Povero Cristo - Pier Carpi (1976)

Alles aus Italien, was nicht in die anderen Themenbereiche gehört.

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3072
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Povero Cristo - Pier Carpi (1976)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Povero Cristo

Produktionsland: Italien 1976

Regie: Pier Carpi

Darsteller: Mino Reitano, Ida Galli, Curd Jürgens, Rosemary Dexter, Edmund Purdom, Raoul Grassilli
Einen Vorwurf muss sich der 1940 geborene und 2000 verstorbene Piero Carpi posthum sicherlich nicht gefallen lassen, nämlich den, sich in seiner schöpferischen Tätigkeit allzu sehr auf einen einzigen engmaschigen Bereich fokussiert zu haben. Seit Anfang der 60er stand Carpi bei dem italienischen Verlagshaus Mondadori unter Vertrag, verfasste Texte für Disney-Comics, von denen hierzulande zahlreiche in der Reihe LUSTIGE TASCHENBÜCHER erschienen sind, gründete Anfang der 70er eine eigene Zeitschrift mit dem verlockenden Namen HORROR, publizierte nebenbei mehrere Romane, journalistische Artikel sowie ein Werk namens LE PROFEZIE DI PAPA GIOVANNI, in dem er vorgibt, von einem anonymen Kontaktmann Aufzeichnungen über Visionen des Papstes Johannes Paul XXIII. zugespielt bekommen zu haben, die angeblich bis ins Jahr 2033 reichen. Ebenso pflegte Capri, zumindest zeitweise, Beziehungen in die Filmbranche. Bereits 1975 verfilmte Daniele Pettinari seinen Roman CAGLIOSTRO über den gleichnamigen italienischen Alchemisten und Hochstapler des achtzehnten Jahrhunderts, 1976 folgten dann mit POVERO CRISTO und 1977 mit UN’OMBRA NELL’OMBRA zwei Spielfilme, für die Capri nicht nur die Drehbücher schrieb, sondern auch auf dem Regiestuhl Platz nahm. Wenn sich UN’OMBRA NELL’OMBRA ausgiebig mit den Nachtscheiten der Magie beschäftigt, mit okkultistischen Ritualen und satanischen Besessenheitszuständen, spielt POVERO CRISTO sozusagen auf der exakt entgegengesetzten Scheibe der gleichen Medaille, und erzählt nichts weniger als die Passionsgeschichte Jesu in futuristischem Gewand.

Die Grundprämisse von Carpis Debut, nämlich ein Konglomerat der bekanntesten Episoden aus sämtlichen vier Evangelien aus neutestamentarischer Zeit in die nahe oder ferne Zukunft zu verlegen, mag einfacher klingen als die Art und Weise, mit der ihr Autor sie schließlich in bewegte Bilder übersetzt hat. Dies liegt vor allem daran, dass Carpi seine Handlung nicht etwa in einem Italien ansiedelt, das dem der mittleren bis späteren 70ern oder einer in sich geschlossenen Science-Fiction-Vision entsprechen würde. POVERO CRISTO spielt, obwohl das freilich im Film selbst nie thematisiert oder problematisiert wird, in einer seltsamen Mischung aus Zukunftsutopie, in der beispielweise die Polizeiinspektoren in hallenartigen Räumen voller antiker Statuen residieren und die Metropolen weniger von Natur als von kühler, zweckorientierter Architektur strotzen, archaisch-alttestamentarischer Landschaften, die mit dem einen oder andern christlichen Symbol überdeutlich gespickt sind, und Straßenzügen, Gebäudekomplexen, Innenräumen, die dann doch relativ so aussehen wie das, was Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts im Europa zum allgemeinen Standard gehört hat. Diese Uneindeutigkeit auf der Zeitachse, die daraus resultiert, dass Carpi schlicht idiosynkratisch alle möglichen Versatzstücke aus der transnationalen Kulturgeschichte bunt zusammenwürfelt, und sich nicht mal einen Kontext ausdenkt, der das äußerst heterogene Ergebnis irgendwie, narrativ oder ästhetisch oder ideologisch, legitimeren würde, überträgt sich natürlich zwangsläufig auf den Rezipienten. Schon gleich von Beginn gibt einem POVERO CRISTO unzählige Rätsel auf – solange jedenfalls bis man beschließt, nicht mehr auf den Moment zu warten, an dem Carpi endlich beginnt, sein Publikum dort abzuholen, wo es gerade steht.

Die Welt jedenfalls, in der sich unser Held, Giorgio Cavero bewegt, ist eine, gelinde gesagt, wundersame: Am Anfang ist Giorgio einer von vielen Arbeiter, die in einer Kathedrale offenbar mit der Konstruktion einer riesigen Statue beschäftigt sind. Schnell wird klar: Giorgio ist mit diesem Job mehr als unzufrieden, und er rammt der Statue, auf dem Gerüst stehend, ein Messer in die Seite. Ob es nun daran liegt, dass aus der Wunde frisches Blut zu tröpfeln beginnt, oder an den ihn heimsuchenden Visionen von fliegenden Untertassen: Giorgio packt seine Sachen und eröffnet Mutter und Cousine, dass es ihn in die Großstadt zieht, aus der die Familie vor langer Zeit, wie sich zwischen den Zeilen andeutet nicht ganz freiwillig, aufs Land übergewechselt ist. Filmposter, die ihm kurz danach ins Auge springen, bringen ihn auf die Idee, was denn sein Traumjob sein könnte: Er beschließt, Detektiv zu werden und schaltet gleich eine Zeitungsannonce, in der er seine Spürhundtätigkeiten anpreist. Tatsächlich springt bald jemand auf die Anzeige an, und zwar ein älterer Mann, der Giorgio einen Deal vorschlägt, dem der einfach nicht widerstehen kann. Sollte Giorgio es schaffen, erklärt ihm der Alte, in innerhalb zwei Monaten den Beweis zu erbringen, dass der sagenumwobene Jesus Christus wirklich existiert habe und nicht bloß eine Erfindung machthungriger Priester sei, wolle er ihm 100.000 Lire überlassen. Zum Beweis, dass er es ernstmeint, gibt er Giorgio das Geld schon jetzt, jedoch mit dem Hinweis, dass er, wenn er nach Ablauf der festgesetzten Zeit mit leeren Händen dastehe, mit Konsequenzen zu rechnen haben werde. Zunächst wähnt Giorgio sich im siebten Himmel. Zur Hochzeit seiner Cousine verkündet er der Familie, dass sie keine Geldsorgen mehr haben werden. Doch die Hochzeitsgäste – Giorgios Verwandte, Freunde und Bekannte – sind von der Angelegenheit, in die er sich verstrickt hat, wenig angetan. Zwei Mädchen sagen, natürlich existiere Jesus nicht, genauso wenig wie Schwalben existieren würden, und ein anderer Freund knurrt: Jesus, doch, der habe irgendwann mal gelebt, und sei von irgendwem verbrannt worden, doch das sei lange her, sehr lange. Die Einzige, die zu Giorgio hält und ihn bei seiner Spurensuche unterstützen möchte, ist die Prostituierte Mara, zu der ihn bald eine platonische Liebe verbindet.

Leicht gestalten sich seine Nachforschungen indes nicht. In der örtlichen Bibliothek bietet man ihm einzig tote Bücher an, in denen das Leben Jesu aufgezeichnet ist, sonst nichts. Nachts streift er ziellos durch die Stadt und wird von einem ominösen Mann im Anzug angesprochen, der scheinbar alles daran setzen möchte, ihn von seiner Suche nach Christus abzubringen. Auch sonst häufen sich die merkwürdigen Episoden in Giorgios sowieso schon reichlich merkwürdigem Alltag: Ein kleines Mädchen des Kinderheims, in dem Maras autistische Tochter lebt, verstirbt, erwacht aber auf ihrem Totenbett, als Giorgio es besuchen kommt. Ein Inspektor namens Petra hat es auf ihn abgesehen, und warnt ihn ausdrücklich, sein Fahnden nach Jesu einzustellen, sonst würde er dafür sorgen, dass Giorgio aus dem Verkehr gezogen wird. Ein anderer Polizist schüttet Giorgio sein Herz aus: sein achtjähriger Sohn sei schwerkrank, müsse sterben, sei vielleicht schon tot, und erhält von unserem Helden den Trost seines Lebens. Schon jetzt dürfte jedem, der mit den Fundamenten des Christentums auch nur oberflächlich vertraut ist, klar sein, worauf POVERO CRISTO letzten Endes hinausläuft, sodass das Finale für kaum jemandem noch eine wirkliche Überraschung darstellen dürfte: Mehr und mehr identifiziert sich Giorgio nicht nur mit Jesus, sondern erlebt auch die wichtigsten Stationen dessen Lebens- und Leidenswegs nach, heilt Kranke, erweckt Tote, wird schließlich von seinem persönlichen Judas verraten, bekommt es statt mit römischen Soldaten mit einer Eisenketten schwingenden Motorrad-Gang zu tun, begeht sein eigenes letztes Abendmahl, und findet sich schließlich einer Pistole gegenüber, deren Kugel die Nägel sind, die ihn an sein ganz individuelles Kreuz schlagen.

POVERO CRISTO ist ein Schwert mit zwei Schneiden. Die eine steckt voller Phantasie, birst vor Kreativität, wenn es darum geht, Carpis Stadt der Zukunft mit zahlreichen irritierenden Details auszustatten. Seien es nun einzelne Dialogzeilen – Giorgios Postulat, sich einen Job zu erfinden, wenn es bislang keine gebe, der ihn erfüllen könne, oder die Monologe des Herrn im Anzugs, bei dem es sich, soviel sei verraten, um niemand Geringeres als um den Satan höchstpersönlich handelt, dass nichts auf der Welt wirklich sei, nicht mal der Spazierstock, den er vor Giorgios und unseren Augen lachend zerbricht -, seien es die zumeist irgendwo zwischen Futurismus und Archaismus oszillierenden Sets, denen man sowohl ihr geringes Budget ansieht als auch den unbedingten Willen Carpis, aus den bescheidenden finanziellen Mitteln so viel Opulenz herauszuholen wie möglich, seien es die vielen schrägen Charaktere, Evelyn Stewart bzw. Ida Gall beispielweise in ihrer Doppelrolle als jungfräuliche Mutter Giorgios, die ausschaut wie direkt aus einem Bibelfilm exportiert, sowie als roboterartige, mit insektenaugenähnlichen Schwarzbrillengläsern bewehrte Agentin Inspektor Petras, Curd Jürgens, der dem namenlosen Auftraggeber seinen Körper leiht oder Giorgio selbst, mit dem zu identifizieren es einem der Film zwar nicht leichtmacht, der aber von Schlagersänge Mino Reitano höchst vielschichtig interpretiert wird: verzweifelt, verletzlich, verführerisch, verwirrend darin, dass er ab einem bestimmten Punkt von seinem Umfeld als Prophet wahrgenommen wird, nur er selbst scheint dies nicht zu begreifen. In den Details ist POVERO CRISTO manchmal eine wahre Pracht. Es sind die kleinen Gesten, die kurzen Momente, die Dinge, die sich zwischen zwei Szenen oder irgendwo im Hintergrund abspielen, die mich richtig begeistert haben.

Ergreifend zum Beispiel ist eine Szene, in der Giorgio, erneut ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, Maras Töchterchen von ihrem Autismus heilt. Nichts weiter als einfach auf dem Hof ihres Kinderheims zu stehen tut er – ein Hof im Übrigen, der voll ist von künstlichen Bäumen wie vom Bühnenbild eines expressionistischen Theaterstücks, und zu Füßen jedes Baums verharrt eins der Kinder in Apathie -, und schon kommt das Mädchen auf ihn zu, beginnt zu lächeln, und mit ihm, was Carpi uns in einer Reihe von Großaufnahmen zeigt, sämtliche übrigen Kinder. Am Ende wird zu dem Gesicht Maras geschnitten, der Tränen der Rührung über die Wangen rinnen. Vielleicht noch großartiger ist ein Intermezzo in einem richtigen Theater, wo eine außerordentlich verrückte Truppe die Geschichte um Salome und das Haupt von Johannes dem Täufer nachspielt. Was visuell schon ziemlich an reines Experimentalkino wie Kenneth Angers INAUGURATION OF THE PLEASURE DOME erinnert, entwickelt sich zusehends zu so etwas wie einer komplett überzogenen Parodie auf die Karnevalsszene in Veit Harlans OPFERGANG. Maskierte Gestalten stürmen die Bühne und küren Giorgio, wie in Victor Hugos NOTRE DAME DE PARIS, zum König der Narren. Die Begründung: er, der keine Maske trage, trage dadurch die beste Maske. Noch mehr schwelgt das Finale des Films in Bildern, die man wohl wahlweise als affektive Kunst oder als affektiven Kitsch betrachten kann. Für den letzten begriffsstutzigen Zuschauer erklärt sich dort die Allegorie selbst, wenn Giorgio – wie sinnig! – in einem Gotteshaus allen Figuren noch einmal begegnet, deren Wege er in den neunzig Minuten zuvor gekreuzt hat, und jede ihm brav enthüllt, wer sie denn eigentlich in Wirklichkeit, d.h. im Rahmen der modernen Passionsgeschichte, die POVERO CRISTO erzählt, sein soll. Der Teufel sagt: ich bin der Teufel. Mara gibt sich als Maria Magdalena zu erkennen. Giorgios Mutter, Maria, verkündet, dass der Mann, den er bisher für seinen Vater gehalten habe, gar nicht sein physischer Vater sei.

Es fällt leicht, Carpi vorzuwerfen, dass er mit seinem durchaus interessanten Stoff bei zunehmender Laufzeit viel zu plakativ verfährt. Die zweite Schwertschneide nämlich ist eine, die, im Gegensatz zur ersten, weit hinter den teilweise eindrucksvollen Bildern zurückbleibt. Nachdem einem klar geworden ist, worum es in POVERO CRISTO, mal abgesehen von all dem experimentellen Brimborium außenherum, in seinem Kern geht, nämlich einfach die Evangelien eins zu eins in eine irre Zukunfts-Utopie oder –Dystopie zu übersetzen, liefert der Film keine großen Überraschungen mehr, sondern folgt der einmal eingeschlagenen Bahn stur bis zum bitteren Ende. Einen großen Aha-Effekt kurz vor dem Abspann wird man genauso vergeblich suchen wie irgendeine abschließende Botschaft, mit der Carpi versucht hätte, mehr aus seinem Film zu machen als eine selbstzweckhafte Verfilmung des Leben Jesu in verwegenen Kulissen. Trotzdem: Im direkten Vergleich stellt POVERO CRISTO freilich ein ganz anderes Kaliber dar als Carpis Zweitling, der doch mit ziemlich viel Trash vollgepumpte UN’OMBRA NELL’OMBRA. Ja, auch POVERO CRISTO leidet mitunter an der etwas statischen Inszenierung, die aus Kamera und Montage dann doch nicht herauskitzelt, was vielleicht möglich gewesen wäre, und sein Soundtrack kann natürlich nicht ansatzweise mit den meisterlichen Klängen Signore Cirpianis mithalten, von denen UN’OMBRA NELL’OMBRA veredelt worden ist, und generell kann man POVERO CRISTO gut und gerne vorhalten, dass er, um einmal drei Künstler anzuführen, deren Werke ungefähr im gleichen Raster zu finden sein dürften wie vorliegender Film, a) nicht die pointierten gesellschaftskritischen und allegorischen Szenen eines Fernando Arrabals besitzt, und b) nicht die schockierenden subversiven Bilder eines Alejandro Jodorowsky, und schon gar nicht c) die absurde Komik eines Luis Bunuel. Wäre POVERO CRISTO die LP irgendeines abseitigen italienischen Experimentalmusikers der 70er, dann zwar sicherlich kein Meisterwerk, das ich Tag und Nacht rotieren lassen würde, nichtsdestotrotz, die richtige Stimmung vorausgesetzt, auf seine nicht perfekte Art aber durchaus reizvoll, und mit dem einen oder anderen Track bestückt, der ausgefallen genug ist, ihn alle paar Jahre mal gleich zwei- oder dreimal hintereinander hören zu wollen.
Antworten