Le vampire de la cinémathèque - Roland Lethem (1970)
Verfasst: Di 10. Mai 2016, 23:20
Originaltitel: Le vampire de la cinémathèque
Produktionsland: Belgien 1970
Regie: Roland Lethem
Auf einer drehbaren Scheibe sind kreisförmig verschiedene Bilder angeordnet. Das Gesicht eines jungen Mädchens mit gespitzten roten Lippen, zarten Wangen, einem gütigen Blick. Das Gesicht einer alten Frau, hexenhaft, mit dicker Knollennase, runzligen Wangen, leicht verrücktem Blick. Das Gesicht eines Untiers, den Zähnen nach zu urteilen ein Vampir, die Züge aufgedunsen und entstellt, eine Warze auf der Nase, spitze Fledermausohren, ein Blick, der bösartiger nicht sein könnte. Zwischen all diesen aufeinander aufbauenden und sich aufeinander beziehenden Zeichnungen befinden sich diese separierende Schlitze. Setzt man die Scheibe vor einem Spiegel in Bewegung und platziert einen Betrachter so, dass er die Zeichnungen selbst nur als Reflektionen im Spiegelglas durch besagte Schlitze hindurch sieht, macht es für ihn den Eindruck, er würde nicht eine Reihe unterschiedlicher Bilder vor Augen haben, sondern ein und dasselbe Bild, das einer permanenten Wandlung unterworfen ist. Das gleiche Gesicht scheint es ihm zu sein, das eben noch mädchenhaft-freundlich ihm entgegengelächelt hat, das nun zu dem einer Hexe wird, und schließlich das eines Vampirs bevor es wieder zurückfällt in seine vorherige Unschuld. Dass unser Betrachter der Täuschung einer fließenden Bewegung aufsitzt, hat natürlich mit der Konstitution seines Gehirns zu tun, das bei dem schnellen Wechsel der Einzelbilder einfach nicht hinterherkommt, und außerdem Probleme damit hat, die hellen Phasen, in denen es das Gesicht unseres Mädchens, Hexenweibs, Vampirs zu sehen bekommt, gegen die dunklen zwischen den Schlitzen abzugrenzen.
Der Erfinder dieses Phenakistiskop genannten Apparats, den man guten Gewissens als einen wichtigen Vorläufer der Kinematographie bezeichnen kann, heißt Joseph Antoine Ferdinand Plateau, lebte von 1801 bis 1883, wurde in Brüssel geboren und starb in Gent. Eigentlich war Plateau Physiker, beschäftigte sich aber schon in jungen Jahren mit dem, was wir heute stroboskopischen Effekt nennen. Bereits 1832 konstruierte er sein Phenakistiskop – im ersten Entwurf allerdings, weniger schaurig, mit Zeichnungen eines tanzenden Paares gefüttert, und nicht mit der Metamorphose eines jungen Mädchens in eine greise Vampirin. Noch früher, ab 1829, dem Jahr seiner Promotion an der Universität Lüttich, experimentierte Plateau mit der Sonne und seinen eigenen Augen, um dem Geheimnis des sogenannten Nachbildes auf die Spur zu kommen. Seine Frage, wie lange das Bild der Sonne, wenn man nur lange genug in sie hineingestarrt habe, einem noch auf der Netzhaut verbliebe, wurde schließlich mit einer ab 1843 einsetzenden Blindheit beantwortet. Selbst diese unangenehme Folge seiner Selbstexperimente nahm Plateau zum Anlass für Studien. Er verfasste Abhandlungen über den zunehmenden Grad seines Erblindens, seine Erfahrungen als Blinder, visuelle Eindrücke, die ihm trotz fehlenden Augenlichts, quasi aus der Erinnerung heraus, beschert waren. Im Vorspann zu seinem zweiundzwanzigminütigen Experimentalfilm LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE schreibt der belgische Filmemacher Roland Lethem 1970: „Joseph Plateau had no shit in his eyes. Take it off from yours! And look silently.“
Dementsprechend ist LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE nicht nur komplett ohne Ton gedreht, sondern auch sonst gezeichnet von einem Minimalismus, der ihn recht deutlich von Lethems früheren Werken wie beispielweise dem in Blut watendem LE FÉE SANGUINE oder dem in Sex watendem LE SEXE ENRAGÉ unterscheidet. In LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE sehen wir tatsächlich nichts anderes als die sich beständig drehende Phenakistiskop-Scheibe mit den oben beschriebenen Mädchen-, Hexen- und Vampirgesichtern. Die einzige Modifikation besteht darin, dass sie sich mal schneller dreht, mal langsamer, mal so, dass alles vor unseren Augen zu verschwimmen droht und sich die Metamorphose vom Mäuschen zum Monstrum innerhalb von Sekundenbruchteilen vollzieht, dann wieder so, dass wir ausreichend Zeit haben, die einzelnen Stadien der Transformation Stück für Stück nachzuvollziehen. Lethem führt das Kino somit zu seinen allerursprünglichsten Ursprüngen zurück: Nicht das zählt, was die Kamera anstellt – die ist statisch, unbewegt -, nicht das zählt, was die Montage macht – es gibt nämlich schlicht keine: vorliegender Film wurde in einer einzigen Einstellung gedreht -, nicht das zählt, was man sich an ausgefeilten Bildkompositionen ausgedacht hat – wir sehen immer nur den oberen Teil der Scheibe, vielleicht ein Drittel ihrer Gesamtgröße. Wichtig ist allein der Rhythmus, der wiederum einzig und allein dadurch zustande kommt, mit welcher Geschwindigkeit das Phenakistiskop in Bewegung versetzt wird. Deshalb mutieren scheinbar endlos die Gesichter in Lethems leidenschaftlicher Hommage an das Kino, die wirkt wie eine Liebeserklärung am Rande einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Ich bin begeistert!
Der Erfinder dieses Phenakistiskop genannten Apparats, den man guten Gewissens als einen wichtigen Vorläufer der Kinematographie bezeichnen kann, heißt Joseph Antoine Ferdinand Plateau, lebte von 1801 bis 1883, wurde in Brüssel geboren und starb in Gent. Eigentlich war Plateau Physiker, beschäftigte sich aber schon in jungen Jahren mit dem, was wir heute stroboskopischen Effekt nennen. Bereits 1832 konstruierte er sein Phenakistiskop – im ersten Entwurf allerdings, weniger schaurig, mit Zeichnungen eines tanzenden Paares gefüttert, und nicht mit der Metamorphose eines jungen Mädchens in eine greise Vampirin. Noch früher, ab 1829, dem Jahr seiner Promotion an der Universität Lüttich, experimentierte Plateau mit der Sonne und seinen eigenen Augen, um dem Geheimnis des sogenannten Nachbildes auf die Spur zu kommen. Seine Frage, wie lange das Bild der Sonne, wenn man nur lange genug in sie hineingestarrt habe, einem noch auf der Netzhaut verbliebe, wurde schließlich mit einer ab 1843 einsetzenden Blindheit beantwortet. Selbst diese unangenehme Folge seiner Selbstexperimente nahm Plateau zum Anlass für Studien. Er verfasste Abhandlungen über den zunehmenden Grad seines Erblindens, seine Erfahrungen als Blinder, visuelle Eindrücke, die ihm trotz fehlenden Augenlichts, quasi aus der Erinnerung heraus, beschert waren. Im Vorspann zu seinem zweiundzwanzigminütigen Experimentalfilm LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE schreibt der belgische Filmemacher Roland Lethem 1970: „Joseph Plateau had no shit in his eyes. Take it off from yours! And look silently.“
Dementsprechend ist LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE nicht nur komplett ohne Ton gedreht, sondern auch sonst gezeichnet von einem Minimalismus, der ihn recht deutlich von Lethems früheren Werken wie beispielweise dem in Blut watendem LE FÉE SANGUINE oder dem in Sex watendem LE SEXE ENRAGÉ unterscheidet. In LE VAMPIRE DE LA CINÉMATHÈQUE sehen wir tatsächlich nichts anderes als die sich beständig drehende Phenakistiskop-Scheibe mit den oben beschriebenen Mädchen-, Hexen- und Vampirgesichtern. Die einzige Modifikation besteht darin, dass sie sich mal schneller dreht, mal langsamer, mal so, dass alles vor unseren Augen zu verschwimmen droht und sich die Metamorphose vom Mäuschen zum Monstrum innerhalb von Sekundenbruchteilen vollzieht, dann wieder so, dass wir ausreichend Zeit haben, die einzelnen Stadien der Transformation Stück für Stück nachzuvollziehen. Lethem führt das Kino somit zu seinen allerursprünglichsten Ursprüngen zurück: Nicht das zählt, was die Kamera anstellt – die ist statisch, unbewegt -, nicht das zählt, was die Montage macht – es gibt nämlich schlicht keine: vorliegender Film wurde in einer einzigen Einstellung gedreht -, nicht das zählt, was man sich an ausgefeilten Bildkompositionen ausgedacht hat – wir sehen immer nur den oberen Teil der Scheibe, vielleicht ein Drittel ihrer Gesamtgröße. Wichtig ist allein der Rhythmus, der wiederum einzig und allein dadurch zustande kommt, mit welcher Geschwindigkeit das Phenakistiskop in Bewegung versetzt wird. Deshalb mutieren scheinbar endlos die Gesichter in Lethems leidenschaftlicher Hommage an das Kino, die wirkt wie eine Liebeserklärung am Rande einer archäologischen Ausgrabungsstätte. Ich bin begeistert!