Da ich diesen Oktober vom Schicksal zum Hochschulbesetzer ernannt worden bin, hatte ich kaum Zeit, mir auf dem diesjährigen Braunschweiger Filmfestival mehr als einige Stippvisiten zu leisten. Eine davon galt allerdings der kanadischen, britischen, US-amerikanischen Co-Produktion THE VVITCH, und zwar stilecht als Mitternachtsvorstellung, nach der sich der Nachhauseweg für mich in etwa so schaurig gestaltete, als sei ich mit einem Blindenhund zur gleichen Uhrzeit auf dem Münchner Königsplatz unterwegs…
Der Untertitel des Films - A NEW ENGLAND FOLKTALE – hätte gar nicht besser gewählt werden können. Erste Überraschung nämlich dieses Werks, über das ich zuvor bewusst wenig gelesen hatte, und deshalb absichtlich sehr wenig wusste: Es spielt zur Gänze unter den ersten Siedlern Neuenglands um das Jahr 1630 herum, etwa eine Dekade nachdem die Gründerväter der späteren Vereinigten Staaten mit ihrer Mayflower vom alten Europa her herbeigesegelt sind, um Land zu bestellen, eine Nation zu gründen, und die indigenen Völker zu verscheuchen. Deshalb sind sämtliche Figuren angetan mit traditionellen Kostümen und verständigen sich mittels eines archaischen Englischs, von dem ich zwar nicht weiß, inwieweit das nun tatsächlich einem Linguisten als authentisch genügt, das sich aber zumindest in meinen Ohren ausgesprochen angenehm anhörte. Statt aber Shakespeare oder Marlowe zu deklamieren, haben unsere Helden – eine anfangs siebenköpfige Familie, bestehend aus Mutter, Vater, halbwüchsiger Tochter, noch halbwüchsigerem Sohn, einem vielleicht fünfjährigen Zwillingspaar, und einem Säugling – mit viel grundlegenderen Problemen zu kämpfen: Nachdem die Familie, aus welchen Gründen auch immer, von ihrer Siedlung aus in die öde Wildnis verstoßen worden ist, errichtet man sich dort eine kleine Ziegenfarm, und beschließt, im Vertrauen auf Gott, den Fährnissen zu trotzen, und ein frommes Leben nach der Bibel zu führen. Die Wetter sind rau, die Felder geben weniger her als gedacht, und dann verschwindet eines Tages das jüngste Familienmitglied spurlos, und zwar direkt vor den Augen der ältesten Tochter. Damit ist aber nur ein erstes Ereignis einer ganzen Kette losgetreten, die die vermeintliche Freiheit unter Gottes Himmel allmählich in einen Zustand äußerster Klaustrophobie verwandeln wird. Passend dazu hält Regisseur Robert Eggers sein Debut in entsättigten Farben. Es dominierten Schwarz- und Grautöne, gearbeitet wird mitunter mit äußerst unvorteilhaften Lichtverhältnissen, die gerade das Interieur der schlichten Wohnhütte, selbst ganz ohne die übernatürlichen Eingriffe, die später noch folgen werden, schon gleich zu Beginn zu einem Schauplatz machen, der aus der Feder Goyas hätte tröpfeln können, und den Wald ebenfalls sehr früh, noch bevor von der titelgebenden Hexe auch nur ein Besenstiel zu sehen ist, in eine bedrohliche Masse aus Holz, Blättern und vor allem Schatten, in denen per se alles lauern kann.
Das lauert natürlich dann auch. Die in mancher Kritik zu lesende Behauptung, THE VVITCH könne auch psychoanaly-tisch decodiert werden, wodurch sämtliche Spukerscheinungen, denen unsere Familie in den nächsten eineinhalb Stunden ausgesetzt sind, prinzipiell auch in Phantasmagorien unserer gebeutelten Familie umzudeuten wären, kann ich für meinen Teil kaum bis gar nicht unterschreiben. THE VVITCH ist, seinem Untertitel folgend, ein Volksmärchen – und zwar eins voller permeabel werdender Grenzlinien zwischen Vernunft und Wahn, zwischen Subjekt und Objekt, und zwischen Physik und Metaphysik, das am besten um Glock zwölf an einem prasselnden Lagerfeuer erzählt, oder eben in einem halbvollen Kino betrachtet wird. Positiv ist anzumerken: So sehr Eggers in klassischem Schauerromanrepertoire, in Volksgut, in altbekannten Grusel-Versatzstücken wildert – manche Szene könnte tatsächlich von Goya stammen, von Hans Baldung Grien, von Luis Ricardo Falero -, so sehr hält er sich auch weitgehend mit den Knalleffekten zurück, die das Horrorkino im derzeitigen Jahrtausend zu gefühlten neunundneunzig Prozent konstituiert. Viel dezenter als die von mir aufgezählten Maler vergangener Jahrhunderte möchte Eggers seinem Publikum offenbar wirklich mehr ein Frösteln verschaffen als es mit plakativen Effekten erschlagen: Wenn das Sound-Design anschwillt, dann Hand in Hand mit den Bildern, und nicht, um die Bilder mit Emotionen vollzupumpen, die nicht in ihnen angelegt sind, und wenn es Blut sudelt, dann selten exploitativ, und sowieso ist es dem Film wichtiger, mich mit angeblich Kinderohren schlimme Dinge zuflüsternden schwarzen Ziegenböcken, mit unheimlichen Lauten aus dem Forst oder mit solchen wohlig-schaurigen Bildern wie einem halb mit dem Wald verwachsenen Hexenhaus mitten in demselben zu verstören. Wenn der älteste Sohn sich - ich bestehe darauf, dass das ein SHINING-Querverweis ist - einer wunderschönen Frau nähert, erklingt dazu ein Soundgemisch, als würden gleich Kubricks Affen ihre Tatzen auf den Monolith legen, und wenn die Kamera einmal mehr einfach nur in der Schönheit einer Menge Bäume schwelgt, die von der Nacht verschlungen wird, dann sind, was die hohen Frauenchöre angeht, auch die knallbunten Flure einer Freiburger Ballettschule zumindest akustisch keinen Raubkatzensprung entfernt.
Verwöhnt mit Reminiszenzen an Ligeti und Goblin, mit zugleich beklemmenden wie lyrischen Bildern, mit Schauspielern, denen ich jede Silbe abkaufe – vor allem Anya Taylor-Joy als vermeintliche Teufelsbuhlin Thomasin sei hier hervorgehoben! -, mit einem Drehbuch, das sich viel Zeit lässt, niemals vorschnell aus der Hüfte feuert, und eine ansprechende Balance findet zwischen Vagheit und Präzision, was hat mich unterm Strich dann doch an THE VVITCH gestört? Es sind Details, aber trotzdem, sie müssen sein: Die paar Szenen, in denen es dann doch härter zur Sache geht, hätte Eggers sich für mich getrost sparen können – zumal die Großaufnahmen, die die Gewalt schließlich doch ansatzweise zur Schau stellen. Das hat dieser Film genauso wenig nötig wie die an manchen Stellen ebenfalls doch ein bisschen zu sehr in den Vordergrund gespielte Klangkulisse. Gerade auch vom Schnitt hätte ich mir oftmals eine noch ein bisschen langsamere Gangart gewünscht. Freilich, es muss nicht gleich Tarr oder Tarkowskij sein - obwohl, die Vorstellung ist reizvoll, wie das ausgesehen hätte: Bela Tarrs THE VVITCH! -, doch, glaube ich, hätte dem Film es nicht schlechtgetan, noch ein wenig mehr in den Arthouse-Bereich hinein zu lehnen, und ein paar Einstellungen aus dem Ärmel zu schütteln, deren Laufzeit über die Aufmerksamkeitsspanne eines normalen Kinogängers hinausreicht. Über das Finale, diese ANTICHRIST-Pointe für verzärtelte Gemüter, kann man geteilter Meinung sein – und ist es auch -, ich mochte es in etwa genauso wie die reine Präsenz eines teuflischen, sprechenden Ziegenbocks und die Szenen, in denen ein gewöhnlicher Feldhase nur mit dem Näschen zu schnüffeln braucht, und schon fängt mir das Herz an zu klopfen.
Alles in allem finde ich wenige den Gesamteindruck störende borstige Ziegenbockhaare in diesem Film, von dem ich es zwar auch für übertrieben finde, ihn als einen der überwältigendsten Genrefilme der letzten Jahre zu bezeichnen – dafür ist er mir dann doch noch zu konventionell: und das meine ich ganz und gar nicht auf seine Story bezogen, die, einer Folktale gemäß, schlicht und stringent daherkommt, sondern allein auf seine technische Seite -, ihm aber gerade auch wegen des Erstsichtungs-Settings (und dem darauffolgenden Nachhauseweg: oh mein Herz...) als fulminante Überraschung für meine Gänsehäute von diesen absolut empfehlen kann: So im besten Sinne altmodisch haben mir in den letzten Jahren wenige Filme das Fürchten gelehrt.