Re: Tatort / Polizeiruf 110 - Kritiken und Diskussionen
Verfasst: Di 13. Aug 2024, 15:59
Polizeiruf 110: Der Kreuzworträtselfall
„Manchmal vergessen die Kinder beim Spielen einfach die Zeit.“
Die auf einem authentischen Kriminalfall basierende 123. Episode der DDR-Fernsehkrimireihe „Polizeiruf 110“ wurde im Winter 1987/1988 gedreht und am 6. November 1988 erstausgestrahlt. Der routinierte TV-Regisseur Thomas Jacob verfasste zusammen mit Gabriele Gabriel das Drehbuch zu Leutnant Thomas Grawes (Andreas Schmidt-Schaller) 15. Fall, in dem Hauptmann Günter Beck (Günter Naumann, „Fünf Patronenhülsen“) und Major Jäger (Werner Godemann, „Fallada – Letztes Kapitel“) debütieren.
„Vielleicht ist er bloß ausgerissen...“
Der siebenjährige Schüler Marko Herzog (Rene Mittag) aus Berliner-Marzahn darf allein ins Kino gehen, um sich Ronja Räubertochter anzusehen. Da er etwas zu früh dran ist, vertreibt er sich die Zeit in einem Park. Dort trifft er auf den 19-jährigen Stefan Winkelmeyer (Torsten Ranft, „Sonnenallee“), der gerade eine Lehre in Birkenthal geschmissen hat. Marko geht mit Stefan mit. Als Marko nicht nach Hause kommt, sucht seine Familie ihn und schaltet schließlich die Polizei ein. Tage später findet ein Streckenläufer (Ernst-Georg Schwill, „Die Reise nach Sundevit“) der Reichsbahn Markos Leichnam in einem Koffer, vereist, freigelegt vom weggetauten Schnee und eingewickelt in Zeitungspapier. Deren ausgefüllte Kreuzworträtsel erweisen sich als einzige Spur der Kriminalpolizei: Mittels graphologischer Methoden versucht sie, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Es gilt, zigtausend Schriftproben zu beschaffen und auszuwerten sowie das Altpapier zu durchkämmen. Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen und eine Mammutaufgabe mit unklaren Erfolgsaussichten…
„Der Junge ist wie vom Erdbeben verschwunden!“
Der Prolog ist ein vorgezogener Teil des Epilogs und widmet den Fall per Texttafel der Hallenser Polizei, die den realen Fall gelöst hatte. Zudem wird darüber informiert, dass für diese TV-Adaption Namen und Orte geändert wurden. Mit Beginn der Handlung werden minutiös Datums-/Uhrzeit- und Ortsnamenseinblendungen mittels auch akustisch untermauertem Schreibmaschinen-Tippeffekt vorgenommen, die den gesamten Fall begleiten werden und dessen semidokumentarischen Anspruch unterstreichen, aber auch Hektik suggerieren und enervierend wirken können. In Form von Parallelmontagen werden sowohl Marko als auch Stefan in die Handlung eingeführt, bis das Schicksal sie zusammenbringt. Auch wenn die eigentliche Tat nicht gezeigt wird: Dass etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zugeht, macht Komponist Arnold Fritzsch mit befremdlich-bedrohlicher Musik und verunsichernder Geräuschkulisse deutlich. Dass ein Ermittler bei seiner Suche nach dem Jungen in eine Karnevalsfeier gerät, ist der einzige Anflug von Fröhlichkeit in diesem düsteren, sich in tiefste menschliche Abgründe begebenden Fall.
„...und sangen fröhliche Lieder.“
Wahrscheinlich nie zuvor wurde die Polizeiarbeit derart akribisch in einem „Polizeiruf 110“ dokumentiert: So lange noch nicht klar ist, dass Marko nicht mehr lebt, wird die Umgebung abgesucht, im Krankenhaus gefragt, werden Spürhunde losgelassen. Beck warnt vor Routine, während Polizisten mit Fotos Markos von Tür zu Tür gehen. Diverse vorbestrafte Täter werden verhört und ein See durchkämmt. Zudem erhält man Einblicke ins Privatleben der Ermittler: Grawe macht sich sorgen um die eigene Tochter, der Fall hat Auswirkungen aufs Familienleben und lässt ihn nicht los. Er kann nicht abschalten. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ist Stefan der bisher einzige Verdächtige und noch besteht die Chance, dass einen die Dramaturgie bewusst in die Irre zu führen versucht. Just nach dem Kofferfund gewährt der „Polizeiruf“ jedoch wieder Einblicke in Stefans Leben, zeigt, wie herrisch er sich gegenüber seiner naiven Freundin Katrin (Annette Gleichmann, „Jeder träumt von einem Pferd“) verhält. Der Verdacht wird schreckliche Gewissheit, als Katrin ihm von einem kleinen Jungen erzählen muss, damit er fähig wird, mit ihr zu schlafen. Kein Zweifel: Stefan ist der ultrabrutale Triebtäter, von dem der Gerichtsmediziner sprach.
Nachdem die Schriftproben aller Vorbestraften erfolglos waren, entwickeln die Ermittler die größenwahnsinnig anmutende Idee: Schriftproben aller Berliner! Zunächst lanciert man aber ein Kreuzworträtsel-Preisausschreiben in der Zeitung. Erst jetzt beginnt die eigentliche Sisyphos-Arbeit, nicht nur für den Graphologen Eberhard Aust (Harry Merkel, „Spuk im Hochhaus“). Fürs Publikum bedeutet das aber glücklicherweise nicht, nun Beamten beim Anstarren von Buchstaben zuzuschauen, im Gegenteil: Was sich womöglich eher trocken liest, ist spannend und dramaturgisch hochwertig inszeniert, vom Bezug zu Marko und seiner Familie aufbauenden Beginn über die langsame Charakterisierung Stefans und die an ihre Belastungsgrenzen geratenden Ermittler bis hin zur Parallelmontage im aufregenden Finale (mit leicht an eine DDR-„Airwolf“-Variante erinnernden Hubschauerszenen). In dessen Anschluss darf u.a. „Polizeiruf“-Urgestein Hauptmann Fuchs (Peter Borgelt) gratulieren. Nur die etwas überholt wirkende Küchenpsychologie im Epilog hätte man sich besser gespart.
Diese aus der Masse deutlich herausragende Episode spielt neben Berlin im Ostseebad Kühlungsborn sowie in Thüringen, wobei zum Teil fiktionale Ortsnamen verwendet werden. Neben dem Entsetzen über die abscheuliche Tat und der Freude über den kräftezehrenden, letztlich erfolgreichen An- und Einsatz der Kriminalpolizei machten sich bei mir zwei etwas dezentere Gefühlsregungen bemerkbar: Zum einen der Respekt vor der pietätvollen Verarbeitung dieses realen Falls, zum anderen Nachdenklichkeit. Wie eigentlich immer, wenn ich mit derartigen Fällen konfrontiert werde, muss ich daran denken, in der eigenen Kindheit ähnliche Freiheit wie Marko genossen zu haben – und wie unvorstellbar so etwas vielerorts heutzutage wirkt. Je mehr solche Fälle in Ost wie West ins Bewusstsein der Gesellschaft drangen, desto beaufsichtigter wurden die Kinder…
„Manchmal vergessen die Kinder beim Spielen einfach die Zeit.“
Die auf einem authentischen Kriminalfall basierende 123. Episode der DDR-Fernsehkrimireihe „Polizeiruf 110“ wurde im Winter 1987/1988 gedreht und am 6. November 1988 erstausgestrahlt. Der routinierte TV-Regisseur Thomas Jacob verfasste zusammen mit Gabriele Gabriel das Drehbuch zu Leutnant Thomas Grawes (Andreas Schmidt-Schaller) 15. Fall, in dem Hauptmann Günter Beck (Günter Naumann, „Fünf Patronenhülsen“) und Major Jäger (Werner Godemann, „Fallada – Letztes Kapitel“) debütieren.
„Vielleicht ist er bloß ausgerissen...“
Der siebenjährige Schüler Marko Herzog (Rene Mittag) aus Berliner-Marzahn darf allein ins Kino gehen, um sich Ronja Räubertochter anzusehen. Da er etwas zu früh dran ist, vertreibt er sich die Zeit in einem Park. Dort trifft er auf den 19-jährigen Stefan Winkelmeyer (Torsten Ranft, „Sonnenallee“), der gerade eine Lehre in Birkenthal geschmissen hat. Marko geht mit Stefan mit. Als Marko nicht nach Hause kommt, sucht seine Familie ihn und schaltet schließlich die Polizei ein. Tage später findet ein Streckenläufer (Ernst-Georg Schwill, „Die Reise nach Sundevit“) der Reichsbahn Markos Leichnam in einem Koffer, vereist, freigelegt vom weggetauten Schnee und eingewickelt in Zeitungspapier. Deren ausgefüllte Kreuzworträtsel erweisen sich als einzige Spur der Kriminalpolizei: Mittels graphologischer Methoden versucht sie, dem Täter auf die Schliche zu kommen. Es gilt, zigtausend Schriftproben zu beschaffen und auszuwerten sowie das Altpapier zu durchkämmen. Die Suche nach der Nadel im Heuhaufen und eine Mammutaufgabe mit unklaren Erfolgsaussichten…
„Der Junge ist wie vom Erdbeben verschwunden!“
Der Prolog ist ein vorgezogener Teil des Epilogs und widmet den Fall per Texttafel der Hallenser Polizei, die den realen Fall gelöst hatte. Zudem wird darüber informiert, dass für diese TV-Adaption Namen und Orte geändert wurden. Mit Beginn der Handlung werden minutiös Datums-/Uhrzeit- und Ortsnamenseinblendungen mittels auch akustisch untermauertem Schreibmaschinen-Tippeffekt vorgenommen, die den gesamten Fall begleiten werden und dessen semidokumentarischen Anspruch unterstreichen, aber auch Hektik suggerieren und enervierend wirken können. In Form von Parallelmontagen werden sowohl Marko als auch Stefan in die Handlung eingeführt, bis das Schicksal sie zusammenbringt. Auch wenn die eigentliche Tat nicht gezeigt wird: Dass etwas ganz und gar nicht mit rechten Dingen zugeht, macht Komponist Arnold Fritzsch mit befremdlich-bedrohlicher Musik und verunsichernder Geräuschkulisse deutlich. Dass ein Ermittler bei seiner Suche nach dem Jungen in eine Karnevalsfeier gerät, ist der einzige Anflug von Fröhlichkeit in diesem düsteren, sich in tiefste menschliche Abgründe begebenden Fall.
„...und sangen fröhliche Lieder.“
Wahrscheinlich nie zuvor wurde die Polizeiarbeit derart akribisch in einem „Polizeiruf 110“ dokumentiert: So lange noch nicht klar ist, dass Marko nicht mehr lebt, wird die Umgebung abgesucht, im Krankenhaus gefragt, werden Spürhunde losgelassen. Beck warnt vor Routine, während Polizisten mit Fotos Markos von Tür zu Tür gehen. Diverse vorbestrafte Täter werden verhört und ein See durchkämmt. Zudem erhält man Einblicke ins Privatleben der Ermittler: Grawe macht sich sorgen um die eigene Tochter, der Fall hat Auswirkungen aufs Familienleben und lässt ihn nicht los. Er kann nicht abschalten. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ist Stefan der bisher einzige Verdächtige und noch besteht die Chance, dass einen die Dramaturgie bewusst in die Irre zu führen versucht. Just nach dem Kofferfund gewährt der „Polizeiruf“ jedoch wieder Einblicke in Stefans Leben, zeigt, wie herrisch er sich gegenüber seiner naiven Freundin Katrin (Annette Gleichmann, „Jeder träumt von einem Pferd“) verhält. Der Verdacht wird schreckliche Gewissheit, als Katrin ihm von einem kleinen Jungen erzählen muss, damit er fähig wird, mit ihr zu schlafen. Kein Zweifel: Stefan ist der ultrabrutale Triebtäter, von dem der Gerichtsmediziner sprach.
Nachdem die Schriftproben aller Vorbestraften erfolglos waren, entwickeln die Ermittler die größenwahnsinnig anmutende Idee: Schriftproben aller Berliner! Zunächst lanciert man aber ein Kreuzworträtsel-Preisausschreiben in der Zeitung. Erst jetzt beginnt die eigentliche Sisyphos-Arbeit, nicht nur für den Graphologen Eberhard Aust (Harry Merkel, „Spuk im Hochhaus“). Fürs Publikum bedeutet das aber glücklicherweise nicht, nun Beamten beim Anstarren von Buchstaben zuzuschauen, im Gegenteil: Was sich womöglich eher trocken liest, ist spannend und dramaturgisch hochwertig inszeniert, vom Bezug zu Marko und seiner Familie aufbauenden Beginn über die langsame Charakterisierung Stefans und die an ihre Belastungsgrenzen geratenden Ermittler bis hin zur Parallelmontage im aufregenden Finale (mit leicht an eine DDR-„Airwolf“-Variante erinnernden Hubschauerszenen). In dessen Anschluss darf u.a. „Polizeiruf“-Urgestein Hauptmann Fuchs (Peter Borgelt) gratulieren. Nur die etwas überholt wirkende Küchenpsychologie im Epilog hätte man sich besser gespart.
Diese aus der Masse deutlich herausragende Episode spielt neben Berlin im Ostseebad Kühlungsborn sowie in Thüringen, wobei zum Teil fiktionale Ortsnamen verwendet werden. Neben dem Entsetzen über die abscheuliche Tat und der Freude über den kräftezehrenden, letztlich erfolgreichen An- und Einsatz der Kriminalpolizei machten sich bei mir zwei etwas dezentere Gefühlsregungen bemerkbar: Zum einen der Respekt vor der pietätvollen Verarbeitung dieses realen Falls, zum anderen Nachdenklichkeit. Wie eigentlich immer, wenn ich mit derartigen Fällen konfrontiert werde, muss ich daran denken, in der eigenen Kindheit ähnliche Freiheit wie Marko genossen zu haben – und wie unvorstellbar so etwas vielerorts heutzutage wirkt. Je mehr solche Fälle in Ost wie West ins Bewusstsein der Gesellschaft drangen, desto beaufsichtigter wurden die Kinder…