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Originaltitel: El abrazo de la serpiente
Produktionsland: Kolumbien 2015
Regie: Ciro Guerra
Darsteller: Jan Bijvoet, Brionne Davis, Nilbio Torres, Antonio Bolívar, Yauenkü Migue
Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts im Dschungel des Amazonas befindet sich Theodor von Martius in einem erbarmens-würdigen Zustand. Der deutsche Anthropologe, der seit Jahren das Amazonasgebiet bereist, um Sprachen und Sitten der indi-genen Bevölkerung zu studieren, leidet an einer Krankheit, die ihn sowohl seelisch wie auch körperlich vollkommen auszehrt, weshalb sein treuer Begleiter und Führer Manduca, den er einst aus der Sklaverei eines Kautschukbarons freikaufte, mit ihm tiefer in den Dschungel aufbricht, um Hilfe bei dem abgeschieden von seinem Volk lebenden Schamanen Karamakate zu suchen. Dieser ist ein junger, ungestümer Mann, voller Wut auf die Weißen, die dem Land seiner Vorväter und seinen Stammesbrüder nur Unheil brachten, und weigert sich daher, Theo in irgendeiner Weise von seinem Leiden zu befreien. Nur mit Mühe gelingt es Manduca, das Vertrauen Karamakates zu gewinnen. Eine seltene Pflanze, die yakruna, soll angeblich, erklärt der Schamane schließlich, das einzige Mittel sein, das den Tod von Theo fernhalten könne, doch um diese zu finden, müssten sie zu dritt eine lange, beschwerliche Reise antreten, sowohl physisch wie auch spirituell. Theo erklärt sich einverstanden und bricht mit seinen beiden Begleitern in das sagenhafte Gebiet auf, in der die yakruna-Wurzel gedeihen soll. Vierzig Jahre später lebt Karamakate noch immer allein in seinem Dschungel. Er ist der letzte Überlebende seines Volkes, alt geworden und hat den Kontakt zur Geisterwelt verloren, mit der er in seinen jungen Jahren noch problemlos kommunizieren konnte. Ein weiterer Reisender legt an Karamaktes Ufer an, der US-amerikanische Biologie Richard Evans Schultes, der seit Jahren das Amazonasgebiet bereist, um Fauna und vor allem Flora zu studieren. Er hat, erzählt er Karamakate, in einem Buch von dem längst verstorbenen Theodor von Martius über die yakruna-Wurzel gelesen und sei deshalb hierher aufgebrochen, um die legendenbehaftete Pflanze als erster Weißer in sein Heimatland mitnehmen zu können. Erneut lässt der müde Karamakate sich dazu zu überreden, eine Expedition in die Region zu leiten, in der die Wurzel zu finden ist, und erneut, wie schon vierzig Jahre zuvor, entwickelt sich die Reise für alle Beteiligten zu einem Trip ins eigene Innere. Langsam gewinnt Karamakte nicht nur seine Identität zurück, erinnert sich an lange vergessene Rituale und Beschwörungsformeln, sondern sein Gedächtnis lässt ihn auch noch einmal die Reise mit Manduca und Theo erleben, sodass beide Expeditionen allmählich ineinander übergehen und zu zwei parallel verlaufenden Erzählsträngen werden, die sich gegenseitig kommentieren, ergänzen oder einander zuwiderlaufen.
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EL ABRAZO DE LA SERPIENTE ist der dritte Spielfilm des mir bislang völlig unbekannten kolumbianischen Regisseurs Ciro Guerra, und dass er seit seinem Erscheinen im Frühjahr 2015 mit Preisen regelrecht überhäuft worden ist, kann ich nun, nachdem ich mich von ihm habe mitnehmen lassen auf seine knapp zweistündige Amazonasreise, bestens nachvollziehen. In Schwarz-weißbildern, deren Ästhetik offensichtlich angelehnt ist an die der Photographien jener Zeit, von der der Film erzählt, und in einem ruhigen, beinahe meditativen Tempo eröffnet Guerra zwei zunächst unabhängig voneinander ablaufenden Geschichten, die allein durch die Figur Karamakates miteinander verbunden sind, zeigt sich mit zunehmender Laufzeit dann aber immer versierter darin, solche Kategorien wie Raum und Zeit einfach auszuhebeln, indem bald nicht nur die einzelnen Figuren der jeweiligen Geschichte einander immer ähnlicher werden, sondern sich miteinander auch (spirituell) auszutauschen zu beginnen. Vordergründig bedient sich EL ABRAZO DE LA SERPIENTE dabei beim Genre des roadmovies. Karamakate und seine wechseln-den Begleiter befinden sich auf einer Reise, an deren Ende geistige und körperliche Erleuchtung stehen soll. Dabei lernen sie nicht nur die majestätische Schönheit Lateinamerikas kennen mit seinen niemals stummen, aber immer feuchten Regenwäldern, gewaltigen Bergen, die sich auf einmal aus dem Grünen Teppich der Blätterdächer erheben, reißenden Stromschnellen und Wasserfällen, labyrinthischen Amazonasseitenarmen und vereinzelten Siedlungen, in denen unsere Helden nicht nur auf freundlich oder feindlich gesinnte Eingeborenen treffen, sondern auch auf fanatische Karmelitermönche oder raffgierige Kaut-schukbarone. Bestimmend ist hierbei das Motiv des Flusses, dem sowohl Theo als auch Evans auf Karamakates Geheiß folgen, und dessen beständiges Fließen, ähnlich wie in Coppolas APOCALYSPE NOW, zu einem Sinnbild ihres Innenlebens wird. An diesem Fluss nun sind mehrere Episoden wie Perlen einer Kette aufgereiht, die einerseits für sich stehen könnend, andererseits aber stets auch die Funktion erfüllen, uns die Reisenden psychologisch näherzubringen.
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Als Manduca zum Beispiel in der Missionsstation des bereits erwähnten Mönchs, der dort mit der christlichen Erziehung einer Gruppe von Waisenkindern betraut ist, mitansehen muss wie einige der Jungen aufgrund angeblicher Gotteslästerung von dem wütenden Geistlichen halbtot gepeitscht werden, bricht für ihn das Trauma neu auf, das ihn begleitet seitdem er selbst in seinem früheren Leben als Kolonialsklave mit der Peitsche rege Bekanntschaft hatte schließen müssen. Karamakte wiederum ist Schuld an der Züchtigung des Jungen, da er, als erklärter Feind der christlichen Religion, den Waisenknaben heimlich den Schöp-fungsmythos ihres Volkes anvertraut hat, den sie über Bibellesen und Beten schon längst vergessen haben, und sie dazu animiert hat, ein altes Ritual zu vollführen, bei dem man den Samen einer bestimmten Pflanze dem Boden anvertraut. Während nun also Manduca mit seiner Vergangenheit hadert und Karamakate versucht, die Vergangenheit seines Volks zu neuem Leben zu erwecken, indem er sie an die Missionsstationszöglinge weitergibt, ist der Mönch vor allem damit beschäftigt, die Vergangenheit der Neuen Welt durch die Europas zu ersetzen, sprich: wenn nötig auch mit Gewalt dafür zu sorgen, dass seine Schützlinge bald keine Erinnerung mehr an die Sprachen und Bräuche ihrer Vorväter haben. In solchen Szene kommen zwei Aspekte zum Ausdruck, die mich an EL ABRAZO DE LA SERPIENTE genauso begeistert haben wie seine atemberaubenden Bilder: Zum einen schafft Guerra es, zwar einerseits Geschichten mit Protagonisten zu erzählen, an deren Schicksal man unweigerlich Anteil nimmt, trotz oder gerade wegen der zurückgenommenen, distanzierten Inszenierung, die selbst in den actionreicheren Momenten nie ihre Contenance verliert, zum andern aber auch immer stets auch historische, politische, gesellschaftliche Aussagen in diese einzuflechten, mit denen er eine ziemlich traurige Bilanz der kolumbianischen Landeshistorie zieht. Gerade in unscheinbaren Details enthüllt sich, wie sehr Guerra mit EL ABRAZO DE LA SERPIENTE auch einen sozialen Kommentar abgeben möchte: Da ist die Tafel in der Missionsstation des wilden Mönchs, auf der die Kautschukbarone über den grünen Klee gelobt werden, da sie doch die ersten Christen gewesen seien, die sich die Heidenvölker unterworfen haben. Da ist die wirklich ergreifende Szene, in der ein einarmiger, völlig geschundener armer Teufel Manduca bittet, ihn zu erschießen und somit von einem Leben zu erlösen, das für ihn nur Schuften für besagte Kautschukbarone bedeutet, und schwere Folterungen, wenn er nicht den gewünschten Ertrag erbringt. Da ist Theo, dem von einem Eingeborenenstamm sein Kompass stibitzt wurde, und der versucht, diesen nicht deshalb zurückzubekommen, weil er für die Weiterreise unersetzlich ist, sondern weil er fürchtet, die Eingeborenen könnten die Fähigkeit verlieren, sich per Sonne und Wind zu orientieren, wenn sie erstmal den Luxus eines solchen technischen Hilfsmittels besitzen.
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In gewisser Wiese bietet EL ABRAZO DE LA SERPIENTE damit so etwas wie ein Kompendium an Eindrücken aus dem Ko-lumbien der Kolonialzeit, die zwar, wie gesagt, über handelnde Personen vermittelt werden, trotzdem aber nichts weniger darstellen als einen kurzen Abriss einer mehr brutalen als leichtfüßigen Landesgeschichte. Ein bisschen hat mich Guerras Film daher an Diego Rísquezs ORINOKO denken lassen. Obwohl EL ABRAZO DE LA SERPIENTE wesentlich stärker narrativ ist als Risquezs bewusst bruchstückhafte Reise durch das Venezuela der frühsten Vorzeit bis zu dem, das von Humboldt kartographiert wird, gibt es für mich einige auffällige Überschneidungen zwischen beiden Filmen. Nicht nur, dass Risquez wie Guerra eine bestimmte visuelle Gestaltung wählt, der er dann konsequent den gesamten Film über folgt – im Falle des einen das erwähnte kontrastreiche Schwarzweiß, als seien Photos von Anno Dazumal zum Leben erwacht, im Falle des andern dieses schillernd bunte Super-8-Material, das ausschaut, als sei es von einer archaischen Kamera aufgenommen und dann für Jahrhunderte vergessen worden -, auch ähneln sich ihre Soundtracks - sowohl Stammesgesänge der Amazonasindianer, aber auch introver-tierte Sakralelektronik im Stil von Popol Vuh -, und eine subtile Vorliebe für skurrile Szenarien, die aber nie ohne Bezug zur Realität sind. Bei Risquez schäkert Kolumbus mit einer Meerjungfrau und Sir Walter Raleigh durchquert den Dschungel mit einem Jungen, der ganz aus Gold besteht. Bei Guerra sind es vor allem zwei wirklich sprachlos machenden Abenteuer, die unsere Helden zu meistern haben und die ich mir, wären sie geschriebener Text, durchaus als Bestandteile eines Romans des Magischen Realismus vorstellen könnte. Die Szene in der Missionsstation habe ich inhaltlich bereits skizziert, visuell ist sie vielleicht noch eine größere Wucht und wird nur von einer Episode gegen Schluss des Films übertroffen, wenn Evans und Karamakate an den Ort zurückkehren, wo einst die Missionsstation stand und nun bloß noch Dschungel und Wasser ist: Wir sehen die Gedenktafel für die Kautschukbarone, die Karamakate einst so in Rage versetzt hat, und die jetzt halb zugewachsen und halb auseinandergebrochen aus sumpfigen Pfützen herausragt. Dort, wo damals der Mönch wütete, hat nun aber ein Neuer Messias sein Reich errichtet, ein Mann, der sich für die Reinkarnation Christi hält und Evans und Karamakate für zwei der Heiligen Drei Könige, und der sich, erneut ähnlich wie Colonel Kurtz in APOCALYPSE NOW, von den Eingeborenen als Prophet verehren lässt, wobei er in der Kommune Eden, wie er seine Siedlung nennt, wie ein Despot herrscht, wahllos Morde begeht, Menschenfleisch zu sich nimmt und zur Ehefrau ein kleines Mädchen hat. Das wiederum liegt schwerkrank nieder, und Karamakate und Evans müssen um ihr Leben fürchten, wenn sie sie nicht von ihrem Leiden erlösen können. Karamakate, der zurück zu seiner alten Schamanenform gefunden hat, gelingt das tatsächlich, und außerdem flößt er den Bewohnern von Eden ein Rauschmittel ein, das deren Wahn erst recht in nie gekannte Ausmaße steigert. Es wirkt wie etwas, das auch Jodorowsky, nur viel greller, hätte einfallen können, wenn sich der selbsterklärte Messias seinen Jüngern als Festmahl darbietet, und die ihn zerreißen und verzehren, während Karamakate und Evans mit letzter Not zu ihrem Boot flüchten können.
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Möglicherweise erwecken solche bizarren Momente, die natürlich trotzdem, wie ich finde, ziemlich klug über das Wesen von Religionen im Allgemeinen und vor allem dem Widerstreit zwischen Naturglaube und Christentum reflektieren, einen falschen Eindruck von der Gesamtwirkung des Films. In seinem Kern nämlich ist EL ABRAZO DE LA SERPIENTE, für dessen Drehbuch Guerra Reiseberichte des historischen Evans und des historischen Theos verwertet hat, weniger bei der offensiven Amts-kirchenkritik eines Arrabal oder dem blutigen Surrealismus eines Jodorowsky, sondern erinnert mich tatsächlich mehr an Werke des Deutschen Autorenkinos wie von Werner Herzog oder Wim Wenders. Dass mir AGUIRRE in den Sinn kommt, ist angesichts der Kulisse wenig verwunderlich, nur dass Herzogs Dschungelepos mit Klaus Kinski tatsächlich viel härter, viel grimmiger auftritt als Guerras mit zunehmender Laufzeit immer mystischer, metaphysischer werdender Film. Dass mir LAUF DER ZEIT in den Sinn kommt, hat vor allem mit einer wunderschönen Szene zu tun, in der Theo und Manduca einige Eingeborenen mit einer Art Schattentheater unterhalten, indem sie vor dem Lagerfeuer bayrische Volkstänze imitieren, und das mich sehr an jene Szene in Wenders‘ roadmovie erinnert hat, wenn Jürgen Vogler und Hanns Zischler ähnliche Slapstick-Einlagen für ein Kino voller Kinder zum Besten geben, bei dem der Projektor ausgefallen ist. Trotz solcher Querbezüge – bei verwesten, gepfählten Leichen, die den Amazonas säumen, ist man gedanklich und emotional schnell bei CANNIBAL HOLOCAUST, und wenn der Film am Ende vollkommen die Fassung verliert, und sich in einem psychedelischen Bildrausch ergeht, bin ich gedanklich und emotional sowohl bei Kubricks 2001 als auch bei Gaspar Noes ENTER THE VOID – ist EL ABRAZO DE LA SERPIENTE jedoch ein völlig eigenständiges Werk, das sich wenig auf einem Kissen aus Zitaten ausruht – und selbst wenn ich nie zuvor irgendeinen anderen Film gesehen hätte, hätte mich vorliegender wahrscheinlich so sehr berührt wie er es getan hat. EL ABRAZO DE LA SERPIENTE schafft es, ohne in verkitschtes New-Age-Philosophieren abzudriften oder plakatives Moralisieren oder allzu einfältige Darstellungen von Interkulturalität und Kulturaustausch, etwas zu sagen über Spiritualität und Materialismus und das Ver-hältnis beider zueinander, und er schafft es, Geschichten zu erzählen, die sich anhören wie von einem alten Indio vor einem Lagerfeuer erzählt, mit Figuren, die mich etwas angehen und in denen man sich wiedererkennen kann, und zugleich schafft er es, nicht die große Geschichte auszublenden, die die der sogenannten Wirklichkeit ist, und sie immer wieder, mal verspielt, mal herzzerreißend brutal, mal völlig unaufgeregt, mal versöhnlich in seine eigenen Geschichten hereinblicken zu lassen, und er schafft es nicht zuletzt, den Zuschauer mit auf eine Reise aus Bildern, Sounds, Stimmen mitzunehmen, an deren Ende wirklich so etwas steht wie, wenn man pathetisch sein will, eine Apotheose oder, wenn man mit den Füßen auf dem Boden bleiben will, ein verträumtes Grinsen, weil man endlich wieder von einem modernen Kinofilm davon überzeugt worden ist, was für eine Macht das sein kann, das Kino, wenn es in den richtigen Händen ruht und wenn es sich auf seine Anfänge besinnt, als Kamera und Projektor noch Wunderdinge im Alchemistenkabinett waren, und die lebenden Menschen auf der Leinwand ein Reigen Geister.
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EL ABRAZO DE LA SERPIENTE ist der dritte Spielfilm des mir bislang völlig unbekannten kolumbianischen Regisseurs Ciro Guerra, und dass er seit seinem Erscheinen im Frühjahr 2015 mit Preisen regelrecht überhäuft worden ist, kann ich nun, nachdem ich mich von ihm habe mitnehmen lassen auf seine knapp zweistündige Amazonasreise, bestens nachvollziehen. In Schwarz-weißbildern, deren Ästhetik offensichtlich angelehnt ist an die der Photographien jener Zeit, von der der Film erzählt, und in einem ruhigen, beinahe meditativen Tempo eröffnet Guerra zwei zunächst unabhängig voneinander ablaufenden Geschichten, die allein durch die Figur Karamakates miteinander verbunden sind, zeigt sich mit zunehmender Laufzeit dann aber immer versierter darin, solche Kategorien wie Raum und Zeit einfach auszuhebeln, indem bald nicht nur die einzelnen Figuren der jeweiligen Geschichte einander immer ähnlicher werden, sondern sich miteinander auch (spirituell) auszutauschen zu beginnen. Vordergründig bedient sich EL ABRAZO DE LA SERPIENTE dabei beim Genre des roadmovies. Karamakate und seine wechseln-den Begleiter befinden sich auf einer Reise, an deren Ende geistige und körperliche Erleuchtung stehen soll. Dabei lernen sie nicht nur die majestätische Schönheit Lateinamerikas kennen mit seinen niemals stummen, aber immer feuchten Regenwäldern, gewaltigen Bergen, die sich auf einmal aus dem Grünen Teppich der Blätterdächer erheben, reißenden Stromschnellen und Wasserfällen, labyrinthischen Amazonasseitenarmen und vereinzelten Siedlungen, in denen unsere Helden nicht nur auf freundlich oder feindlich gesinnte Eingeborenen treffen, sondern auch auf fanatische Karmelitermönche oder raffgierige Kaut-schukbarone. Bestimmend ist hierbei das Motiv des Flusses, dem sowohl Theo als auch Evans auf Karamakates Geheiß folgen, und dessen beständiges Fließen, ähnlich wie in Coppolas APOCALYSPE NOW, zu einem Sinnbild ihres Innenlebens wird. An diesem Fluss nun sind mehrere Episoden wie Perlen einer Kette aufgereiht, die einerseits für sich stehen könnend, andererseits aber stets auch die Funktion erfüllen, uns die Reisenden psychologisch näherzubringen.
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Als Manduca zum Beispiel in der Missionsstation des bereits erwähnten Mönchs, der dort mit der christlichen Erziehung einer Gruppe von Waisenkindern betraut ist, mitansehen muss wie einige der Jungen aufgrund angeblicher Gotteslästerung von dem wütenden Geistlichen halbtot gepeitscht werden, bricht für ihn das Trauma neu auf, das ihn begleitet seitdem er selbst in seinem früheren Leben als Kolonialsklave mit der Peitsche rege Bekanntschaft hatte schließen müssen. Karamakte wiederum ist Schuld an der Züchtigung des Jungen, da er, als erklärter Feind der christlichen Religion, den Waisenknaben heimlich den Schöp-fungsmythos ihres Volkes anvertraut hat, den sie über Bibellesen und Beten schon längst vergessen haben, und sie dazu animiert hat, ein altes Ritual zu vollführen, bei dem man den Samen einer bestimmten Pflanze dem Boden anvertraut. Während nun also Manduca mit seiner Vergangenheit hadert und Karamakate versucht, die Vergangenheit seines Volks zu neuem Leben zu erwecken, indem er sie an die Missionsstationszöglinge weitergibt, ist der Mönch vor allem damit beschäftigt, die Vergangenheit der Neuen Welt durch die Europas zu ersetzen, sprich: wenn nötig auch mit Gewalt dafür zu sorgen, dass seine Schützlinge bald keine Erinnerung mehr an die Sprachen und Bräuche ihrer Vorväter haben. In solchen Szene kommen zwei Aspekte zum Ausdruck, die mich an EL ABRAZO DE LA SERPIENTE genauso begeistert haben wie seine atemberaubenden Bilder: Zum einen schafft Guerra es, zwar einerseits Geschichten mit Protagonisten zu erzählen, an deren Schicksal man unweigerlich Anteil nimmt, trotz oder gerade wegen der zurückgenommenen, distanzierten Inszenierung, die selbst in den actionreicheren Momenten nie ihre Contenance verliert, zum andern aber auch immer stets auch historische, politische, gesellschaftliche Aussagen in diese einzuflechten, mit denen er eine ziemlich traurige Bilanz der kolumbianischen Landeshistorie zieht. Gerade in unscheinbaren Details enthüllt sich, wie sehr Guerra mit EL ABRAZO DE LA SERPIENTE auch einen sozialen Kommentar abgeben möchte: Da ist die Tafel in der Missionsstation des wilden Mönchs, auf der die Kautschukbarone über den grünen Klee gelobt werden, da sie doch die ersten Christen gewesen seien, die sich die Heidenvölker unterworfen haben. Da ist die wirklich ergreifende Szene, in der ein einarmiger, völlig geschundener armer Teufel Manduca bittet, ihn zu erschießen und somit von einem Leben zu erlösen, das für ihn nur Schuften für besagte Kautschukbarone bedeutet, und schwere Folterungen, wenn er nicht den gewünschten Ertrag erbringt. Da ist Theo, dem von einem Eingeborenenstamm sein Kompass stibitzt wurde, und der versucht, diesen nicht deshalb zurückzubekommen, weil er für die Weiterreise unersetzlich ist, sondern weil er fürchtet, die Eingeborenen könnten die Fähigkeit verlieren, sich per Sonne und Wind zu orientieren, wenn sie erstmal den Luxus eines solchen technischen Hilfsmittels besitzen.
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