Re: Stranger Things [Web-Serie] - Matt & Ross Duffer (2016 - )
Verfasst: Di 8. Nov 2022, 17:50
Staffel 4:
Make a deal with God
„'86, Baby!“
Nach zwei Jahren Produktionszeit hatte das lange Warten ein Ende und die ersten sieben Episoden der vierten Staffel der ‘80er-Rollback-Mystery/Science-Fiction/Horror/Coming-of-Age-Serie „Stranger Things“ der Zwillingsbrüder Matt und Ross Duffer wurden im Frühjahr 2022 vom US-Video-on-Demand-Streaming-Dienst Netflix bereitgestellt, die letzten beiden Episoden folgten einige Wochen später. Es soll sich um die vorletzte Staffel handeln, die fünfte und finale Staffel ist bereits bestätigt.
„Wir sind Außenseiter und Freaks!“
Die Episoden weisen nun Spielfilm- und sogar Überlänge auf; deren erste entführt zunächst ins Jahr 1978 im Hawkins-Laborinstitut und zu einem Jungen, den wir als „Nummer 010“ kennenlernen. Dr. Brenner (Matthew Modine) führt seine Experimente an Kindern mit telekinetischen Fähigkeiten durch, bis plötzlich alle Kinder außer 011 (also Elfie (Millie Bobby Brown)) getötet werden. Nach dem Prolog eröffnet Elfie aus dem Off, ihre Worte entpuppen sich als geschriebener Brief an ihren Freund Mike (Finn Wolfhard). Wir schreiben nun den 21. März 1986: Elfie ist mit Familie Byers nach Kalifornien gezogen und hat an der dortigen Highschool einen schweren Stand, wird als Außenseiterin gemobbt. In Hawkins hat Max (Sadie Sink) gerade eine Beziehung mit Lucas (Caleb McLaughlin) hinter sich, der sich von seiner Clique entfremdet und den Schulbasketballern anschließt. Dustin (Gaten Matarazzo), mittlerweile angehender Hacker, und Mike gehören dem „Hellfire Club“ an, einen AD&D-Pen-and-Paper-Rollenspielclub, der vom etwas älteren Heavy-Metal-Fan Eddie (Joseph Quinn, „Operation Overlord“) geleitet wird. Und eine dunkle Macht hat es auf die Heranwachsenden Hawkins‘ abgesehen…
Max hört gern Kate Bush, ihr Hit „Running Up That Hill” erklingt erstmals im Zusammenhang mit einer emotionalen Erfahrung Elfies und sorgt direkt für Gänsehaut. Er wird im weiteren Verlauf der Staffel immer mal wieder zu hören sein und eine wichtige Rolle spielen. Die überaus liebenswerte Figur Eddie, optisch eine Mischung aus Lips von Anvil und Eddie van Halen, wird famos als provokanter, aber auch intelligenter Rüpel mit Dio-Aufnäher auf seiner Jeans-Weste eingeführt, der im „Hellfire Club“ einen supertheatralischen Rollenspielleiter mimt. Zu seinem Dunstkreis zählt ein weiterer, korpulenter Metaller mit punkiger Frisur. Wer in den 1980ern gern Metal hörte, wird hier bestens abgeholt. Die Versuche der „Hellfire“-Mitglieder, Gäste für eine Clubparty zu gewinnen, erinnern an den Mike-Krüger-Evergreen „Wir feiern heut' 'ne Party“… Klasse gelöst ist eine Parallelmontage des Basketball-Meisterschaftsspiels, an dem Eddie teilnimmt, und einer Rollenspielpartie seiner bisherigen Clique. Die Cheerleaderin Chrissy (Grace Van Dien, „Charly Says“), die mit einem der tonangebenden Basketball-Cracks liiert ist, ereilen unheimliche Visionen, eine Terrorszene auf dem Schulklo erinnert an Pennywise‘ Vorgehen in „Es“. Die mit viel Humor gespickte Episode endet mit purem Horror für Chrissy und einem Aufenthalt in der unterhalb Hawkins‘ angesiedelten Upside-Down-Parallelwelt – und nach Chrissys Tod hängt Eddie knietief mit drin. Der Horroranteil ist auch grafisch überraschend hart ausgefallen, bewegt sich irgendwo zwischen „Es“ und „A Nightmare on Elm Street“ und ist ein gelungener Paukenschlag eines genialen Staffeleinstiegs, der zudem Hinweise darauf enthält, dass Hopper (David Harbour) noch leben könnte.
So steigt die zweite Episode dann auch mit einer Rückblende zu Hoppers vermeintlichem Tod ein und bringt Gewissheit: Er lebt! Mit diesem Prolog sind alle drei parallel verlaufenden Handlungsstränge eingeführt: Hopper im russischen Gefangenenlager, Elfie und die Byers in Kalifornien, der Rest der Clique mitsamt neuen Freunden und Feinden in Hawkins. Mike besucht Elfie in Kalifornien, wodurch sich die Grüppchen wieder ein wenig einander annähern und durchmischen. Steve (Joe Keery) und seine lesbische Freundin Robin (Maya Hawke) arbeiten jetzt in einer Videothek. Eine Rückblende zeigt, wie Hopper von den Russen gefoltert wird. In der Gegenwart erhält Joyce (Winona Ryder) eine Nachricht aus Russland, aus der sich die vage Hoffnung ergibt, Hopper aus dem Knast gegen die Zahlung von 40.000 Dollar herausholen zu können. Für eine kräftige Dosis ‘80er-Popultur sorgt Elfies und Mikes Besuch einer Rollschubahn, in der u.a. Falco und Baltimora („Tarzan Boy“, yeah!) gespielt werden. Die Rollschuhbahn wird zum Ort organisierter Demütigung Elfies. Doch das ist nichts gegen die Horrorvisionen, die nun auch Nachwuchsjournalist Fred (Logan Riley Bruner, „Alex Strangelove“) heimsuchen. Zusammen mit Nancy (Natalia Dyer) versucht er etwas über Chrissys Tod herauszufinden, wobei Eddies Onkel den Namen Victor Creel ins Spiel bringt: Dieser soll seine Familie vor einigen Jahren umgebracht haben. Eddie ist indes untergetaucht, wird jedoch von seinen Freunden gefunden und ins Upside Down und den damit zusammenhängenden Vorgängen in Hawkins eingeweiht. Der monströse Antagonist (Jamie Campbell Bower, „Sweeney Todd“), der Chrissy auf dem nicht vorhandenen Gewissen hat, wird „Vecna“ getauft und gesellschaftliche Paranoia gegen Rollenspieler und Metal-Fans zu einem Teil der Handlung gemacht. Damit greift „Stranger Things“ auf kluge Weise reale gesellschaftliche Stimmungen auf, die (nicht nur) in den 1980ern „dämonische“ Musik, Horrorfilme, Comics etc. und deren Produzent(inn)en respektive Konsument(inn)en als Sündenböcke für soziale Missstände heranzogen, was letztlich sogar den einen oder anderen Musiker vor Gericht brachte. Andererseits verfällt die Serie leider wieder in Kalter-Krieg-Klischees, indem sie Sowjets als gefühlskalte, brutale Monster darstellt – auch ein Teil der Populärkultur der 1980er-Jahre, jedoch keiner, der reproduziert werden sollte. Technisch indes ist das alles auf höchstem Niveau und mit sehr viel Sorgfalt und Liebe zum Detail von den Duffers persönlich inszeniert, womit die diese ersten beiden Episoden umfassende Exposition weitestgehend geglückt ist.
„Schnappen wir uns den Freak!“
In den weiteren Episoden bleibt die alte Clique bis zum Finale getrennt. Lucas gerät zunehmend in Loyalitätskonflikte zwischen seinen alten Freunden und den Mitgliedern des Basketballteams, die für Eddie, Dustin und Konsorten nur Verachtung übrighaben und zur Jagd auf Eddie blasen, da Teamkapitän Jason (Mason Dye, „Natural Selection“) Eddie für den Mörder seiner Freundin Chrissy hält. Neben Vecna gibt es somit einen weiteren Gefahrenherd (vgl. Henry Bowers & Co. in „Es“), zu dem sich gleich noch einer gesellt, denn die US Army wiederum hält Elfie für verantwortlich für Chrissys Tod. Dr. Sam Owens (Paul Reiser) schreitet ein und erklärt sich bereit, in den geheimen Laboratorien wieder mit Elfie zusammenzuarbeiten, damit sie ihre übersinnlichen Kräfte zurückerhält und im Kampf gegen das neue Unheil helfen kann. Im russischen Strafgefangenenlager muss sich Hopper neben den unmenschlichen Aufsehern mit Demogorgon und Demodogs herumschlagen, während in Hawkins die Victor-Creel-Spur bzw. der Familienmord mit Vecna zusammenzuhängen scheinen. Ein Gespräch mit Victor Creel, von niemand Geringerem als Robert Englund („A Nightmare on Elm Street“) gespielt, wirft ein neues Licht auf die Taten, aufgrund derer er in der Psychiatrie sitzt. Der Besuch bei ihm erinnert an „Das Schweigen der Lämmer“, die Figur wird mit Rückblenden in die 1950er verbunden. Vecna hat es derweil auf Max abgesehen, die in akuter Lebensgefahr schwebt. Dass ähnliche Vorfälle bereits vor 30 Jahren geschehen sind, ist eine weitere Reminiszenz an Stephen King’s „Es“. Eine gruselige Wanduhr fungiert als wiederkehrendes Unglücksbotenmotiv. Das Finale der dritten Episode sticht mit seiner Aussage über die Kraft von Musik und Freundschaft äußerst angenehm hervor.
„Hawkins ist in Gefahr!“
Yuri (Nikola Djuricko, „Leeches“), Karikatur eines verschlagenen, korrupten Russen und eine Art Comic Relief, spielt im Handlungsstrang um Hopper im weiteren Verlauf eine immer größere Rolle, ebenso der abtrünnige Gefängnisaufseher Enzo (Tom Wlaschiha, „Game Of Thrones“). Zusammen mit Hopper, Joyce und Murray (Brett Gelman) bildet man bald eine Schicksalsgemeinschaft, die sich untereinander alles andere als grün ist. Aus dem gegenseitigen Misstrauen entwickelt sich zusätzliche Spannung, während Murray über sich hinauswächst. Der zunehmend gefällige, anbiedernde Humor, mit dem diese Sequenzen versehen wurden, ist insbesondere in Episode 6, wo er besonders dominant wirkt, leider etwas übertrieben und konterkariert die düstere Stimmung. Andererseits wird Hopper mittels Einblicken in seine Vergangenheit, die u.a. von einem Vietnamtrauma und dem Verlust seiner Tochter negativ geprägt ist, tiefergehender charakterisiert. Die Darstellung der Sowjets hingegen zeichnet diese noch monströser, als sie es selbst unter Stalin gewesen sind… Zugegebenermaßen bekommt aber auch manch US-Institution ihr Fett weg. Einen Action-Höhepunkt offeriert die vierte Episode in Form einer wilden Schießerei, der sich Jonathan (Charlie Heaton), Mike und Will (Noah Schnapp) ausgesetzt sehen, nachdem sie zwischen die Fronten aus Geheimagenten und Militär gerieten.
„Hawkins steht ein Krieg bevor!“
Weiteres Licht ins Dunkel bringen Elfies Erinnerungen, die aus verschütteten Ecken ihres Unterbewusstseins mit technischer Hilfe hervorgeholt werden, womit diese Staffel wieder ganz am Beginn anknüpft und das komplexe Handlungsgeflecht zunehmend aufschlussreiche Formen annimmt. Das ist erzählerisch prima gelöst, geht jedoch mit einer Retraumatisierung Elfies nach einem Vertrauensmissbrauch einher. Dustins Hacker-Freundin Suzie (Gabriella Pizzolo) wird ebenso eine nicht unwichtige Rolle zuteil wie Jonathans langhaarigem Pizzabäcker- und Kifferkumpel Argyle (Eduardo Franco, „Booksmart“), einer neuen Figur, die leider übertrieben komödiantisch angelegt wurde und den subtileren Witz vorausgegangener Staffeln vermissen lässt. Besuche des leerstehenden, unheimlichen Creel-Hauses wiederum bieten angenehmen Geisterhausgrusel.
„Was ist das Internet?“
Da die letzten beiden Staffelepisoden erst zu einem späteren Zeitpunkt von Netflix bereitgestellt wurden, erfüllt die siebte Folge die Funktion eines Präfinals, das die Hintergrundgeschichte um entscheidende Informationen sehr sorgfältig erweitert und zu Vecnas Origin Story avanciert, die hervorragend erdacht und umgesetzt wurde. Das Finale hat es dann auch wahrlich in sich, eingeläutet durch spektakuläre Zuspitzungen, Abschiede, Wiedersehen und eine volle Kelle Action. Metallicas „Master Of Puppets“ rundet den Soundtrack kongenial ab, die extralange Episode 9 beschwört die Kraft der Liebe, geht nicht zimperlich mit liebgewonnenen Figuren um und endet mit einem, jawoll: Cliffhanger! Denn eine finale fünfte Staffel ist, wie eingangs erwähnt, längst angekündigt.
„Furchterregende Zeiten...“
Dieser vierten Staffel ist es überaus respektabel gelungen, mehrere parallel verlaufende Handlungsstränge über die Gesamtdistanz miteinander zu verknüpfen, ohne in seifenopernhafte Gefilde abzudriften. Der immer wieder eingestreute Humor trifft hingegen weniger meinen Geschmack und ist mir zuvor seltener negativ aufgefallen, von einer Klamotte ist „Stranger Things“ aber auch weiterhin meilenweit entfernt. Größtes Übel ist die mehr als despektierliche Darstellung der Sowjets, die offenbar eine der Schattenseiten der 1980er – den sich im US-Kino in propagandistischer Form niederschlagenden Kalten Krieg – erneut zu kultivieren und zu glorifizieren versucht. Thematischer Überbau ist hingegen weiterhin die Kraft der Freundschaft, diesmal besonders stark einhergehend mit Vertrauensfragen: Ständig muss Elfie abwägen, wem sie vertrauen sollte und wem besser nicht – ob in Kalifornien, in Hawkins oder im Labor (in letzterem herrschen interessanterweise Arbeitsbedingungen wie bei Amazon).
Damit orientiert sich „Stranger Things“ einmal mehr stark an Stephen King’s „Es“, was sich auch im Epilog widerspiegelt. Aber auch andere populärkulturelle Anspielungen und Referenzen der 1980er sind allgegenwärtig, meist beweisen die Duffers ein recht geschmackssicheres Händchen. Den einem bereits in den vorausgegangenen drei Staffel an Herz gewachsenen Jungmiminnen und -mimen zuzuschauen, bereitet einmal mehr Freude, wobei Millie Bobby Brown auch als Heranwachsende ihre Elfie grandios verkörpert, indem sie sie sowohl Beschützerinstinkte als auch Ehrfurcht hervorrufen lässt (und dankenswerterweise zur Kurzhaarfrisur zurückfindet). Mitunter fühlt man sich als väterlicher Freund, der die Clique beim Erwachsenwerden begleitet.
Das Creature Design ist großartig, denn Vecna ist auch optisch herrlich fies anzusehen; die düsteren Kulissen um ihn herum müffeln natürlich hier und da nach CGI, das jedoch auf recht hohem Niveau. Demogorgon und Demodogs kennt man ja und werden zunächst fast etwas inflationär eingesetzt, dafür erhält der Demogorgon gegen Ende noch einen wahrlich nervenaufreibenden Auftritt. Mit dieser Staffel ist „Stranger Things“ weiterhin zurecht das Aushängeschild Netflix‘, Sucht-, Wohlfühl-, Grusel-, Nostalgie- und Melancholie-Faktor gehen diese unverschämt funktionale Verschmelzung miteinander ein, hinter der aber viel konzeptionelle und technische Arbeit steckt – denn diese Serie ist mehr als ein bloßer Abklatsch alter Erfolgsmodelle aus dem phantastischen Film der 1980er. Hoffen wir also auf einen würdigen Abschluss mit der fünften Staffel, in der die Russen und Sowjets vielleicht auch etwas besser wegkommen (wenngleich es gerade denkbar schlechte Zeiten dafür sind…).
Make a deal with God
„'86, Baby!“
Nach zwei Jahren Produktionszeit hatte das lange Warten ein Ende und die ersten sieben Episoden der vierten Staffel der ‘80er-Rollback-Mystery/Science-Fiction/Horror/Coming-of-Age-Serie „Stranger Things“ der Zwillingsbrüder Matt und Ross Duffer wurden im Frühjahr 2022 vom US-Video-on-Demand-Streaming-Dienst Netflix bereitgestellt, die letzten beiden Episoden folgten einige Wochen später. Es soll sich um die vorletzte Staffel handeln, die fünfte und finale Staffel ist bereits bestätigt.
„Wir sind Außenseiter und Freaks!“
Die Episoden weisen nun Spielfilm- und sogar Überlänge auf; deren erste entführt zunächst ins Jahr 1978 im Hawkins-Laborinstitut und zu einem Jungen, den wir als „Nummer 010“ kennenlernen. Dr. Brenner (Matthew Modine) führt seine Experimente an Kindern mit telekinetischen Fähigkeiten durch, bis plötzlich alle Kinder außer 011 (also Elfie (Millie Bobby Brown)) getötet werden. Nach dem Prolog eröffnet Elfie aus dem Off, ihre Worte entpuppen sich als geschriebener Brief an ihren Freund Mike (Finn Wolfhard). Wir schreiben nun den 21. März 1986: Elfie ist mit Familie Byers nach Kalifornien gezogen und hat an der dortigen Highschool einen schweren Stand, wird als Außenseiterin gemobbt. In Hawkins hat Max (Sadie Sink) gerade eine Beziehung mit Lucas (Caleb McLaughlin) hinter sich, der sich von seiner Clique entfremdet und den Schulbasketballern anschließt. Dustin (Gaten Matarazzo), mittlerweile angehender Hacker, und Mike gehören dem „Hellfire Club“ an, einen AD&D-Pen-and-Paper-Rollenspielclub, der vom etwas älteren Heavy-Metal-Fan Eddie (Joseph Quinn, „Operation Overlord“) geleitet wird. Und eine dunkle Macht hat es auf die Heranwachsenden Hawkins‘ abgesehen…
Max hört gern Kate Bush, ihr Hit „Running Up That Hill” erklingt erstmals im Zusammenhang mit einer emotionalen Erfahrung Elfies und sorgt direkt für Gänsehaut. Er wird im weiteren Verlauf der Staffel immer mal wieder zu hören sein und eine wichtige Rolle spielen. Die überaus liebenswerte Figur Eddie, optisch eine Mischung aus Lips von Anvil und Eddie van Halen, wird famos als provokanter, aber auch intelligenter Rüpel mit Dio-Aufnäher auf seiner Jeans-Weste eingeführt, der im „Hellfire Club“ einen supertheatralischen Rollenspielleiter mimt. Zu seinem Dunstkreis zählt ein weiterer, korpulenter Metaller mit punkiger Frisur. Wer in den 1980ern gern Metal hörte, wird hier bestens abgeholt. Die Versuche der „Hellfire“-Mitglieder, Gäste für eine Clubparty zu gewinnen, erinnern an den Mike-Krüger-Evergreen „Wir feiern heut' 'ne Party“… Klasse gelöst ist eine Parallelmontage des Basketball-Meisterschaftsspiels, an dem Eddie teilnimmt, und einer Rollenspielpartie seiner bisherigen Clique. Die Cheerleaderin Chrissy (Grace Van Dien, „Charly Says“), die mit einem der tonangebenden Basketball-Cracks liiert ist, ereilen unheimliche Visionen, eine Terrorszene auf dem Schulklo erinnert an Pennywise‘ Vorgehen in „Es“. Die mit viel Humor gespickte Episode endet mit purem Horror für Chrissy und einem Aufenthalt in der unterhalb Hawkins‘ angesiedelten Upside-Down-Parallelwelt – und nach Chrissys Tod hängt Eddie knietief mit drin. Der Horroranteil ist auch grafisch überraschend hart ausgefallen, bewegt sich irgendwo zwischen „Es“ und „A Nightmare on Elm Street“ und ist ein gelungener Paukenschlag eines genialen Staffeleinstiegs, der zudem Hinweise darauf enthält, dass Hopper (David Harbour) noch leben könnte.
So steigt die zweite Episode dann auch mit einer Rückblende zu Hoppers vermeintlichem Tod ein und bringt Gewissheit: Er lebt! Mit diesem Prolog sind alle drei parallel verlaufenden Handlungsstränge eingeführt: Hopper im russischen Gefangenenlager, Elfie und die Byers in Kalifornien, der Rest der Clique mitsamt neuen Freunden und Feinden in Hawkins. Mike besucht Elfie in Kalifornien, wodurch sich die Grüppchen wieder ein wenig einander annähern und durchmischen. Steve (Joe Keery) und seine lesbische Freundin Robin (Maya Hawke) arbeiten jetzt in einer Videothek. Eine Rückblende zeigt, wie Hopper von den Russen gefoltert wird. In der Gegenwart erhält Joyce (Winona Ryder) eine Nachricht aus Russland, aus der sich die vage Hoffnung ergibt, Hopper aus dem Knast gegen die Zahlung von 40.000 Dollar herausholen zu können. Für eine kräftige Dosis ‘80er-Popultur sorgt Elfies und Mikes Besuch einer Rollschubahn, in der u.a. Falco und Baltimora („Tarzan Boy“, yeah!) gespielt werden. Die Rollschuhbahn wird zum Ort organisierter Demütigung Elfies. Doch das ist nichts gegen die Horrorvisionen, die nun auch Nachwuchsjournalist Fred (Logan Riley Bruner, „Alex Strangelove“) heimsuchen. Zusammen mit Nancy (Natalia Dyer) versucht er etwas über Chrissys Tod herauszufinden, wobei Eddies Onkel den Namen Victor Creel ins Spiel bringt: Dieser soll seine Familie vor einigen Jahren umgebracht haben. Eddie ist indes untergetaucht, wird jedoch von seinen Freunden gefunden und ins Upside Down und den damit zusammenhängenden Vorgängen in Hawkins eingeweiht. Der monströse Antagonist (Jamie Campbell Bower, „Sweeney Todd“), der Chrissy auf dem nicht vorhandenen Gewissen hat, wird „Vecna“ getauft und gesellschaftliche Paranoia gegen Rollenspieler und Metal-Fans zu einem Teil der Handlung gemacht. Damit greift „Stranger Things“ auf kluge Weise reale gesellschaftliche Stimmungen auf, die (nicht nur) in den 1980ern „dämonische“ Musik, Horrorfilme, Comics etc. und deren Produzent(inn)en respektive Konsument(inn)en als Sündenböcke für soziale Missstände heranzogen, was letztlich sogar den einen oder anderen Musiker vor Gericht brachte. Andererseits verfällt die Serie leider wieder in Kalter-Krieg-Klischees, indem sie Sowjets als gefühlskalte, brutale Monster darstellt – auch ein Teil der Populärkultur der 1980er-Jahre, jedoch keiner, der reproduziert werden sollte. Technisch indes ist das alles auf höchstem Niveau und mit sehr viel Sorgfalt und Liebe zum Detail von den Duffers persönlich inszeniert, womit die diese ersten beiden Episoden umfassende Exposition weitestgehend geglückt ist.
„Schnappen wir uns den Freak!“
In den weiteren Episoden bleibt die alte Clique bis zum Finale getrennt. Lucas gerät zunehmend in Loyalitätskonflikte zwischen seinen alten Freunden und den Mitgliedern des Basketballteams, die für Eddie, Dustin und Konsorten nur Verachtung übrighaben und zur Jagd auf Eddie blasen, da Teamkapitän Jason (Mason Dye, „Natural Selection“) Eddie für den Mörder seiner Freundin Chrissy hält. Neben Vecna gibt es somit einen weiteren Gefahrenherd (vgl. Henry Bowers & Co. in „Es“), zu dem sich gleich noch einer gesellt, denn die US Army wiederum hält Elfie für verantwortlich für Chrissys Tod. Dr. Sam Owens (Paul Reiser) schreitet ein und erklärt sich bereit, in den geheimen Laboratorien wieder mit Elfie zusammenzuarbeiten, damit sie ihre übersinnlichen Kräfte zurückerhält und im Kampf gegen das neue Unheil helfen kann. Im russischen Strafgefangenenlager muss sich Hopper neben den unmenschlichen Aufsehern mit Demogorgon und Demodogs herumschlagen, während in Hawkins die Victor-Creel-Spur bzw. der Familienmord mit Vecna zusammenzuhängen scheinen. Ein Gespräch mit Victor Creel, von niemand Geringerem als Robert Englund („A Nightmare on Elm Street“) gespielt, wirft ein neues Licht auf die Taten, aufgrund derer er in der Psychiatrie sitzt. Der Besuch bei ihm erinnert an „Das Schweigen der Lämmer“, die Figur wird mit Rückblenden in die 1950er verbunden. Vecna hat es derweil auf Max abgesehen, die in akuter Lebensgefahr schwebt. Dass ähnliche Vorfälle bereits vor 30 Jahren geschehen sind, ist eine weitere Reminiszenz an Stephen King’s „Es“. Eine gruselige Wanduhr fungiert als wiederkehrendes Unglücksbotenmotiv. Das Finale der dritten Episode sticht mit seiner Aussage über die Kraft von Musik und Freundschaft äußerst angenehm hervor.
„Hawkins ist in Gefahr!“
Yuri (Nikola Djuricko, „Leeches“), Karikatur eines verschlagenen, korrupten Russen und eine Art Comic Relief, spielt im Handlungsstrang um Hopper im weiteren Verlauf eine immer größere Rolle, ebenso der abtrünnige Gefängnisaufseher Enzo (Tom Wlaschiha, „Game Of Thrones“). Zusammen mit Hopper, Joyce und Murray (Brett Gelman) bildet man bald eine Schicksalsgemeinschaft, die sich untereinander alles andere als grün ist. Aus dem gegenseitigen Misstrauen entwickelt sich zusätzliche Spannung, während Murray über sich hinauswächst. Der zunehmend gefällige, anbiedernde Humor, mit dem diese Sequenzen versehen wurden, ist insbesondere in Episode 6, wo er besonders dominant wirkt, leider etwas übertrieben und konterkariert die düstere Stimmung. Andererseits wird Hopper mittels Einblicken in seine Vergangenheit, die u.a. von einem Vietnamtrauma und dem Verlust seiner Tochter negativ geprägt ist, tiefergehender charakterisiert. Die Darstellung der Sowjets hingegen zeichnet diese noch monströser, als sie es selbst unter Stalin gewesen sind… Zugegebenermaßen bekommt aber auch manch US-Institution ihr Fett weg. Einen Action-Höhepunkt offeriert die vierte Episode in Form einer wilden Schießerei, der sich Jonathan (Charlie Heaton), Mike und Will (Noah Schnapp) ausgesetzt sehen, nachdem sie zwischen die Fronten aus Geheimagenten und Militär gerieten.
„Hawkins steht ein Krieg bevor!“
Weiteres Licht ins Dunkel bringen Elfies Erinnerungen, die aus verschütteten Ecken ihres Unterbewusstseins mit technischer Hilfe hervorgeholt werden, womit diese Staffel wieder ganz am Beginn anknüpft und das komplexe Handlungsgeflecht zunehmend aufschlussreiche Formen annimmt. Das ist erzählerisch prima gelöst, geht jedoch mit einer Retraumatisierung Elfies nach einem Vertrauensmissbrauch einher. Dustins Hacker-Freundin Suzie (Gabriella Pizzolo) wird ebenso eine nicht unwichtige Rolle zuteil wie Jonathans langhaarigem Pizzabäcker- und Kifferkumpel Argyle (Eduardo Franco, „Booksmart“), einer neuen Figur, die leider übertrieben komödiantisch angelegt wurde und den subtileren Witz vorausgegangener Staffeln vermissen lässt. Besuche des leerstehenden, unheimlichen Creel-Hauses wiederum bieten angenehmen Geisterhausgrusel.
„Was ist das Internet?“
Da die letzten beiden Staffelepisoden erst zu einem späteren Zeitpunkt von Netflix bereitgestellt wurden, erfüllt die siebte Folge die Funktion eines Präfinals, das die Hintergrundgeschichte um entscheidende Informationen sehr sorgfältig erweitert und zu Vecnas Origin Story avanciert, die hervorragend erdacht und umgesetzt wurde. Das Finale hat es dann auch wahrlich in sich, eingeläutet durch spektakuläre Zuspitzungen, Abschiede, Wiedersehen und eine volle Kelle Action. Metallicas „Master Of Puppets“ rundet den Soundtrack kongenial ab, die extralange Episode 9 beschwört die Kraft der Liebe, geht nicht zimperlich mit liebgewonnenen Figuren um und endet mit einem, jawoll: Cliffhanger! Denn eine finale fünfte Staffel ist, wie eingangs erwähnt, längst angekündigt.
„Furchterregende Zeiten...“
Dieser vierten Staffel ist es überaus respektabel gelungen, mehrere parallel verlaufende Handlungsstränge über die Gesamtdistanz miteinander zu verknüpfen, ohne in seifenopernhafte Gefilde abzudriften. Der immer wieder eingestreute Humor trifft hingegen weniger meinen Geschmack und ist mir zuvor seltener negativ aufgefallen, von einer Klamotte ist „Stranger Things“ aber auch weiterhin meilenweit entfernt. Größtes Übel ist die mehr als despektierliche Darstellung der Sowjets, die offenbar eine der Schattenseiten der 1980er – den sich im US-Kino in propagandistischer Form niederschlagenden Kalten Krieg – erneut zu kultivieren und zu glorifizieren versucht. Thematischer Überbau ist hingegen weiterhin die Kraft der Freundschaft, diesmal besonders stark einhergehend mit Vertrauensfragen: Ständig muss Elfie abwägen, wem sie vertrauen sollte und wem besser nicht – ob in Kalifornien, in Hawkins oder im Labor (in letzterem herrschen interessanterweise Arbeitsbedingungen wie bei Amazon).
Damit orientiert sich „Stranger Things“ einmal mehr stark an Stephen King’s „Es“, was sich auch im Epilog widerspiegelt. Aber auch andere populärkulturelle Anspielungen und Referenzen der 1980er sind allgegenwärtig, meist beweisen die Duffers ein recht geschmackssicheres Händchen. Den einem bereits in den vorausgegangenen drei Staffel an Herz gewachsenen Jungmiminnen und -mimen zuzuschauen, bereitet einmal mehr Freude, wobei Millie Bobby Brown auch als Heranwachsende ihre Elfie grandios verkörpert, indem sie sie sowohl Beschützerinstinkte als auch Ehrfurcht hervorrufen lässt (und dankenswerterweise zur Kurzhaarfrisur zurückfindet). Mitunter fühlt man sich als väterlicher Freund, der die Clique beim Erwachsenwerden begleitet.
Das Creature Design ist großartig, denn Vecna ist auch optisch herrlich fies anzusehen; die düsteren Kulissen um ihn herum müffeln natürlich hier und da nach CGI, das jedoch auf recht hohem Niveau. Demogorgon und Demodogs kennt man ja und werden zunächst fast etwas inflationär eingesetzt, dafür erhält der Demogorgon gegen Ende noch einen wahrlich nervenaufreibenden Auftritt. Mit dieser Staffel ist „Stranger Things“ weiterhin zurecht das Aushängeschild Netflix‘, Sucht-, Wohlfühl-, Grusel-, Nostalgie- und Melancholie-Faktor gehen diese unverschämt funktionale Verschmelzung miteinander ein, hinter der aber viel konzeptionelle und technische Arbeit steckt – denn diese Serie ist mehr als ein bloßer Abklatsch alter Erfolgsmodelle aus dem phantastischen Film der 1980er. Hoffen wir also auf einen würdigen Abschluss mit der fünften Staffel, in der die Russen und Sowjets vielleicht auch etwas besser wegkommen (wenngleich es gerade denkbar schlechte Zeiten dafür sind…).