Man of Ashes - Nouri Bouzid (1986)
Verfasst: Sa 4. Mär 2017, 15:01
Originaltitel: Rih essed
Produktionsland: Tunesien 1986
Regie: Nouri Bouzid
Darsteller: Imed Maalal, Khaled Ksouri, Yacoub Bchiri, Mustapha Adouani, Mohamed Dhrif
Gleich die erste Einstellung von RIH ESSED wird vermutlich etwa acht von zehn Betrachtern dieses tunesischen Spielfilms aus dem Jahre 1986 dazu veranlassen, ihre Sichtung vorzeitig abzubrechen. Aus gottgleicher Perspektive, nämlich der eines Vogels, blicken wir hinab auf das Pflaster eines Hofes. In den Bildausschnitt wird ein Hahn geschleudert, dem man offenbar kurz zuvor die Kehle aufgeschlitzt hat. Zunächst liegt das Tier ruhig, wie lauernd auf den nahenden Tod, vor der Linse. Dann erst beginnt es, gegen sein Sterben aufzubegehren. Flügelschlagend, flatternd, zuckend wirft sich der Hahn auf dem Boden herum. Die Kamera folgt seinem Todeskampf mit empathieloser Präzision. Verglichen mit dem restlichen Film steht dieser blutige Auftakt relativ isoliert da. Weder wird im weiteren Verlauf von RIH ESSED noch einmal auf den Hahn eingegangen noch seine Tötung deutlich kontextualisiert. Vielmehr trägt die Szene den Charakter eines Initialschocks – möglicherweise zugleich als Warnung für den Betrachter gedacht, dass das, was folgt, nicht viel einfacher zu konsumieren sein wird und/oder als ein Element, das uns gleich in den ersten Sekunden moralisch sensibilisieren und zu ethischen (Selbst-)reflexionen anregen soll. Ganz so schlimm wie die Hahnhinrichtung in den ersten Minuten gestaltet sich RIH ESSED, wie gesagt, schließlich nicht – zumindest für den abendländischen Rezipienten, denn was Nouri Bouzid demgegenüber seinem arabisch-islamischen Publikum zumutet, das kann ich von meiner eigenen abendländischen Warte nur erahnen, und mich dementsprechend trotzdem darüber wundern, dass vorliegender Film in dieser Form unter diesen kulturellen Bedingungen überhaupt hat gedreht werden können.
Immerhin, zusammenreimen lässt sich: Der Hahn, der soll als Brathähnchen in die Mägen einer Hochzeitsgesellschaft wandern, denn die folgenden Szenen von RIH ESSED schildern genau das: Die Vorbereitungen zu einem großen Fest, bei dem der Jüngling Hachemi unter die Haube gebracht werden soll. Seine Zukünftige kennt er nur flüchtig, Leidenschaft ist nicht im Spiel, stattdessen handelt es sich um eine von beiden Familien unter hauptsächlich rationalen Erwägungen feinsäuberlich eingefädelte arrangierte Trauung. Es wird viel gekocht, viel gegessen, die unterschiedlichen Familienmitglieder sitzen beisammen, jedem ist seine Rolle in dem kulturell normierten Komplex zugewiesen – nur Hachemi fühlt sich völlig fehl am Platze, und nutzt jede Gelegenheit, sich dem bunten Treiben zu entziehen, und gemeinsam mit seinem Jugendfreund Fachemi in Erinnerungen zu schwelgen. Fachemi wiederum leidet unter dem dumpfen Dorfleben, in das er hineingeboren worden ist. Ihn zieht es in die Metropole Tunis, wo er reich und glücklich werden möchte. Nicht unschuldig daran ist ein Graffiti an Hachemis Hauswand, das dem innerhalb der Dorfgemeinschaft sowieso eine Außenseiterrolle innehabenden Fachemi homosexuelle Neigungen unterstellt. Dieses Graffiti in Kombination mit Fachemis Fluchtplänen und der eigenen immer näher rückenden Hochzeit mit einem Menschen, den er höchstens respektiert, jedoch kein bisschen liebt, weckt in Hachemi lange und tief verbuddelte Traumata: Als Jugendliche haben Fachemi und Hachemi für den örtlichen Zimmermeister Ameur gearbeitet, der in unbeobachteten Momenten der Versuchung nicht widerstehen konnte, die beiden Knaben zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Dieses Geheimnis, unausgesprochen selbst zwischen Fachemi und Hachemi, droht, nunmehr einmal an die Oberfläche von Hachemis Bewusstsein geschwemmt, nicht nur seine Hochzeit zu sprengen…
Puh, was für ein Film! Eine Geschichte rund um uneingestandene Homosexualität, Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch, mit psychisch völlig verwüsteten Protagonisten, die ihren Kummer literweise in Schnaps ersaufen und unter der Last ihrer Vergangenheit beinahe auseinanderbrechen, das hätte ich von einem tunesischen Spielfilm Mitte der 80er nun wirklich nicht erwartet. Ich habe keine Ahnung, wie RIH ESSED seinerzeit in seinem Produktionsland aufgenommen worden ist – und ob er dort überhaupt offiziell in den Kinos laufen konnte, was ich fast bezweifeln möchte -, doch – auch auf die Gefahr, mich zu wiederholen – für einen Film aus einem muslimisch geprägten Kulturkreis ist das, was Nouri Bouzid da an Reizthemen aufs Parkett bringt, mehr als starker Tobak. Sicherlich, verglichen mit einem thematisch ähnlichen Film aus westlichen Hemisphären ist RIH ESSED weitaus weniger explizit – gerade die Homosexualität Fachemis wird eher zaghaft illustriert denn offen verbalisiert, und auch bei Aumurs sexuellen Übergriffen auf die beiden Jungen ist natürlich nichts deutlich ins Bild gerückt -, doch während, kann ich mir vorstellen, beispielweise ein Hollywood-Film dann doch liebend gerne auf die Tränendrüse gedrückt und uns mit einem versöhnlichen Ende besänftigt haben würde, bestimmt RIH ESSED eine raue Ehrlichkeit, ein Drang, nichts zu beschönigen oder zu verharmlosen, der den Film, allein schon auf der Ebene der Charakterzeichnung, zu einem Drama macht, das diesen Namen völlig zu Recht verdient. Genau ein solcher Realismus – Bouzids Dialoge, Figuren, Locations wirken wie aus dem Leben gegriffen, voller Schmutz, in dem, selten, ein paar helle Flecken schimmern – stellt aber das eigentliche subversive Potential von RIH ESSED dar. Da sind Väter, die Widerworte ihrer Söhne mit Gewaltandrohungen beantworten. Da sind Schnapshöllen, wo die Kellner ihre besoffene Kundschaft gegen Morgen auf die Straße schmeißen müssen, weil sämtliche Fässer leergetrunken wurden. Da sind ältliche Prostituierte, die sich hinter halb zugezogenen Hintergassentüren feilbieten. Wenn man im arabischen Kulturraum eine Entsprechung zum italienischen Neorealismus suchen möchte, wird der Fund wohl so oder so ähnlich ausschauen wie vorliegender Film.
Natürlich maße ich mir nicht an, RIH ESSED vollkommen begriffen zu haben. Viele gesellschaftliche, politische, kulturelle Implikationen, die Bouzid anspricht, sind wohl nur einem Tunesier wirklich verständlich, und bleiben mir, der ich höchstens rudimentäre Kenntnisse der nordafrikanischen Geschichte habe, zwangsläufig verschlossen. Klar ist mir trotzdem, dass Bouzid, jenseits seines kontroversen Sprengstoffs, zugleich vieles anreißt, was für das politische Klima des Tunesiens der 80er Jahre von Bedeutung gewesen sein muss, und dass er das nahezu ausschließlich tut, indem er die Beziehungen von Männern zu Männern in allen denkbaren Konstellationen durchexerziert. Das Verhältnis von Juden und Muslimen wird veranschaulicht durch einen väterlichen Freund Hachemis, den Greis Levy. Das fast schon merkantile Verhältnis von Brautvätern zu Brautvätern kann man schön an den Hochzeitsvorbereitungen ablesen. Und wie eine von westlichen Werten begeisterte Jugend verloren steht zwischen diesen und sich ihnen regelrecht gewaltsam überstülpenden Archaismen, das zeigen die vielen ruhigen Dialogszenen zwischen Hachemi und Fachemi. Wichtig aber ist: Nouri Bouzid beschränkt sich darauf, Dinge zu bebildern, und nicht sie zu bewerten. RIH ESSED ist nicht das arabische Äquivalent eines wütenden 68er-Kinos, das das Zelluloid der Großväter gemeinsam mit ihren Bärten anzündet. Vielmehr erweist sich RIH ESSED gerade in seinen aggressiven Momenten als überaus besonnen und ausgewogen. Nouri Bouzid ist kein Prediger, er ist ein Pater im Beichtstuhl, der sich stumm anhört, was alle Parteien vorzubringen haben, und dann Gott, nämlich uns als seinem Publikum, die finale Wertung überlässt.
Wer einmal ein tunesisches, sehr nüchtern erzähltes, sehr spröde illustriertes coming-of-Drama um junge Männer zwischen Tradition und Innovation sehen möchte, das nun wirklich kein Blatt vor den Mund nimmt, der ist mit RIH ESSED sicher bestens beraten – und darf sich nur vom Opferhahn zu Beginn nicht abschrecken lassen. Die US-DVD von Fox Lorbe, gebraucht zurzeit wohl schon für ein paar Dollar zu bekommen, hat kein perfektes Bild, dafür aber - immerhin ein Deal! - englische Untertitel.
Immerhin, zusammenreimen lässt sich: Der Hahn, der soll als Brathähnchen in die Mägen einer Hochzeitsgesellschaft wandern, denn die folgenden Szenen von RIH ESSED schildern genau das: Die Vorbereitungen zu einem großen Fest, bei dem der Jüngling Hachemi unter die Haube gebracht werden soll. Seine Zukünftige kennt er nur flüchtig, Leidenschaft ist nicht im Spiel, stattdessen handelt es sich um eine von beiden Familien unter hauptsächlich rationalen Erwägungen feinsäuberlich eingefädelte arrangierte Trauung. Es wird viel gekocht, viel gegessen, die unterschiedlichen Familienmitglieder sitzen beisammen, jedem ist seine Rolle in dem kulturell normierten Komplex zugewiesen – nur Hachemi fühlt sich völlig fehl am Platze, und nutzt jede Gelegenheit, sich dem bunten Treiben zu entziehen, und gemeinsam mit seinem Jugendfreund Fachemi in Erinnerungen zu schwelgen. Fachemi wiederum leidet unter dem dumpfen Dorfleben, in das er hineingeboren worden ist. Ihn zieht es in die Metropole Tunis, wo er reich und glücklich werden möchte. Nicht unschuldig daran ist ein Graffiti an Hachemis Hauswand, das dem innerhalb der Dorfgemeinschaft sowieso eine Außenseiterrolle innehabenden Fachemi homosexuelle Neigungen unterstellt. Dieses Graffiti in Kombination mit Fachemis Fluchtplänen und der eigenen immer näher rückenden Hochzeit mit einem Menschen, den er höchstens respektiert, jedoch kein bisschen liebt, weckt in Hachemi lange und tief verbuddelte Traumata: Als Jugendliche haben Fachemi und Hachemi für den örtlichen Zimmermeister Ameur gearbeitet, der in unbeobachteten Momenten der Versuchung nicht widerstehen konnte, die beiden Knaben zu sexuellen Handlungen zu zwingen. Dieses Geheimnis, unausgesprochen selbst zwischen Fachemi und Hachemi, droht, nunmehr einmal an die Oberfläche von Hachemis Bewusstsein geschwemmt, nicht nur seine Hochzeit zu sprengen…
Puh, was für ein Film! Eine Geschichte rund um uneingestandene Homosexualität, Kindesmisshandlung, sexuellen Missbrauch, mit psychisch völlig verwüsteten Protagonisten, die ihren Kummer literweise in Schnaps ersaufen und unter der Last ihrer Vergangenheit beinahe auseinanderbrechen, das hätte ich von einem tunesischen Spielfilm Mitte der 80er nun wirklich nicht erwartet. Ich habe keine Ahnung, wie RIH ESSED seinerzeit in seinem Produktionsland aufgenommen worden ist – und ob er dort überhaupt offiziell in den Kinos laufen konnte, was ich fast bezweifeln möchte -, doch – auch auf die Gefahr, mich zu wiederholen – für einen Film aus einem muslimisch geprägten Kulturkreis ist das, was Nouri Bouzid da an Reizthemen aufs Parkett bringt, mehr als starker Tobak. Sicherlich, verglichen mit einem thematisch ähnlichen Film aus westlichen Hemisphären ist RIH ESSED weitaus weniger explizit – gerade die Homosexualität Fachemis wird eher zaghaft illustriert denn offen verbalisiert, und auch bei Aumurs sexuellen Übergriffen auf die beiden Jungen ist natürlich nichts deutlich ins Bild gerückt -, doch während, kann ich mir vorstellen, beispielweise ein Hollywood-Film dann doch liebend gerne auf die Tränendrüse gedrückt und uns mit einem versöhnlichen Ende besänftigt haben würde, bestimmt RIH ESSED eine raue Ehrlichkeit, ein Drang, nichts zu beschönigen oder zu verharmlosen, der den Film, allein schon auf der Ebene der Charakterzeichnung, zu einem Drama macht, das diesen Namen völlig zu Recht verdient. Genau ein solcher Realismus – Bouzids Dialoge, Figuren, Locations wirken wie aus dem Leben gegriffen, voller Schmutz, in dem, selten, ein paar helle Flecken schimmern – stellt aber das eigentliche subversive Potential von RIH ESSED dar. Da sind Väter, die Widerworte ihrer Söhne mit Gewaltandrohungen beantworten. Da sind Schnapshöllen, wo die Kellner ihre besoffene Kundschaft gegen Morgen auf die Straße schmeißen müssen, weil sämtliche Fässer leergetrunken wurden. Da sind ältliche Prostituierte, die sich hinter halb zugezogenen Hintergassentüren feilbieten. Wenn man im arabischen Kulturraum eine Entsprechung zum italienischen Neorealismus suchen möchte, wird der Fund wohl so oder so ähnlich ausschauen wie vorliegender Film.
Natürlich maße ich mir nicht an, RIH ESSED vollkommen begriffen zu haben. Viele gesellschaftliche, politische, kulturelle Implikationen, die Bouzid anspricht, sind wohl nur einem Tunesier wirklich verständlich, und bleiben mir, der ich höchstens rudimentäre Kenntnisse der nordafrikanischen Geschichte habe, zwangsläufig verschlossen. Klar ist mir trotzdem, dass Bouzid, jenseits seines kontroversen Sprengstoffs, zugleich vieles anreißt, was für das politische Klima des Tunesiens der 80er Jahre von Bedeutung gewesen sein muss, und dass er das nahezu ausschließlich tut, indem er die Beziehungen von Männern zu Männern in allen denkbaren Konstellationen durchexerziert. Das Verhältnis von Juden und Muslimen wird veranschaulicht durch einen väterlichen Freund Hachemis, den Greis Levy. Das fast schon merkantile Verhältnis von Brautvätern zu Brautvätern kann man schön an den Hochzeitsvorbereitungen ablesen. Und wie eine von westlichen Werten begeisterte Jugend verloren steht zwischen diesen und sich ihnen regelrecht gewaltsam überstülpenden Archaismen, das zeigen die vielen ruhigen Dialogszenen zwischen Hachemi und Fachemi. Wichtig aber ist: Nouri Bouzid beschränkt sich darauf, Dinge zu bebildern, und nicht sie zu bewerten. RIH ESSED ist nicht das arabische Äquivalent eines wütenden 68er-Kinos, das das Zelluloid der Großväter gemeinsam mit ihren Bärten anzündet. Vielmehr erweist sich RIH ESSED gerade in seinen aggressiven Momenten als überaus besonnen und ausgewogen. Nouri Bouzid ist kein Prediger, er ist ein Pater im Beichtstuhl, der sich stumm anhört, was alle Parteien vorzubringen haben, und dann Gott, nämlich uns als seinem Publikum, die finale Wertung überlässt.
Wer einmal ein tunesisches, sehr nüchtern erzähltes, sehr spröde illustriertes coming-of-Drama um junge Männer zwischen Tradition und Innovation sehen möchte, das nun wirklich kein Blatt vor den Mund nimmt, der ist mit RIH ESSED sicher bestens beraten – und darf sich nur vom Opferhahn zu Beginn nicht abschrecken lassen. Die US-DVD von Fox Lorbe, gebraucht zurzeit wohl schon für ein paar Dollar zu bekommen, hat kein perfektes Bild, dafür aber - immerhin ein Deal! - englische Untertitel.