Auch auf die Gefahr hin mich furchtbar unbeliebt zu machen ...
Mulholland Drive – Straße der Finsternis
Mulholland Dr.
USA/Frankreich 2001
Regie: David Lynch
Justin Theroux, Naomi Watts, Laura Harring, Ann Miller, Robert Forster, Dan Hedaya, Brent Briscoe, Katharine Towne,
Lee Grant, Scott Coffey, Billy Ray Cyrus, Chad Everett
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OFDB
David Lynch. Großmeister des psychedelischen Kinos, des schrankendurchbrechenden Films und der fortwährenden What the Fuck-Momente. Einer der ganz großen Regisseure des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, der mit Filmen wie DER ELEFANTENMENSCH, ERASERHEAD, WILD AT HEART oder BLUE VELVET Kinogeschichte geschrieben hat. Und dessen Oeuvre von den allermeisten Filmfans, gleich ob Arthouse- oder Genrefans, gleichermaßen geschätzt wird. Und MULHOLLAND DRIVE gehört zum Kanon des erfolgreichen Non-Mainstreamkinos von heute genauso wie Nicolas Winding Refns DRIVE oder George Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD.
Doch nehmen wir mal an, nur für einen kleinen Moment, nicht David Lynch hätte MULHOLLAND DRIVE gedreht, sondern … zum Beispiel jemand den wir Olaf Müller nennen wollen. Ein kleiner deutscher Independentfilmer, der sich zu viele Filme der Gosejohann-Brüder angeschaut hat und daraufhin meinte, dass er sowas auch könne. Flugs ein paar Bier getrunken, was geraucht, und die Nacht mit dem Schreiben eines Drehbuchs durchgebracht. Im Lauf der nächsten Wochen ein paar Freunde zusammengetrommelt, und in den Straßen der Heimatstadt sowie in der Wohnung der Freundin munter gefilmt. Den Schnitt dann wieder unter ernsthaften Einsatzes bewusstseinserweiternder Mittelchen durchgeführt, und ab damit in die Öffentlichkeit via Youtube und Konsorten. Wie wäre dann wohl die Rezeption der meisten Zuschauer ausgefallen?
Nein, so schlecht wie das Beschriebene ist MULHOLLAND DRIVE selbstverständlich nicht. Schauspieler, Technik, Schnitt, Musik – Alles auf allerhöchstem Niveau, und vor allem Naomi Watts und Laura Harring scheinen ihre innersten Gefühle direkt an den Zuschauer zu übertragen. Weint Naomi Watts, möchte man mit ihr weinen. Hat Laura Harring Angst, rollt man sich auf dem Sofa zusammen. Überragende Schauspielkunst, die den großen Regisseur genauso verrät wie den einfühlsamen Schauspieler.
Aber ein gelungener Film hat nach meinem Dafürhalten halt auch noch eine Geschichte zu bieten. Und da kommt das oben beschriebene und im Rausch entstandene Skript wieder ins Spiel. Was stimmungsvoll und mysteriös beginnt, nämlich mit einer nächtlichen Fahrt durch die Hügel der Umgebung von Los Angeles, einem schrecklichen Unfall und der Verwirrung einer bildschönen Frau, wächst sich relativ schnell aus zu einer Verwirrung des durchschnittlichen Zuschauers. Lynch bombardiert uns mit Skizzen von Geschichten, mit Momentaufnahmen aus verschiedenen Leben verschiedener Menschen, und nicht immer hängt alles zusammen. Von der Struktur sogenannter Short Cut-Filme wie zum Beispiel L.A. CRASH, welche die Schicksale unterschiedlichster Menschen und –gruppen zusammenbringen, ist MULHOLLAND DRIVE gar nicht so weit entfernt, führt aber die Erwartungshaltung des Zuschauers ganz schnell ad absurdum zugunsten eines Flickwerks an gutaussehenden Bildern. Ein ominöser Strippenzieher, der in einem Rollstuhl sitzt und einsilbige Befehle gibt? Ist schnell wieder weg. Ein Psychiater und sein Patient, die in einem Schnellimbiss Traumanalyse betreiben? Hat nicht viel praktischen Nutzen. Ein Regisseur, der sich mit der Mafia einlässt? Eine sehr schöne und interessante Geschichte, die aber leider viel zu früh wieder losgelassen wird.
David Lynch setzt uns einen Kosmos an Typen und Stories, an Ideen, Erfindungen und Andeutungen vor, und er allein entscheidet, welche dieser Andeutungen zu einer Geschichte ausgebaut wird, und welche im Winde verweht. Wie in einem Skizzenbuch erarbeitet Lynch oftmals Hintergründe zu Charakteren, die nach wenigen Minuten das Licht des Films verlassen, was dem Film eine vordergründige Fülle und Reichhaltigkeit gibt, die er dann aber schlussendlich nicht einlösen kann.
Denn sind wir mal ehrlich: Hätte Olaf Müller diesen Film genauso gedreht, alle wären entsetzt ob des hanebüchenen Stils und der unstrukturierten Erzählweise. Zu lang, zu zerfasert, zu unkonzentriert in der Narration, so würde es heißen. Dreht David Lynch so einen Film so liest man „Genialer und vertrackter Psychotrip“ oder „Meisterhaftes Verwirrspiel mit doppeltem Boden“. Denn es steht ja David Lynch dran, und da werden solche Phrasen erwartet.
Ich persönlich, und ich lege Wert darauf das dies meine persönliche Meinung ist, konnte sogar mit INLAND EMPIRE mehr anfangen als mit MULHOLLAND DRIVE, aber eigentlich vermisse ich die erzählerischen Zeiten von BLUE VELVET oder WILD AT HEART, wo Lynch noch erstklassige und tiefgehende Stories mit überwältigenden Bildern und einem betörenden Soundtrack kombiniert hat. Die Bilder sind immer noch überwältigend, aber die Story (?) lässt meines Erachtens schwer zu wünschen übrig, und der Soundtrack von Angelo Badalamenti ist sehr schön, nutzt sich aber in der Laufzeit von weit über zwei Stunden irgendwann doch deutlich ab. Oder anders ausgedrückt: Zwischen dem düsteren Gedudel eines ROSSO VENEZIA und dem Geklimper von MULHOLLAND DRIVE besteht von Seiten des Scores streng genommen sehr wenig Unterschied.
Mag sein, dass sich nach der fünften Sichtung von MULHOLLAND DRIVE Zusammenhänge erschließen und neue Ebenen eröffnen, die den Zugang zu diesem Vexierspiel leichter machen. Aber nach der ersten Sichtung tue ich mich hart, an dem Film wirklich richtig viel Gefallen zu finden. Ich hänge mich dann an die begeisternden Schauspieler, erfreue mich an der fast überirdischen Schönheit von Laura Harring, und genieße es, durch die betörenden Settings zu stromern und Ideen zu sammeln, wie ich mein Haus gestalten könnte. Aber sonst? Fast könnte ich mich ärgern, auf das Etikett David Lynch hereingefallen zu sein …
Es gibt da diese Szene in dem alten Theater, wenn Betty und Rita einer Sängerin zuhören, welche die beiden mit ihrem Gesang zu Tränen rührt, bis die Sängerin dann irgendwann tot umfällt, der Gesang aber weiter läuft. Eine für die Karriere Lynchs und sein Storytelling symptomatische Szene: Der Reiz des verwickelten, des undurchsichtigen, des mysteriösen, das hat sich irgendwann in Lynchs Karriere anscheinend verselbständigt, und genau zu dem Zeitpunkt, als die Sängerin zusammenbricht und der Gesang weiter erklingt, genau zu diesem Zeitpunkt hat sich auch die Narration von Lynchs Geschichten verselbständigt. Wo BLUE VELVET noch eine dunkle und obsessive Mär um Sex und Gewalt bot, und wo LOST HIGHWAY in seiner Mehrdeutigkeit Anreiz zum eigenständigen Denken gab und damit das filmische Äquivalent zu einem LSD-Trip war, da verliert sich MULHOLLAND DRIVE in Welten, die wie Einbahnstraßen in irgendeinen Winkel eines Universums führen, ohne einen Rückweg anzubieten. INLAND EMPIRE, der dieses Konzept, wenn man es denn so nennen möchte, konsequent weiterführt, ist dann die logische Fortsetzung einer narrativen Sackgasse: Voll gegen die Wand, aber dafür funkelnde und aufregende Sterne vor den Augen, die einem bunte Inhalte vorgaukeln, wo aber in Wirklichkeit doch nur ein Rumms auf den Schädel stattgefunden hat.
MULHOLLAND DRIVE ist schön anzusehen, er bietet sehr viele sehr aufregende filmische Momente, und ich bin froh ihn endlich einmal gesehen zu haben. Aber so viel Diskussionsgrundlage hier auch geschaffen wird, er sättigt nicht. Da ist mir ein Film wie etwa LE REGINE von Tonino Cervi wesentlich lieber, der ebenfalls in Symbolik und Mystizismus schwelgt, gleichzeitig aber auch eine Geschichte anbietet über die nachgedacht werden kann, und die den Betrachter zufriedenstellt. LE REGINE hat einen bösen Schluss mit einigen gemeinen Textpassagen, die ein fieses Grinsen auf das Gesicht des Zuschauers zaubern können. MULHOLLAND DRIVE hingegen hat am Ende nichts was wirklich glücklich macht, außer dem cineastischen Gegenstück zu einem Apfelmännchen: Maximaler Umriss mit schwammigem Inhalt, nicht greifbar und nicht real. Aber wunderschön anzuschauen …
5/10