt sich heraushören, dass man eine glückliche Ehe einfach nicht auf die Reihe bekommen hat, ohne dass konkret würde, woran sie letztlich genau gescheitert ist. Wahrscheinlich gibt es diesen einen bestimmten Grund gar nicht.

„Sie sind nicht logisch, Sie sind gemein!“

In Haferkamps nur von einem „Casablanca“-Filmplakat aufgebrochener Wohntristesse (wähnt er sich als eine Art Hafi Bogart?) platzt also plötzlich diese verzweifelte Frau hinein. Zu trinken hat er leider nur Bier und Korn im Haus; und obwohl er sich gerade sein karges Abendessen zubereitet – Spiegeleier –, isst er kaum etwas. Dies dürfte seine körperliche Statur erklären, mehr Hagerkamp denn Haferkamp. Versuche, die Pallenburg mit streifenpolizeilicher Hilfe wieder loszuwerden, quittiert sie mit Selbstmorddrohungen, drunter macht sie’s nicht mehr. Also bleibt sie und lernt auch Ingrid, Haferkamps Ex, kennen. Im Zuge eines Streitgesprächs scheinen sich beide Weibsbilder gegen ihn zu verschwören. Auch das noch! Da hilft nur noch die Kneipe, ordentlich einen hinter die Schrankwand nageln. Hatte jemals zuvor ein „Tatort“-Kommissar derlei Probleme?

Beeindruckende Bilder aus einer Stahlfabrik leiten über in gewitzte Wendungen, eine davon: Ingrid ist schlauer als Haferkamp. Weniger Wendung als vielmehr zu erwarten ist es indes, dass Brossberg tatsächlich noch auf Rache sinnt. Keine Täter- oder Motivsuche in dieser Episode, ist man anzunehmen geneigt. Oder etwa doch…? Auf den schleswig-holsteinischen „Tatort“-Kommissar Finke (Klaus Schwarzkopf) entfällt der damals noch obligatorische Gastauftritt. Haferkamp ist aufgerufen, listig und immer ein, zwei Schritte vorausdenkend zu agieren, wie ihm die Konfrontation mit Brossberg in der Stahlfabrik lehrte. Kreutzer versucht seinem Chef so gut wie möglich zuzuarbeiten, konnte dessen Kohlenmonoxidvergiftung jedoch auch nicht verhindern.

Das Finale fällt ebenso betrunken wie aufregend aus, wurde spannend und mit überraschend viel Stilwillen inszeniert. Durch diese Episode zieht sich ein Panflötenspiel als musikalisches Thema, was nach Jahren der Panflötenomnipräsenz in deutschen Fußgängerzonen etwas befremdlich wirken mag, jedoch durchaus seinen Teil zur atmosphärischen Ausgestaltung dieses Falls beiträgt, der mit seinen Anleihen beim Film noir und einer interessanten Charakterisierung Haferkamps einen starken Essener Einstand bildete.

Die Figur Haferkamp nimmt hier zumindest in Teilen bereits ihren Nachfolger Horst Schimanski (Götz George) vorweg; und da ist es sicher kein Zufall, dass der Schimmi-Erfinder und spätere „Tatort“-Routinier Hajo Gies drei Jahre später als „Tatort“-Regisseur ausgerechnet mit einer Haferkamp-Episode („Das Mädchen von gegenüber“) debütieren sollte.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Beitrag von buxtebrawler »

„Tatort“: Termin für Meret Beckers letzten Fall steht fest
Abschied von Kommissarin Nina Rubin in diesem Frühjahr

Noch ein letztes Mal ermittelt Meret Becker am Berliner „Tatort“, dann verabschiedet sich Kommissarin Nina Rubin vom Bildschirm. Das Erste hat Sonntag, den 22. Mai als Ausstrahlungstermin für den letzten Fall der langjährigen Hauptdarstellerin bestätigt. Um 20:15 Uhr wird „Das Mädchen, das allein nach Haus’ geht“ gezeigt. Gedreht wurde Rubins letzter Fall bereits im vergangenen Herbst.

Quelle und weitere Infos:
:arrow: https://www.fernsehserien.de/news/tator ... steht-fest
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von buxtebrawler »

Tatort: Zweikampf

„Was ist mit meinen Augen? Bin ich blind?!“

Nur knapp zwei Monate nach seinem Debüt bekam der Essener „Tatort“-Kommissar Heinz Haferkamp (Hansjörg Felmy) seine zweite schwere Nuss zu knacken: Am 23. Juni 1974 wurde die 1973 gedrehte Episode „Zweikampf“ erstausgestrahlt. Regisseur Wolfgang Becker war wie im ersten Haferkamp-Fall für die Inszenierung verantwortlich, das Drehbuch stammte erneut von Karl Heinz Willschrei.

„Sie müssen versprechen, dass Sie nicht schlecht von mir denken!“

Millionärsgattin Marion Mezger (Ursula Lingen, „Der Mustergatte“) wird von zwei Gentleman-Gangstern entführt, die ihr die Augen verbinden und penibel darauf achten, dass nur einer von beiden mit ihr spricht, sie ansonsten aber höflich und gut behandeln. Sie fordern fünf Millionen DM Lösegeld von ihrem Mann (Werner Bruhns, „Wenn süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft“), einem Möbelfabrikanten, die sie auch erhalten. Marion Mezger wird freigelassen, die Beute gut versteckt. Ein Hinweis aus der Bevölkerung führt Kommissar Haferkamp auf die Spur des Bauunternehmers Degenhart (Heinz Baumann, „Und Jimmy ging zum Regenbogen“), der sich seiner Sache jedoch sehr sicher ist. Das von ihm unbewohnte Appartement, in dem er und sein Komplize Frau Mezger festgehalten hatten, gibt er Haferkamp gegenüber als Liebesspielwiese aus, die er nur ab und an verwende. Haferkamp führt Mezger mit verbundenen Augen durch die Wohnung und fragt, ob sie sie wiedererkenne – doch sie verneint… Degenhart muss freigelassen werden, aber Haferkamp heftet sich weiter hartnäckig an dessen Fersen.

„Ich glaube, ich bin ein ziemlich sentimentaler Bursche…“

Zu einem schmissigen Psychedelic-Rock-Stück eröffnet „Zweikampf“ mit der Entführung und handelt auch die Ereigniskette ab, die durch sie ausgelöst wird: Herr Mezger alarmiert die Polizei, doch Haferkamp nimmt die Vermisstenmeldung zunächst nicht ernst. Dafür wird er von seinem Vorgesetzten gerügt, polizeiintern wird ein großer Bahnhof aufgefahren. Dass dies wohl kaum der Fall wäre, handelte es sich nicht um eine Millionärsgattin, bleibt unausgesprochen, schwingt in diesen Bildern aber mit. Mit Herrn Mezger stehen die Entführer während der geplanten Lösegeldübergabe in Funkkontakt, denn das Geld soll aus einem fahrenden Zug geworfen werden. Das ist spannend und rasant inszeniert, die zeitweise zum Einsatz kommende Wackelkamera vermittelt eine ordentliche Portion Realismus. Hier waren Könner am Werk.

„Wer kastriert raucht, ist kein Kerl!“

Im Zuge der anschließenden Ermittlungen spielt Haferkamps Assistent Kreutzer (Willy Semmelrogge) entgegen dem Episodentitel eine größere Rolle. Zeug(inn)en- und Indizienspurensuche vermitteln klassische Polizeiarbeit, bevor die anschließende Wohnungsbegehung zum Wendepunkt der Handlung gerät. Entführer Degenhart wurde zuvor als Lebemann eingeführt, der zwar keine funktionierende Ehe oder wenigstens Beziehung mehr vorzuweisen hat, jedoch nicht auf den Mund gefallen ist und aus seiner Situation das Beste zu machen scheint – eine Art Gegenentwurf zum unter seiner Scheidung eher zu leidenden Haferkamp. Von Degenhart existieren Fotos, die ihn mit nackten jungen Frauen zeigen – ein bei Haferkamp unvorstellbarer Sleaze-Faktor.

„Ja, ich hasse ihn!“

Dieser „Tatort“ macht keinen Hehl daraus, dass Degenhart einer der beiden Täter ist, das Publikum hat von Anfang an einen entsprechenden Wissensvorsprung. Auch das Motiv ist bekannt. Beinahe in „Columbo“-Manier entbrennt der titelgebende Zweikampf zwischen Degenhart und Haferkamp, wobei sich ersterer aalglatt gibt und letzterer zu psychologischer Kriegsführung und weiteren Tricks greifen muss. Aber auch der bayrische Kommissar Veigl (Gustl Bayrhammer) wird für den obligatorischen Gastauftritt konsultiert und in ein Fotoshooting bei Haferkamps Ex-Frau Ingrid (Karin Eickelbaum, hier fesch mit langen Haaren) hineingeplatzt, worauf diese äußerst verärgert reagiert. Haferkamps Chef charakterisiert seinen Mann als zäh und stur – danke, hätten wir als Zuschauerinnen und Zuschauer sonst kaum bemerkt! Spaß beiseite – wie Haferkamp sich reinkniet, ist aller Ehren wert, wenngleich stets eine gewisse Portion Respekt vor Degenhart und sicherlich auch Sympathie mit hineinspielt.

Letztlich ist Haferkamp alldem zum Trotz nur dank der Unterstützung eines ehemaligen Schulfreunds (Horst Sachtleben, „Kir Royal“) Degenharts und des Entführungsopfers erfolgreich, denn dieses hatte – ganz im Sinne einer Femme fatale – ihre eigenen Pläne ausgeheckt. Damit schließt sich gewissermaßen der Kreis zur vorausgegangenen Haferkamp-Episode. Dass es hier keinen Todesfall zu beklagen gibt und es tatsächlich „nur“ um eine Entführung geht, man ferner ohne Schießereien, Verfolgungsjagden o.ä. auskommt, gerät dank der Qualität der Inszenierung mit ihrer feinjustierten Dramaturgie schnell in Vergessenheit, wenngleich mir persönlich nach hinten raus dann doch etwas Expressivität und Spektakel fehlen. Und was ist eigentlich aus Degenharts Komplizen geworden? Nichtsdestotrotz eine runde Sache, dieser zweite Einsatz Haferkamps.
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karlAbundzu
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Tatort: National Feminin
Eigentlich mache ich ja um die Tatorte mit Maria Furtwängler einen Bogen, eigentlich die einzigen, die ich bewusst auslassen. Doch in der gestrigen Wiederholung lockten mich zwei andere Schauspielerinnen. Emilia Schüle, die hier das Opfer spielt, aber trotzdem viel Screen Time hat. Das erste Mal viel sie mir besonders in der Ku Damm Reihe auf. Eine wunderbare Mimin, sehr wandelbar und dazu hat sie eine gewisse Ausstrahlung, die mich irgendwie unbestimmbar an 70er Darstellerinnen erinnert.
Florence Kasumba, die ich nur aus den Marvel Filmen kannte. Da gefiel mir ihre starke Ausstrahlung, ihr körperliches Spiel, intensiv. Ich wusste weder das sie Deutsche ist noch das sie im Tatort Co-start.
Hier ein Fall, der moderne Nationalistinnen betrachtet. Das ist differenziert dargestellt, mit spannenden unterschiedlichen Charakteren und gleichzeitig bezieht der Film eindeutig Haltung. Der Mord und der Fall selbst ist eher von der Stange, aber gut gefilmt und inszeniert.
Frau Lindholms persönliche Geschichtchen bekommen zum Glück nur wenig Platz, und die Beziehung zwischen ihr und Anais Schmitz ist stark.
Gut
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Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen

Beitrag von karlAbundzu »

Polizeiruf Rostock: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen
Zwei Monate nach Bukows Abgang versucht Kathrin König noch damit fertig zu werden, in gewohnter Inneneinkehr und Biestigkeit.
Ein Fall führt sie zusammen mit Bukows Schwester, diese LKA-Beamte betreute (oder eben eher betreute nicht) ein Kind der osteuropäischen Mafia, das zwar den Ausstieg suchte, aber harte Drogen fand. Die Mutter seines besten Freundes wurde erstochen, sein Freund ist auf ihre Hilfe angewiesen und starb daraufhin auch. Er selbst ist auf der Flucht....
Gleich von beginn wird der Unterschied der beiden Frauen um Bukow klar gemacht, während Melly es so nebenbei gelingt, Muffins zu backen und korrekt mit der Tochter umzugehen, schafft es Kathrin nicht, ein Brot zu backen, ohne auszuflippen. Bei der Polizeiarbeit sind sie auch unterschiedlich, doch hier zeigt Melly Schwächen, aber auch die Stärke, diese zu zu geben.
Der Fall als solcher lebt von Soziopsychigrammen: Ein Millieu um Pflegekinder, allein gelassenen Frauen, Männer in der Unsicherheit ihrer Rollen. Das gleitet dann doch ab und an allzu sehr in die Klischeehaftigkeit ab, gerade bei den Pflegekindern und den Männern.
Aber insgesamt hielt der mich gut bei der Stange, ich war drin. Guter Geräusche-Score auch.

Tatort Frankfurt: Finsternis
Es beginnt wie ein Horrorfilm, ein junges Pärchen deckt sich in einer leeren Tanke noch ein, um durch einen Wald noch zu ihm zu fahren. Hören Hilferufe, stolpern über eine am Boden liegende Fau, werden angegriffen....Später ist der Körper nicht mehr aufzufinden, alles deutet auf eine Frau hin, doch ihre Familie sagt, dass sie auf einem Ausflug wäre und sich schon noch melden würde. Janneke und Brix decken nach und nach die Familiengeheimnisse auf.
Und da gibt es einige: Klassisches deutsches Krimigut: Die Familie als Ort der Finsternis, nicht aufgearbeitete Beziehungen als Keimzelle des Unschönen, gepaart mit allerlei Egoismen. Und das ist von den Familienmitgliedern sehr gut gespielt, und vom Buch intensiv geschrieben. Toll gefilmt auch.
Für mich zu erst irritierend, dass der Rostocker Chef (s.o.) hier das patriachale Oberhaupt der Familie ist.
Margarita Broich und Wolfram Koch liefern als Kommissare routiniert ab, haben kaum etwas zu tun, es gibt sehr wenig privates der beiden, und Brix hilft auch lieber im Fannys Cafe aus. Sie bleiben Stichwortgeber, die die Handlung vorantreiben. Was allerdings auch sehr passend ist.
Gut.
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buxtebrawler
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Beitrag von buxtebrawler »

Polizeiruf 110: Seine Familie kann man sich nicht aussuchen

„Nimm's nicht persönlich.“

Die erste Rostocker „Polizeiruf 110“-Episode nach Charly Hübners Ausstieg – bisher als Kommissar Bukow der Partner an Kommissarin Königs (Anneke Kim Sarnau) Seite – wurde am 24. April 2022 erstausgestrahlt. Als Regisseur trat erstmals Stefan Krohmer („Eine fremde Tochter“) innerhalb der öffentlich-rechtlichen Krimirehe in Erscheinung, der ein Drehbuch des „Polizeiruf“-erfahrenen Autors Florian Oeller inszenierte. Bereits vor den Pressevorführungen war bekanntgegeben worden, dass Hübners Ehefrau Lina Beckmann („Magical Mystery oder: Die Rückkehr des Karl Schmidt“) als Kommissarin und Bukows Halbschwester Melly Böwe zukünftig an Königs Seite ermitteln werde.

„Find dich damit ab!“

Ein Jugendlicher (Alessandro Schuster, Dresdner „Tatort“) irrt nachts auf einsamen Landstraßen im Rostocker Einzugsgebiet umher, in seiner Hand ein Messer. Ein Autofahrer stoppt und überredet ihn einzusteigen. Während der Fahrt beginnt der Fahrer sich sexuell zu stimulieren, woraufhin der Jugendliche ihm mit seinem Messer in den Oberschenkel sticht und so zum Anhalten zwingt. Der Messerstecher läuft weg. Am nächsten Tag werden in einem vermeintlich idyllischen Rostocker Vorort eine alleinerziehende Mutter und ihr gelähmter jugendlicher Sohn tot aufgefunden: Sie wurde erstochen, ihr Sohn erlitt einen Schlaganfall, weil seine Infusion nicht mehr gewechselt wurde. Der durch die Nacht irrende, mit einem Messer bewaffnete Junge stellt sich als Max heraus, ausgestiegener Sohn eines Mafiaclans, der unter Zeugenschutz steht und als Pflegekind zusammen mit seiner Pflegeschwester Emma bei Jule (Susanne Bormann, „Fleisch ist mein Gemüse“) und Holger Genth (Jörn Knebel, „Nord bei Nordwest“) lebt – den Nachbarn der Toten. Aufgrund des Zeugenschutzes tritt die Bochumer Kommissarin Melly Böwe auf den Plan, die einst Max unter ihren Fittichen hatte, bevor er schwer drogenabhängig wurde. Die eigentlich auf diesen Fall angesetzt Kommissarin Katrin König muss sich wohl oder übel mit Böwe, der Halbschwester ihres untergetauchten Partners und Geliebten Bukow, arrangieren. Allem Anschein nach ist Max der Täter. Was trieb ihn dazu – und wo steckt er? Die Kommissarinnen versuchen Antworten bei Jens Sommer, dem Ex-Mann der Toten, bei Familie Genth sowie bei den zahlreichen Liebhabern der promiskuitiv gelebt habenden Toten zu finden. Königs Vorgesetzter Röder (Uwe Preuss) versucht derweil, Katrin König dazu zu überreden, die Karriereleiter zur Teamleiterin hochzusteigen…

Wer nun glaubt, der Neuanfang im Rostocker „Polizeiruf 110“ ginge mit ausgeprägter Stutenbissigkeit einher, irrt: Natürlich ist König zunächst nicht sonderlich erfreut, dass die zuvor im Fall „Sabine“ eingeführte Böwe plötzlich auftaucht und sich in ihre Arbeit einmischt, doch Drehbuch und Inszenierung nutzen die Situation, um zwei unterschiedliche Frauen zu charakterisieren und zu zeigen, wie sie sich zusammenraufen und erfolgreich zusammenarbeiten. Dieses Klischee wird also umschifft. Ferner bewegt man sich in dieser Episode weg vom Urbanen und verlagert den Schauplatz in die Welt der Einfamilienhäuser, hinter deren Fassade es in dysfunktionalen Familien brodelt und Überforderung an der Tagesordnung ist. Eine Vielzahl an Figuren wird eingeführt, die dem Publikum die Sorge bereiten könnten, der Handlung nicht mehr folgen zu können, doch entspannte und geduldige Zuschauer(innen) werden belohnt: Es wird sich alles stimmig zusammenfügen und übermäßige Konzentration ist nicht erforderlich.

Der Fokus liegt dabei grundsätzlich auf Max, wenngleich er auch immer wieder aus dem Auge gelassen wird, um sowohl die horizontale, episodenübergreifende Handlung weiterzuerzählen als auch den Toten ein Gesicht zu geben und Max‘ Pflegefamilienverhältnisse aufzuarbeiten. Die erwachsenen männlichen Protagonisten nehmen dabei keine allzu rühmlichen Rollen ein, sondern müssen sich und der Polizei ihre Schwächen eingestehen. Was mancher für verurteilungswürdig halten würde, erscheint mir viel mehr hilflos und, ja: ehrlich. Neben gravierenden (Patchwork-)familiären Problemen werden Themenbereiche wie Entwurzelung, Behinderung, Sterbehilfe, Einsiedlertum, wohltuende/funktionale Zweckgemeinschaften und Sexualität angeschnitten, um im letzten Drittel die Perspektive von Pflegekindern noch einmal zu betonen und mit einer überraschenden Wendung aufzuwarten.

Die bedrückende Stimmung und das gezeigte Elend werden durch ein wenig Humor aufgelockert, allem voran während der Befragungen der zahlreichen Liebhaber der Toten. Obwohl „Seine Familie kann man sich nicht aussuchen“ lange Zeit mehr auf Dramatik denn auf klassischen Krimi-Thrill setzt und sich tatsächlich als Psycho-Kriminaldrama entpuppt, gelingt es, die Spannungsschaube zum Finale hin kräftig anzuziehen. Das geht unter die Haut, nicht zuletzt, weil nahezu alle Schauspielerinnen und Schauspieler, von Sarnau über Schuster, Beckmann, Bormann und Knebel bis hin zu einer ebenso beeindruckenden wie beängstigenden Dragus, es verstehen, frei von jeglichem Overacting ihre jeweilige emotionale Lage nachvollziehbar zu transportieren und sowohl Bestürzung als auch Nachdenklichkeit auszulösen.

So hat es dieser Neustart geschafft, dass zumindest ich Charly Hübner nicht vermisst habe, sondern, vom Sonntagskaterchen in den Sessel gedrückt, fasziniert in diesen Fall vordringen und ihn empathisch nachempfinden konnte. Nach diesem geglückten Übergang darf man gespannt auf die weitere Zusammenarbeit des neuen Teams Sarnau/Beckmann sein.
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