Große Freiheit Nr.7 - Helmut Käutner (1944)

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Salvatore Baccaro
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Große Freiheit Nr.7 - Helmut Käutner (1944)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Grosse Freiheit

Produktionsland: Deutschland 1944

Regie: Helmut Käutner

Darsteller: Hans Albers, Ilse Werner, Hans Söhnker, Hilde Hildebrand, Helmut Käutner
Deutschland, 1944. Dass der Krieg noch zu gewinnen sei, muss man glauben, kann man aber kaum noch. Ein Großteil Deutscher Städte liegt in Schutt und Asche, die Alliierten rücken von sämtlichen Seiten näher und werfen die Wehrmacht von einem besetzten Gebiet nach dem andern zurück, die Nationalsozialistische Regierung verlegt sich auf Durchhalteparolen und Wahrheitsverrenkungen. Im Dezember dieses Jahres läuft vor ausgewähltem Publikum in Prag, in dessen Barrandov-Studios er hauptsächlich entstanden ist, ein Film, der bereits im Vorjahr, von März bis November 1943, gedreht wurde, und ursprünglich einmal als Loblied auf den Deutschen Seemann, als kinematographische Festschrift auf die unbesiegbare Deutsche Flotte gedacht war. Was unter der Regie von Helmut Käutner dann allerdings daraus wurde, konnte Großadmiral Dönitz seinerzeit nur mit dem Schmachsiegel der Wehrkraftzersetzung belegen. GROSSE FREIHEIT – oder, wie man den Film nach der Intervention Joseph Goebbels umbenennen musste, um die gar nicht mal besonders subtile Subversion aus dem Titel zu streichen: GROSSE FREIHEIT NR.7 wurde auch nach seiner Premiere im Dezember 1944 von der Zensur nicht freigegeben, später, nach der Kapitulation des Deutschen Reichs, sogar von den Alliierten mit einem Verbot belegt. Dabei sieht Käutners Seemannsgarn auf den ersten Blick doch so harmlos aus wie ein NS-Unterhaltungsfilm seinerzeit nur sein konnte: Hans Albers als singender Seemann bestreitet die Hauptrolle, was die Möglichkeit gibt, beliebte zeitgenössische Schlager und Chansons zu hören, dazu liefert der Film viel Hamburger Hafenromantik, die bombenversehrte Ruinen freilich komplett ausspart, und turbulente Liebesverwicklungen rund um die niedliche Ilse Werner. Außerdem ist GROSSE FREIHEIT nichts weniger als ein Prestigefilm, stellt er doch einen der ersten (und letzten) Agfa-Farbfilme des Dritten Reiches dar. Wo also liegt nun eigentlich die Provokation, dass gleich zwei unterschiedliche Systeme, das Hitlers und das der Alliierten Besatzer, sich von dem Film auf die Füße getreten fühlten?

Betrachten wir uns zunächst einmal die Handlung. In deren Zentrum steht der ehemalige Seemann Hannes Kröger, der seit vielen Jahren schon im Hamburger Hafen auf Grund gelaufen ist, und sich dort singend, schäkernd und saufend seinen Lebensunterhalt im Hippodrom, einem Vergnügungslokal in der Großen Freiheit, einer Straße des Rotlichtviertels St. Pauli, verdient. Im Grunde laufen seine Tage nach dem immer gleichen Muster ab: Er kommt spät aus dem Bett, verbringt die Abende und Nächte auf Arbeit, d.h. er unterhält Prostituierte, Matrosen auf Landurlaub und andere zwielichtige Gestalten mit Seemannsweisen vom Schlage AUF DER REEPERBAHN NACHTS UM HALB EINS, betrinkt sich dabei fürchterlich, und sinkt irgendwann gegen Morgen fahnenumweht zurück auf die Matratze. Doch eines Tages bzw. Nachts erhält dieser routinierte Ablauf einen jähen Einschnitt: Ein Telegramm trifft ein, in dem Hans mitgeteilt wird, sein Bruder liege im Krankenhaus und im Sterben und bitte ihn, auf der Todesschwelle, um eine Aussprache, die auch nötig ist, da der Bruder, was Hannes ihm heute noch vorwirft, das komplette Familienerbe durchgebracht hatte und sowieso immer auf seinen eigenen Vorteil bedacht war. Hannes denkt erst gar nicht daran, ihm zu verzeihen, oder ihm seinen letzten Wunsch zu erfüllen: Dass er sich um ein Mädchen namens Gisa kümmern solle, die sitzengelassene Geliebte des Bruders, die irgendwo auf dem Land lebt. Erst als sein Bruder ihm vor den Augen wegstirbt, weicht sich das alte Seemannsherz auf, und Hannes packt seine Sachen, um in die Provinz zu reisen, und Gisa zumindest einmal kennenzulernen. Der geht es im vermeintlichen Dorfidyll mehr schlecht als recht, seitdem ruchbar geworden ist, dass sie eine uneheliche Affäre hatte. Nicht nur die übrigen Dorfbewohner bewerfen sie mit scheelen Blicken, auch die eigene Mutter schämt sich für die vermeintlich missratene Tochter in Grund und Boden. Hannes, der sofort Sympathie für die wesentlich jüngere Frau empfindet, schlägt ihr vor, doch mit ihm nach Hamburg zu kommen, das sei doch kein Leben in dieser feindlichen Dorfumgebung. Gesagt, getan: Gisa zieht bei Hannes ein, der ihr wiederum eine Stelle als Verkäuferin in einem Haushaltswarenladen verschafft. Für eine Zeit sind die beiden, auf platonischer Ebene, glücklich miteinander. Hannes hat endlich jemand, dem er sein Herz ausschütten, von seinen früheren Schiffsreisen, von seiner Sehnsucht nach dem Meer erzählen kann, und Gisa endlich jemanden, der sich wie ein Vater um sie kümmert. Doch natürlich bleiben die Konflikte nicht aus. Da ist zum einen Anita, die Wirtin des Hippodrome, mit der Hannes in einer lockeren Beziehung verbandelt scheint, und die natürlich überläuft vor Eifersucht, als sie Gisa als potentielle Nebenbuhlerin entdeckt. Noch schwerer wiegt aber, dass Gisa sich mit einem gewissen Georg liebestechnisch verheddert. Das nämlich ruft wiederum Hannes‘ Eifersucht auf den Plan, der insgeheim schon mit dem Gedanken spielt, Gisa einen Heiratsantrag zu machen…

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Abb.1: Lucio Fulci mag der Regisseur sein, der die Augen-Großaufnahme im Kino zur fetischisierenden Perfektion getrieben hat, Helmut Käutner perfektioniert demgegenüber, zumindest in vorliegendem Film, die Augen-Beleuchtung. Unwirklich schimmert es im Gesicht Hans Albers nicht nur einmal - und wenn sein Kopf sich zur Seite bewegt, merkt man, dass die exakt pointierten Lichtquellen ihm nicht folgen.

Allein aus dieser knappen Inhaltsangabe wird wohl keiner meiner Leser auch nur erahnen können, wie sehr Helmut Käutner seinen Film gegen die vorherrschende NS-Ideologie und die damit verbundenen gängigen Schemata des Deutschen Kinos der 30er und frühen 40er Jahre gebürstet hat. Arbeiten wir seine inhaltliche Subversionen daher einmal schnell ab: Im NS-Kino wird ein Motiv besonders virulent, das man in Film und Literatur natürlich schon viel früher vorliegen hat, nun aber zum Teil der herrschenden Ideologie gehört. Es ist die Dichotomie zwischen naturverbundenem, vitalem, unverdorbenem Land- und Dorfleben und der degenerierten, kränklichen, technologisierten Großstadt, wobei die Sympathien des NS-Regimes freilich ganz klar bei ersterem liegen. Man lese nur einmal das Kapital über Großstädte in Alfred Rosenbergs NS-Bibel DER MYTHUS DES 20. JAHRHUNDERTS, um sich bewusst zu machen, dass eines der Hauptziele des Nationalsozialismus eben nicht das Zudecken Deutschlands unter einer Fläche aus Metropolen gewesen ist, sondern vielmehr die Reagrarisierung Deutschlands am Beispiel vermeintlich althergebrachter germanischer Clan-Strukturen. Am schönsten – vor allem, weil die Agfa-Farben auch dort so toll sind! – kann man diese Tendenz vielleicht in Veit Harlans DIE GOLDENE STADT von 1942 nachvollziehen: Heldin Anna treibt das Gieren nach Freiheit und Abenteuer dort in die Arme der Großstadt Prag, von der das Landei gründlich aus der Schale gepellt wird, worauf die Laster wie Frauen, die sich wie Männer benehmen, d.h. Hosen tragen und rauchen, und schmierige osteuropäische Galane und die Verlockungen des schillernden Nachtlebens sie schließlich ins Wasser gehen lassen. Ganz anders schildert Käutner das Oppositionspaar Landidyll und Großstadt in vorliegendem Film. Dort ist, wie ich oben schon angedeutet habe, Gisas Heimatdorf ein Garten Eden nur an der Fassade. Obstplantagen, hübsche Bauernhäuser, lebensfreudige Mägde – dem allem begegnet Hannes, als er nach seiner Schwägerin in spe sucht, doch kaum hat er mit ihr und vor allem ihrer Mutter ein paar Worte gewechselt, wird ihm, und dem Zuschauer, klar, dass dieses Idyll nach klaren Regeln gestrickt ist, die einem, sollte man sie übertreten, zum Verhängnis werden können. Gisas Gesetzesbruch, das Verhältnis mit einem Mann, der nicht ihr Gatte ist, macht sie in den Augen des Dorfes zur Sünderin: Sie ist belegt mit einem Stigma, an dem sie so viel rubbeln kann wie sie will, sie bekommt es nicht mehr los. Aus der Enge der Provinz folgt sie Hannes in ein Hamburg, das überhaupt keins der Züge trägt, die ihm ein Veit Harlan wie selbstverständlich angedichtet hätte. Wohlgemerkt, es handelt sich nicht etwa um Hamburgs Villen- und Diplomatenviertel, wo Hannes wohnt, sondern die Hafengassen voller Dirnen, Säufer und Tagediebe, und trotzdem begegnet Käutners Film dieser Gegend mit einem nachsichtigen, freundlichen, fast schon heiteren Blick, und betont vor allem das Wort im Titel, das Goebbels solche Magenschmerzen verursacht haben muss: Freiheit.

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Abb.2: Versteckte Subversionen. Wie zufällig läuft während Hannes' Aufenthalt auf dem Land eine Gruppe Dorfschönheiten durchs Bild, und zwar streng ineinander gehakt und im Gleichschritt, und wie zufällig visualisiert Käutner die restriktive, reglementierende Atmosphäre in Gisas Heimatort kurz und bündig im Bildsektor.

Tatsächlich verhandelt GROSSE FREIHEIT die sich in besagtem Milieu ergebenen Geschlechterverhältnisse auf eine derart lockere, ungezwungene, regelrecht unbekümmerte Art und Weise, dass man kaum glauben mag, der Film sei inmitten eines verheerenden Krieges entstanden. Dass Hannes und Gisa zusammen in einer Wohnung leben, mag noch angehen, da von seiner Seite keine ernsthaften Versuche unternommen werden, das Mädchen in sein Bett zu locken, und sich stattdessen so etwas wie eine Vater-Tochter-Beziehung zwischen ihnen entwickelt, allerdings mit durchaus ernstzunehmenden, jedoch unausgesprochenen amourösen Gefühlen auf seiner Seite. Die Beziehung indessen zwischen Gisa und Georg wirkt zuweilen gar wie ein Techtelmechtel, das auch exakt so in einem Werk der Nouvelle Vague, einem frühen Truffaut oder Godard vielleicht, hätte umgesetzt werden können. Zwar gibt Georg den Draufgänger, doch ist Gisa seinem maskulinen Gebaren von Anfang an nicht abgeneigt, was in einer Liebesszene gipfelt, die für die damalige Zeit so gewagt ist, dass ich die Sittenwächter heute noch brüllen höre: Gisa und Georg liegen nach abgeleistetem Sex zusammen im Bett, er mit nacktem Oberkörper, sie im Unterrock, und außerdem – was für ein Skandal! – nicht etwa neben oder unter ihm, sondern direkt auf seinem Bauch – eine Konstellation, die in einem zeitgleich entstandenen Hollywood-Film, gerade in Anbetracht des Hays-Codes, undenkbar gewesen wäre. Zuvor haben die beiden sich leidenschaftlich geküsst, und die Kamera ist weggeschwenkt zu einer Lampe mit drei Birnen, jedoch nur zwei Schirmen – ein schönes Symbol für die grundlegende Dramatik des Films. Denn GROSSE FREIHEIT ist vorrangig nicht etwa heiter, flockig, sondern vermittelt vor allem, meine ich, eine Stimmung der Melancholie und der Resignation. Die wird primär durch Hans Albers in den Film getragen. Der hat zuvor stets den blonden Frauenschwarm verkörpert, Weltenbummler und Macho, ist nun aber in die Jahre gekommen, und demontiert, wenn man so will, in GROSSE FREIHEIT sein eigenes, vor allem auch im NS-Kino aufgebautes Image. Die Lieder, die er singt, sind oftmals tieftraurig und schwermütig – und dabei alles andere als bloße Zierrat, sondern integrale Bestandteile von Narration und Psychologie der Figuren -, er berichtet von vergangenen Abenteuern statt sie in der Gegenwart zu meistern, und träumt gar von einer bürgerlichen Existenz als Hafenrundfahrtskapitän, auf einem Schiff, das Gisa heißen soll. Schmerzhaft ist sein Erwachen, als er begreift, dass Gisa sich längst in Georg verguckt hat, und es aus seinem Traum nichts werden wird. Gebrochen, ein Schatten seiner selbst, sitzt er sturzbetrunken vor dem Festmahl, das er Gisa eigentlich zur Verlobung aufgetischt hat, und nicht mal zwei alte Freunde von der See können ihn erheitern. Ähnlich rührend ist aber auch die Figur der Anita. Als Hannes sich am Ende entschließt, nun, wo er alles verloren hat, doch wieder zur See zu fahren, fährt die Kamera mit ihm, und zwar weg von der Wirtin, die allein in ihrem Hippodrome zurückbleibt, und Hannes, den sie liebt, mit sehnsüchtigen Blicken hinterherschaut. Überhaupt ist dieser Film voller Blicke, subtiler Andeutungen, Mimiken, Gesten, die mehr sagen als alle Worte. Gisas und Georgs Leidenschaft in den Augen, die offen zeigt, dass sie vor allem geil aufeinander sind. Die Blicke einer Hafendirne, der einer von Hannes‘ Freunde verfallen ist, und die, als sie weiß, dass dieser bald wieder auf seinem Schiff sein wird, sich schon nach dem nächsten Fisch für ihre Angel umschaut. Die Blicke Hannes, als seine Traumblase platzt, wie so oft speziell beleuchtet, sodass die Augen Albers glänzen, als seien sie mit Gelee eingeschmiert worden.

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Abb.3: Unverblümte Subversionen. Im Hippodrome mischen sich Geschlechter, Gesellschaftsklassen, sogar Gattungen, und zwischen Bier saufenden Hengsten, Disco-Kugeln, rauchenden und auf Kundschaft wartenden Huren, sturzbesoffenen Seebären und Rodeo-Reiterinnen singt Albers Lieder, die auf einmal gar nicht mehr so sehr zum Schunkeln, sondern eher zum Vergießen stiller Tränen einladen.

Was Männer wie Dönitz jedoch, einmal von der progressiven Darstellung der Liebesbeziehungen, in denen gesellschaftliche Implikationen nichts, und die involvierten Herzchen alles sind, abgesehen, am meisten verstört haben wird, ist die Art und Weise wie Käutner den Deutschen Seemann porträtiert. Das sind alles entweder gescheiterte Existenzen, die, nach einem Leben auf dem Ozean, in den Hafenkneipen Hamburgs versacken oder agile Männer in den besten Jahren, die, wenn sie nicht ihr Leben auf dem Ozean fristen, in den Hamburger Hafenkneipen versacken, leichte Mädchen aufreißen und vor allem massig Bier und Schnaps in sich hineinkippen. Das mag nahe an der Realität sein – und deshalb umso weiter entfernt von den tapferen, abstinenten Abziehbild-Heroen in NS-Filmen wie Karl Ritters STUKAS (1941) oder Veit Harlas KOLBERG (1945). Überhaupt, dieses Hippodrome, was ist das denn für ein schräger Laden bitte, in dem scheinbar sämtliche Regeln und Normen ausgehobelt sind wie in der ähnlich kunterbunten, nahezu surrealen Karnevalsszene von Harlans im gleichen Jahr, ebenfalls teilweise in Hamburg gedrehten OPFERGANG (1944)?!: Halb Säuferstube, halb Bordell, halb Tanzlokal, halb Manege – in der Pferde und Esel umherlaufen und Bier saufen! – präsentiert das Hippodrome eine transgressive Welt wie man sie im Deutschen Kino der 30er und frühen 40er normalerweise mit der Lupe suchen kann – zumal all diese Schnapsnasen, Huren und Bänkelsänger, wie gesagt, in keinster Weise negativ gezeichnet wären: Es sind einfach nur Menschen, auf der Suche nach Liebe, Geld oder Vergnügen. Gerade durch die wunderschönen, schillernden Agfa-Farben bekommt GROSSE FREIHEIT gerade in den Rotlichtszenen einen sowohl traumhaften als auch überaus irrealen Anstrich, dass es für mich schon beinahe am Avantgarde-Film kratzt, und ich mich, erneut, an Harlans ähnlich wundervollen OPFERGANG erinnert fühle – mit dem Unterschied, dass Harlan freilich ein Regisseur komplett auf NS-Linie war, und Käutner gewissermaßen ein ästhetischer Opponent. Der NS-Filmstil ist ja üblicherweise ein naturalistischer, statischer, strenger, aus kinematographischer Sicht wenig virtuoser, einfach deshalb, weil die Botschaft prinzipiell mehr Gewicht hat als die Inszenierung. Doch auch hier kehrt Käunter alles auf den Kopf, setzt in GROSSE FREIHEIT viele Kamera- und Kranfahrten ein, und stürzt sich einmal sogar kopfüber in den Bereich des Phantastischen Kinos, das im Dritten Reich – von lobenswerten Ausnahmen wie Wisbars FÄHRMANN MARIA (1936) einmal abgesehen – überhaupt keine Konjunktur mehr hatte. In einer Traumsequenz, die, schon wieder, für mich heftigst den Schluss von OPFERGANG evoziert, durchlebt Albers am Tag vor seinem geplanten Heiratsantrag gen Gisa eine tour-de-force durch verschiedene Stationen seines Lebens. Sein Bruder steht von den Toten wieder auf. Er fährt mit seinem Wunschboot namens Gisa mitten durch St. Pauli und erleidet Schiffbruch. Er imaginiert sich selbst als heißblütigen Tangosänger, der von südostasiatischen Insulanerinnen umringt wird. Dabei überlappen sich die Bildwelten, wirbelt alles durcheinander, setzen Beleuchtung und Farbregie alles daran, mich glauben zu lassen, Kenneth Anger sei als halbes Kind noch heimlich nach Deutschland verfrachtet worden, um dort seine ersten Gehversuche im Experimentalfilm zu unternehmen.

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Abb.4: Avantgardistische Tendenzen. Bei Hannes' mehrminütige Traumsequenz verstärkt die archaische LSD-Ästhetik der Agfa-Farben die Wirkung der kühnen, zuweilen völlig verrückten, sowohl bedrohlichen als auch erheiternden Bildfolgen noch um ein Vielfaches.

Sicher wäre es verfehlt, Helmut Käutner, der sich in den 50ern und 60ern ja zu einem der führenden bundesdeutschen Regisseure mausern sollte, dem Widerstand zuzurechnen. Die wahren Widerstandskämpfer saßen zu dieser Zeit längt bei den Partisanen im Gebirge oder im Gefängnis. Dennoch: Was sich GROSSE FREIHEIT so alles an Freiheiten herausnimmt, das wundert mich schon. Während ich mich bereits bei Harlans OPFERGANG fragte, wie es möglich war, dass der Film in dieser Form gedreht werden konnte, reibe ich mir bei vorliegendem Werk umso heftiger die Augen. Dass Harlan als parteitreuer Regisseur solcher Filme wie JUD SÜSS (1940) oder DER HERRSCHER (1937) einmal, wohl eher unbeabsichtigt, seinen sentimentalen Kitsch bis hin zu den höchsten Weihen des Kinos transzendiert, mag ja noch angehen – zumal OPFERGANG inhaltlich vertrautes, erlaubtes Terrain beackert -, doch Käutners Reigen aus Alkoholvergiftung, käuflicher Liebe, vorehelichem Sex und wehmütigen Seemannsliedern lehnt sich, scheint mir, von der Konzeption her schon so weit aus dem Fenster, dass sein Sturz in Ungnade kaum überrascht – und genauso wenig sein Sturz in meinen Kanon der berührendsten, schönsten, verrücktesten Deutschen Filme vor 1945, die ich bislang gesehen habe. Meisterwerk-Status!
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Arkadin
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Re: Große Freiheit Nr.7 - Helmut Käutner (1944)

Beitrag von Arkadin »

Ich hatte im Frühjahr das große Vergnügen diesen Film (erstmals!) zusammen mit einigen Jugendlichen (12/13 Jahre) im Rahmen eines Ferien-Volkshochschulkurses, den ein Freund von mir in Hamburg organisierte, zu sehen und zu diskutieren. Eine tolle Erfahrung.

Ich hatte übrigens das Gefühl, dass bei Gisas Konflikt im Heimatdorf auch ein gewollter oder ungewollter Schwangerschaftsabbruch eine Rolle spielte. Das wird nie formuliert, schwingt für mich aber irgendwie mit.

In den St.Pauli-Szenen tauchen auch zahlreiche Farbige und Asiaten unter den Statisten auf. Ein weiteres Indiz dafür, wie weltoffen und frei das Leben auf St.Pauli hier gezeichnet wird.

Es gibt in dem Film nur einen einzigen direkten Hinweis auf das Dritte Reich. Das Schiff, mit dem Hannes Kröger am ende gen See sticht, hat hinten eine Hakenkreuzflagge. Die muss man aber förmlich suchen, um sie zu sehen. Dann gibt es noch Polizei in Uniform, die bei einer Schlägerei eingreift. Da hatte mein Freund herausgefunden, dass die (faschistischen) Polizei-Abzeichen da irgendwie sehr merkwürdig angebracht wurden. An Details erinnere ich mich jetzt nicht mehr, aber seine Theorie war, dass Käutner das mit Absicht so gemacht hatte.

Ansonsten: Meisterwerk, Meisterwerk, Meisterwerk. Werde ich bestimmt noch oft anschauen. Gerne auch mal auf 35mm.
Früher war mehr Lametta
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Salvatore Baccaro
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Re: Große Freiheit Nr.7 - Helmut Käutner (1944)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Arkadin hat geschrieben:Ich hatte übrigens das Gefühl, dass bei Gisas Konflikt im Heimatdorf auch ein gewollter oder ungewollter Schwangerschaftsabbruch eine Rolle spielte. Das wird nie formuliert, schwingt für mich aber irgendwie mit.
Das ist durchaus möglich. Hannes fragt in der fraglichen Szene Gisa: "Haben Sie denn ein Kind von meinem Bruder?", und sie antwortet nur: "Nein, das nicht!", wobei sie mit etwas gequälten Gesichtsausdruck Richtung Kamera blickt, von dem Hannes, der direkt hinter ihr steht, nichts sieht, und sich entsprechend über die Antwort freut: "Na, nochmal Glück gehabt!"
Arkadin hat geschrieben:In den St.Pauli-Szenen tauchen auch zahlreiche Farbige und Asiaten unter den Statisten auf. Ein weiteres Indiz dafür, wie weltoffen und frei das Leben auf St.Pauli hier gezeichnet wird.
Sogar im Restaurant "Shanghai" darf gespeist werden:
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Arkadin hat geschrieben:Dann gibt es noch Polizei in Uniform, die bei einer Schlägerei eingreift. Da hatte mein Freund herausgefunden, dass die (faschistischen) Polizei-Abzeichen da irgendwie sehr merkwürdig angebracht wurden.
Da einer der Polizisten zudem eine große Null auf der Mütze trägt, kann ich kaum glauben, dass Polizeiuniformen im Dritten Reich exakt so ausgesehen haben... ;-)
(Das Hakenkreuz ist übrigens auch hier offensichtlich verdeckt.)
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CamperVan.Helsing
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Re: Große Freiheit Nr.7 - Helmut Käutner (1944)

Beitrag von CamperVan.Helsing »

Salvatore Baccaro hat geschrieben:
Arkadin hat geschrieben:In den St.Pauli-Szenen tauchen auch zahlreiche Farbige und Asiaten unter den Statisten auf. Ein weiteres Indiz dafür, wie weltoffen und frei das Leben auf St.Pauli hier gezeichnet wird.
Sogar im Restaurant "Shanghai" darf gespeist werden:
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In dem Zusammenhang sollte erwähnt, dass die Schmuckstraße (heute als Transenstrich berüchtigt) früher chinesisch geprägt war, bis die Chinesen 1944 von der Gestapo deportiert wurden.

https://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Chinesenviertel

https://de.wikipedia.org/wiki/Chinesenaktion


Und auch das Hippodrom hat es ja tatsächlich gegeben und gehörte dem Vater von Willi Bartels, der später zum (Immobilien-)König von St. Pauli avancierte.


Ich muss mir den Film wirklich mal ansehen.
My conscience is clear

(Fred Olen Ray)
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Salvatore Baccaro
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Re: Große Freiheit Nr.7 - Helmut Käutner (1944)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

ugo-piazza hat geschrieben:In dem Zusammenhang sollte erwähnt, dass die Schmuckstraße (heute als Transenstrich berüchtigt) früher chinesisch geprägt war, bis die Chinesen 1944 von der Gestapo deportiert wurden.
Lieben Dank für diese Hintergrundinformationen, von denen ich bislang exakt gar nichts gewusst habe!
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