Originaltitel: Kapo
Produktionsland: Italien 1960
Regie: Gillo Pontecorvo
Darsteller: Susan Strasberg, Laurent Terzieff, Emmanuelle Riva, Gianni Garko, Didi Perego
Auf den allerersten, alleroberflächlichsten Blick bietet Gillo Pontecorvos KAPO all die Ingredienzien, die knapp zwei Jahrzehnte später das äußerst kurzlebige und äußerst geschmacklose italienische Naziploitation-Genre konstituieren werden. So spielt KAPO, einmal vom oben skizzierten Paris-Prolog abgesehen, ausschließlich in insgesamt zwei Vernichtungs- bzw. Arbeitslagern, die Edith in den nächsten Jahren bis zum Kriegsende durchlaufen wird. In diesen Lagern sind Grausamkeit und Brutalität natürlich an der Tagesordnung, und manifestieren sich in Pontecorvos Film unter anderem in den obligatorischen cat-fight-Szenen zwischen rivalisierenden Insassen, einem lagerinternen Bordell, in dem die ranghöchsten SS-Männer sich an den appe-titlichsten weiblichen Häftlingen vergehen, einem monotonen Arbeitsalltag voller Entbehrungen und entmenschlicht schreiender Antreibern sowie ausgeklügelten Gefangenenfolterungen zur Stillung des ebenfalls obligatorischen SS-Sadismus. Gemessen an seinen reinem Inhalt ist KAPO nicht besonders weit entfernt von solchen berüchtigten Filmen wie beispielweise Sergio Garrones LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR (1976) oder Mario Caianos LA SVASTICA NEL VENTRE (1977) – und selbst die sentimentale Liebesgeschichte zwischen Edith und einem sowjetischen Kriegsgefangenen, die Pontecorvo im letzten Drittel erzählt, findet ihre Nachahmer unter anderem in Cesare Canevaris L’ULTIMA ORGIA DEL III REICH (1977) oder, erneut, Garrones SS LAGER 5: L’INFERNO DELLE DONNE (1977). Trotzdem liegen weite Welten zwischen den von mir eben angeführten Vertretern des wohl umstrittensten Genres der europäischen Exploitationfilm-Geschichte und KAPO, dessen Oscar-Nominierung für den besten ausländischen Film 1960 allein schon viel darüber aussagt, wie und von wem das Werk seinerzeit vor allem rezipiert worden ist. Es ist so ähnlich wie bei Jerzy Kawalerowiczs MATKA JOANA OD ANIOLÓW (1960): Obwohl auch dieser Film die meisten Zutaten des späteren Nunsploitation-Genres quasi en nuce mit sich herumträgt – da haben wir die Besessenheitszustände der vermeintlich verhexten Mutter Oberin, die Entführung einer Nonne aus dem Kloster durch einen an ihr vor allem sexuell interessierten Jüngling und eine Darstellung des Klosterlebens, die dieses vorrangig als repressives autoritäres System versteht, innerhalb noch die kleinste sexuelle Regung unter dem prunkvollen Teppich versteckt werden muss -, kann die Art und Weise wie Kawalerowicz mit diesen umspringt, kaum exploitativ genannt werden. So wie MATKA JOANA OD ANIOLÓW aus dem Blickwinkel des Sozialistischen Realismus über Themen wie Glaube und Unglaube reflektiert und dabei, wie nebenbei, auch davon handelt wie unter der Nonnentracht der Teufel in Gestalt der unbefriedigten Libido erwacht, so ist KAPO nichts weniger als der Versuch, aus der Perspektive des Italienischen Neorealismus so realistisch wie möglich den Alltag in einem Konzentrationslager abzubilden – wobei die geschilderten Grausamkeiten weniger als Mittel zum Zweck erscheinen, sondern eher wie unumgängliche Notwendigkeiten.
Der größte Unterschied zwischen KAPO und den Naziploitation-Filmen eines Sergio Garrone ist nämlich folgender: In Garrones stark vereinfachten, schwarzweißzeichnerischen Welt gibt es zwei Kategorien von Menschen. Auf der einen Seite sind die Täter: bestialische Deutsche, die prinzipiell zu jeder Schandtat fähig sind, die morden, vergewaltigen und an ihren Gefangenen ekelerregende Experimente durchführen. Auf der anderen Seite stehen die Opfer, zumeist junge, gutaussehende Frauen wie aus einem Playboy-Heft, die nicht viel mehr zu tun haben als bei jeder Gelegenheit ihre Brüste ins Bild zu halten, sich untereinander zu prügeln bzw. sich gegenseitig zu befriedigen, und, wenn es ans Foltern geht, sich die Seele aus dem Leib zu schreien. Das Lagerleben in SS LAGER 5 oder LAGER SSADIS KASTRAT KOMMANDANTUR ist nach der simplen Logik eines de Sade gestrickt: Der, der dem die Macht gegeben ist, kann mit den Ohnmächtigen anstellen, was er will, denn sie sind ersetzbar, völlig ohne Individualität und sowieso ohne gesteigerten Wert als dem, benutzt und gegebenenfalls zerstört zu werden. Pontecorvo geht an KAPO keineswegs so blauäugig heran. Vor allem scheint er vor Abfassen des Drehbuchs einige Berichte von Lagerüber-lebenden gelesen zu haben. Ich denke an Autoren wie Tadeusz Borowski, Primo Levi und vor allem Jorge Semprun. In all diesen Texten wird ausdrücklich und immer wieder auf die Figur des Kapo verwiesen, die sozusagen zwischen den beiden Welten von Tätern und Opfern steht, einerseits Gefangener des Lagers ist, und andererseits unter diesen Gefangenen eine exponierte Stellung innehat, da sie ihre Mitgefangenen im Auftrag der SS überwacht, falls nötig denunziert und bespitzelt. Damit sind freilich Privilegien verbunden, die den Kapo vor den anderen Gefangenen auszeichnen: Er bekommt besseres Essen, sogar Alkohol, lebt in einem eigenen Block unter wesentlich besseren hygienischen Bedingungen, darf mit anderen Häftlingen sexuell verkehren. Daraus resultiert freilich eine unbequeme Ambivalenz: In den Augen der SS ist der Kapo zwar immer noch ein Häftling, in denen seiner Mitgefangenen allerdings eindeutig ein Kollaborateur. Wenn Semprun das hochkomplexe hierarchische System eines KZs in seinem allerdings erst 1974 erschienen autobiographischen Roman QUEL BEAU DIMANCHE ausführlich beschreibt, wird darin vor allem die fließende Grenze deutlich, die einen vom wehrlosen Opfer zum aktiven Täter machen kann – eine Grenze, die so fließend ist, dass man ihr Übertreten gar nicht bemerkt, oder vielleicht niemals.
Im Grunde ist KAPO ein höchstmoralischer Film. Sein Anliegen ist nicht so sehr Aussagen einer sogenannten historischen Wahrheit über das Lagersystem des Nationalsozialistischen Deutschlands zu treffen. Stattdessen scheint die KZ-Kulisse eine mehr oder minder austauschbare Folie zu sein, auf der Ediths Geschichte wie eine allgemeingültige Parabel darüber wirkt, wie leicht es ist, dem Menschen unter bestimmten Umständen sein Menschschein zu rauben, oder wie leicht es dem Menschen selbst unter bestimmten Umständen fällt, sein Menschsein abzustreifen - oder, anders gesagt: wie schnell das eigentlich geht, dass ich mich, um zu überleben, als Opfer mit Tätern solidarisiere, und dadurch selbst zum Täter werde, oder, noch einmal anders gesagt: wie schwierig es überhaupt zu bestimmen ist, ab wann jemand aufhört Opfer oder Täter zu sein, und wo er damit beginnt. Nachdem ihre Eltern schon gleich nach ihrer Ankunft von ihr getrennt und vermutlich ermordet worden sind, erbarmen sich eine ältere Lagerinsassin und der Lagerarzt Ediths und verschaffen ihr eine neue Identität als Nicole, eine kürzlich verstorbene Französin, die aufgrund von Raubdelikten ins Lager gekommen ist. Als Nicole lernt sie schnell, dass man mit Altruismus in keinem KZ bestehen kann. Ihr gegenüber finden wir Terese, die ihre Mitgefangenen ständig dazu anhält, sich jeden Morgen zu waschen, denn allein durch solche ständig wiederholten Riten der Normalität sei es möglich, dass sie sich weiterhin als Menschen fühlen, selbst wenn sie von ihrer Umwelt als bloße Tiere behandelt werden. Als Terese erkennt, wie nutzlos ihr Humanismus in einer enthumanisierten Welt letztlich ist, wählt sie den Freitod, indem sie sich an den das Lager umgebenden Elektrozaun wirft. Edith währenddessen steigt immer höher in der Lagerhierarchie. Sie lässt sich von einem SS-Mann entjungfern, wird zum Kapo, wohnt bald mit den übrigen Kapos in einer eigenen Baracke, hält sich einen Kater namens Faust, und verhört, verpfeift und verachtet eifrig die ihr unterstehenden restlichen Gefangenen. KAPO unterstreicht diese Entwicklung Ediths mittels eines fast schon dokumentarischen Stils, dem man die italienische Tradition des Neorealismus in jeder Einstellung ansieht. In gewisser Distanz befinden wir uns oft zu Edith, deren Gefühlslage mehr angedeutet als ausagiert wird. Besonders schön setzt Pontecorvo dabei ihr Kätzchen ein. Zum einen ist Faust ein flauschiger Ersatz für die Kindheit, der Edith abrupt entrissen worden ist, ein Püppchen, mit dem spielend sie durchs Lager streift, als sei sie noch immer das freie, unbedarfte Mädchen in Paris. Zum andern weist aber schon der Name der Katze darauf hin, dass Edith längst die Seiten gewechselt hat. Sie befindet sich in der Komfortzone der Kapos, die ihr das Leben leichter macht, jedoch genauso ihrem Eigennutz schmeichelt. Wenn Edith in ihrer Uniform den Arbeitsdienst überwacht, fällt es schwer, in ihr noch das schüchterne, traumatisierte Kind zu erkennen, das zu Beginn des Films nur mit Glück dem Erschießungskommando entkommen ist. Besonders heftig dürfte für die Zeitgenossen gewesen sein, dass Pontecorvo die Hauptrolle ausgerechnet mit Susan Strasberg, der Tochter des Actor-Studios-Gründers Lee Strasberg, - übrigens großartig - besetzt hat. Zuvor nämlich hat Strasberg am Broadway in einer Bühnenadaption ihres Tagebuchs jahrelang die Anne Frank gespielt, und damit den Typ des unschuldigen Opfers verkörpert, der in KAPO regelrecht demontiert wird.
Mit dem Neorealismus eines Rossellini oder De Sica teilt KAPO nicht nur seine präzisen Beobachtungen, klaren Schwarzweiß-bilder und betont ungekünstelte Inszenierung, sondern auch den einen oder anderen Aspekt, der den vorgeblichen Realismus dann doch ein bisschen unterwandert: Die Musik von Carlo Rustichelli steht mit ihrem pompösen Orchestersound in einem ziemlichen Gegensatz zu den nüchternen, kalten Bildern, in denen uns Ediths Metamorphose geschildet wird, und natürlich kommt Pontecorvo auch nicht umhin, fast alle SS-Leute als vollkommen überzeichnende Bestien darzustellen, deren ständiges Gebrüll (in schlechtem Deutsch) in mancher Szene dichter bei ähnlichen Soundkulissen in den Naziploitation-Filmen der 70er ist als es dem Film lieb sein kann – die einzige Ausnahme: Gianni Garko als Soldat Karl, der zumindest ambivalent gezeichnet ist, und, wenn er nicht gerade Gefangene über den Haufen schießt, ein ganz netter Kerl zu sein scheint -, und gerade im Schlussakt, wenn Pontecorvo auf Teufel komm raus noch eine Liebesgeschichte einflechten muss, schmeckt KAPO auf einmal so sehr nach den fabrizierten Emotionen Hollywoods, dass viel von seiner vorherigen ungeschminkten Ehrlichkeit wie von selbst kippt. Edith verguckt sich nämlich in Sascha, einem gefangenen Sowjet, der ebenfalls den Kontakt zu ihr sucht, obwohl sie ihn anfangs wie Dreck behandelt. Noch unglaubwürdiger wird die Romanze dadurch, dass Sascha und seine Kameraden die Flucht aus dem Lager planen, und hierfür Ediths Hilfe benötigen. Sie soll im richtigen Moment die Stromzufuhr der Lagerzäune lahmlegen. Was sie nicht ahnt, aber Sascha und seine Freunde wissen: Sie wird dabei mit großer Wahrscheinlichkeit von den Wachtposten erschossen werden. Sascha teilt ihr das wider besseres Wissen mit, und Edith steckt nun in einem moralischen Dilemma: Liebt sie Sascha so sehr, dass sie bereit ist, für sein Leben ihr eigenes zu opfern? Besonders bemerkenswert ist eine Szene kurz vor Ende, als Sascha und Edith sich mitten im Lager ihre Liebe gestehen, und es wirkt, als seien sie komplett herausgelöst aus Raum und Zeit: Nichts außer die beiden Liebenden existieren auf einmal in der Welt, und das komplette Lager mit seinen Wachtürmen, SS-Leuten und sich zu Tode schuftenden Gefangenen ist plötzlich wie ausgelöscht.
Ganz kann Pontecorvo den Fallstricken der Kommerzialisierung also nicht entgehen. Interessanterweise aber ist dem Film seinerzeit in einer berühmten Kritik Jacques Rivettes für die cahiers du cinema - DE L’ABJECTION - nicht vorgeworfen, dass er seinen herben Realismus dadurch untergräbt, dass er sich am Ende dann manches melodramatischen Klischees bedient. Viel-mehr richtete sich Rivettes Kritik vorrangig darauf, dass Pontecorvo überhaupt ein solches Thema wie den Holocaust für lein-wandtauglich erachtet hat. Vor allem eine Szene ist es, die Rivette sauer aufstößt: Der Freitod der von Emanuelle Riva gespielten Terese, die, als sie die Nutzlosigkeit ihrer humanistischen Ideals in einem Umfeld wie dem eines KZs erkennt, sich lieber in den Stacheldrahtzaun wirft als so weiterzuleben. Nachdem Terese den Tod gefunden hat, setzt Pontecorvo zu einer kleinen Kamera-fahrt an, bei der vor allem die wie mahnend ausgestreckte Hand Tereses akzentuiert wird. Für Rivette stellt das bereits eine Ästhetisierung des Schreckens dar, die ihn am moralischen Gewissen seines italienischen Kollegen zweifeln lässt. Man kann nur hoffen, dass Rivette niemals ein Werk wie Bruno Matteis KZ9- LAGER DI STERMINO (1977) unter die Augen gekommen ist – oder gibt es auch einen Minusbereich der Moral? Dass Pontecorvo jedenfalls das Lagerleben in irgendeiner Weise konsumierbar inszenieren würde, kann ich jedenfalls nicht unterschreiben, und wahrscheinlich sollte man Rivettes Kritik vor allem aus dem Geist ihrer Zeit heraus betrachten, in der das Thema, das Pontecorvo in KAPO so drastisch anpackt, noch ein derart heißes Eisen war, dass man sich leicht daran die Finger verbrennen konnte, egal wie man es schließlich umgesetzt hat. Mir kommt KAPO, dessen Bildästhetik sich offensichtlich an zeitgenössische Photographien und Filmdokumente aus den Gefangenenlagern des Dritten Reichs anlehnt und dadurch stellenweise bedrückend authentisch aussehende Szenen generiert – ich denke nur an eine Grube voller Leichen, die verdammt echt aussehen -, hingegen wesentlich ehrlicher vor als die ins Groteske, Surreale und Absurde übersteigerten und dadurch kaum ernstzunehmenden Folterorgien eines Sergio Garrone oder Bruno Mattei, oder auch die Darstellung eines Jüdischen Netzwerks in Spielbergs SCHINDLER‘S LIST (1994), bei dem jeder Gefangene dem andern selbstlos beisteht und helfend unter die Arme greift. Gerade wenn man die erwähnten Berichte von Borowski, Levi oder Semprun zur Hand nimmt, wird man feststellen, dass die schonungslose Transformation eines unbedarften Mädchens wie Edith zur beinahe schon lustvoll herrschenden SS-Handlangerin möglicherweise doch näher an der Wirklichkeit ist als die Vorstellung eines prinzipiellen Egalitarismus zwischen den KZ-Insassen. KAPO zeigt ein Menschenbild, in dem – wir denken an Thomas Hobbes – jeder zum Wolf des andern wird, sobald sich die Gelegenheit oder Notwendigkeit dazu ergibt. Zugleich fragt KAPO aber auch, gemeinsam mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben, nach einer neuen Ethik im Schatten von Auschwitz. Was bleibt von Auschwitz letztlich? Einfach so weitermachen wie bisher? Die Augen zudrücken und schnell vergessen? Oder sich dem Thema stellen und daran rühren, mit einem Film wie KAPO, zu einem Zeitpunkt, als noch wie mit einem Tabu belegt schien? Was an KAPO in seinen besten Momenten so sehr bedrückt, ist nämlich nicht etwa nur, dass da unschuldige Menschen gezwungen sind, in einer menschenunwürdigen Welt voller Angst und Tod zu leben. Seine Botschaft ist noch erschreckender: Um in einer solchen Welt zu überleben, muss man zwangsläufig seine Unschuld verlieren, so wie Edith, oder, so wie Terese, mit ihr zugrunde gehen. Dass Edith am Ende zur Märtyrerin wird, durch deren selbstlosen Opfergang Sascha und seine Kameraden die Freiheit erlangen, ist da nur ein recht schwacher Trost, der beweist, dass auch eine Filmromanze manchmal darin scheitert, dem Grauen eine versöhnliche Note abzuringen.