„Wie bestimmte Insekten sich unter gegebenen Umständen allesamt einem Lichtstrahl zuwenden, so wenden wir uns alle von einer Region ab, in der der Tod herrscht. Die treibende Kraft der menschlichen Tätigkeit ist ganz allgemein das Verlangen, den Punkt zu erreichen, der am weitesten vom Bereich des Sterbens entfernt ist (dem Bereich von Verwesung, Schmutz und Unreinheit): wir tilgen überall, in unermüdlicher Anstrengung, die Spuren, Zeichen und Symbole des Todes. Wir tilgen sogar hinterher, wenn es irgend geht, die Spuren und Zeichen dieser Anstrengung. Unser Verlangen, uns zu erheben, ist nur ein Symptom, unter hundert anderen, für diese Kraft, die uns zu den Antipoden des Todes zieht. Das Grauen, das die Reichen vor den Arbeitern empfinden, die Panik, die Kleinbürger bei der Vorstellung ergreift, in die Lage der Arbeiter zu geraten, beruhen darauf, dass die Armen in ihren Augen stärker als sie selbst unter der Peitsche des Todes stehen. Bisweilen mehr als der Tod selbst, sind diese trüben Spuren des Schmutzes, der Ohnmacht, des Verderbens, die auf ihn zugleiten, Gegenstand unseres Abscheus.
Diese ängstliche Haltung äußert sich vielleicht noch deutlicher in den moralischen Prinzipien, die wir affirmieren, als in unseren Reflexen. Allerdings sind unsere Affirmationen verhüllt: große Worte geben einer negativen Haltung einen positiven Sinn, der offensichtlich leer ist, aber versehen mit dem Glanz strahlender Wertschätzung. Wir können nicht anders, als das Wohl aller herauszustellen – den leichten Verdienst und den sicheren Frieden -: legitime und vollkommen negative Ziele (es geht nur darum, den Tod zu entfernen). Was die Grundeinsichten betrifft, sind unsere allgemeinen Lebensauffassungen stets auf das Verlangen nach Dauer zurückzuführen. Michelet unterscheidet sich darin nicht von den Einsichtigsten.
Diese Haltung und diese Prinzipien sind unveränderlich. Zumindest soweit sie die Grundlage sind und bleiben müssen. Aber wir können uns nicht gänzlich darauf verlassen. Selbst wenn man nur dem Interesse nachgeht, auf das sie abzielen, ist es bis zu einem gewissen Grad notwendig, ihnen zuwiderzuhandeln. Das Leben sieht sich mitunter genötigt, die Schatten des Todes nicht zu vermeiden, sondern sie in sich wachsen zu lassen, bis zur Gefahr der Ohnmacht und letztlich des Todes selbst. Die ständige Wiederkehr verhaßter Momente – von denen sich das Leben in seinem Getriebe abwendet – ist schon unter normalen Umständen gegeben, aber sie ist unzureichend. Wenigstens reicht es nicht zu, daß die Schatten des Todes gegen unseren Willen wiederkehren: wir müssen sie noch aus freien Stücken herbeiführen, - auf eine Weise, die genau unseren Bedürfnissen entspricht (ich spreche von den Schatten, nicht vom Tod selbst). Diesem Zweck dienen die Künste, deren Wirkung im Falle des Schauspiels darin besteht, uns in den höchstmöglichen Grad der Angst zu versetzen. Die Künste – zumindest einige unter ihnen – führen uns unaufhörlich diese Unordnung, diese Zerrissenheit und Erniedrigung vor Augen, die unsere ganze Aktivität zu vermeiden gedenkt. (Dieser Satz gilt sogar für das Lustspiel.)
Wie unerheblich diese Momente letztlich auch sein mögen, die wir aus unserem Leben entfernen wollen, die aber die Kunst auf einem Umweg wieder hereinholt, sie sind darum nicht weniger Zeichen des Todes: wenn wir lachen oder weinen, so heißt das, daß uns im Augenblick, wo wir Opfer eines Spiels oder Mitwisser eines Geheimnisses sind, der Tod leicht erscheint. Das bedeutet nicht, daß das Grauen vor ihm uns fremd geworden wäre: sondern daß wir es für einen Augenblick überwunden haben. Die Erregung des Lebens, die derart hervorgerufen wird, ist zwar ohne praktische Tragweite, denn sie hat nicht die Überzeugungskraft derer, die vom Widerwillen ausgehen und das Gefühl vermitteln, daß die Arbeit notwendig sei. Aber sie hat darum nicht weniger Bedeutung. Was das Lachen lehrt, ist dies: wenn wir klug die Todesmomente vermeiden, bemühen wir uns nur darum, das Leben zu erhalten; wenn wir aber die Region betreten, die die Klugheit uns vermeiden heißt, leben wir es. Denn die Ausgelassenheit des Lachens ist nur Schein. Aufflammend in der Berührung mit dem Tod, aus den Zeichen der Leere ein verstärktes Bewußtsein des Seins hervorlockend, holt das Lachen gewaltsam zurück, was verworfen werden sollte, und führt uns für eine Zeit aus der Sackgasse, in der jene, die es nur zu erhalten wissen, das Leben einschließen.“
Bataille, Georges: Michelet, in: Michelet, Jules, Die Hexe. Mit Beiträgen von Roland Barthes und Georges Bataille, München 1974, S. 258f.
Nein, es ist auch nicht DEMONIA...
