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Making Of - Nouri Bouzid (2006)

Verfasst: Do 11. Mai 2017, 10:48
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Akher film

Produktionsland: Tunesien 2006

Regie: Nouri Bouzid

Darsteller: Lofti Abdelli, Nouri Bouzid, Afef Ben Mahmoud, Fatima Ben Saidane, Lofti Dziri, Helmi Dridi
Nachdem es die letzte Zeit den Anschein hatte, ich würde mir nur noch Satanismus-Pornos aus den 70ern anschauen, tue ich heute mal wieder etwas für meine Reputation, und bespreche - seriös wie man nur sein kann! - ein tunesisches Arthouse-Drama von 2006... ;-)
Kürzlich hatte mich RIH ESSED, der Debut-Spielfilm des tunesischen Regisseurs Nouri Bouzid von 1986, nicht schlecht staunen lassen: Ein Jugend- bzw. coming-of-age-Drama, das sich – wohlgemerkt innerhalb einer islamisch geprägten Gesellschaft! – ehrlich, wenn nicht sogar schonungslos, mit Tabu-Themen wie (unterdrückter) Homosexualität, Kindesmissbrauch, Zwangsehen, Alkoholsucht und vor allem der Zerrissenheit junger Menschen zwischen der traditionellen Lebensweise ihrer Eltern und den zunehmend auf sie einstürmenden Moden, Ideen und Verlockungen des Westens, das war nun, zugegebenermaßen, nicht wirklich das, was ich von einem nordafrikanischen Spielfilm Mitte der 80er erwartet hatte – zumal RIH ESSED, wie in meiner dortigen Kritik bereits erwähnt, viele Fehler, in die der Film unter den Händen eines weniger reflektierten Regisseurs, klug umschifft, und weniger auf die Karte des Melodramas setzt, sondern vielmehr eine neutrale Position einnimmt, von der aus es kein Richtig oder Falsch gibt, und es letztlich dem jeweiligen Zuschauer selbst überlassen bleibt, sich einen Reim auf die Gesellschaftsbestandsaufnahme zu machen. In der Zwischenzeit habe ich mir ein wenig Wissen bezüglich Nouri Bouzid angelesen: Studiert hat der 1945 geborene Tunesier an einer Filmhochschule in Brüssel, wo er 1972 mit dem scheinbar später niemals irgendwo zugänglich gemachten Kurzfilm DUEL seinen Abschluss macht. Zurück in seiner Heimat arbeite er fürs Fernsehen, und schließt sich der, je nach Quelle, linken, wenn nicht sogar linksradikalen „Groupe d’Etude et d’Action Socialiste Tunisian“ an. 1974 wegen staatsfeindlicher Umtriebe verhaftet, verbringt er die nächsten fünf Jahre hinter Gittern – nicht selten, laut eigener Aussage, konfrontiert mit Folter und Lebensgefahr.

In gewisser Weise reflektiert sein siebter Spielfilm AKHIR FILM von 2006 diesen autobiographischen Radikalisierungsprozess – nur eben aus diametral entgegengesetzter Perspektive: Bahta ist fünfundzwanzig, leidenschaftlicher Breakdancer in der tunesischen Hauptstadt, vertreibt sich die Zeit mit Gelegenheitsjobs, seiner Clique aus Tänzern und Graffiti-Sprayern und Träumen nach dem Westen. Er will nämlich, wie viele andere auch, nach Europa auswandern, so bald wie möglich, ins Land, wo Milch und Honig fließt, nur das Geld fehlt ihm dafür. Erneut sind es zunächst genau die Themenfelder, die bereits RIH ESSED beackert hat – wobei der Unterschied, dass zwischen beiden Filmen zwei Dekaden liegen, gar nicht allzu sehr ins Gewicht fällt. Auch die Generation Bahtas ist einerseits beeinflusst von US-amerikanischer Mode und Musik, andererseits verhaftet in einem patriarchalisch-archaischen Verständnis von Geschlechterrollen und Gesellschaftsstruktur, vor allem aber recht wahllos oszillierend zwischen diesen beiden Polen bzw. Kulturen. Bahtar als James Dean des Maghreb baut dementsprechend am laufenden Band Mist, stibitzt zum Beispiel die Polizeiuniform seines Cousins, um als falscher Beamter durch die Stadt zu streifen, bringt knapp bekleidete Damen mit nach Hause, um sie seinem Großvater vorzustellen, wiegelt die Autoritäten gegen sich auf, weil er immer wieder öffentliche Mauern und Unterführungen mit seinen Graffitis schmückt. Eines Tages kocht das Fass über, und Bahtar muss über die Dächer seiner Heimatstadt vor einem aufgebrachten Mob fliehen, der seine Familie für die von ihm begangenen Eulenspiegeleien zur Rechenschaft ziehen möchte. Am Hafen lernt er zwei Männer kennen, die ihm das Angebot machen, ihm einen Job zu verschaffen, draußen auf dem Land, wo er bleiben könne bis die erhitzten Gemüter seiner Verwandtschaft und Nachbarschaft sich beruhigt hätten. Was Bahtar nicht ahnt: Die beiden Herren sind im Auftrag einer islamistischen Gruppierung unterwegs, um halt- und ziellose junge Männer für den Djihad zu gewinnen. Folgerichtig wird Bahtar bei einem alten Steinmetz einquartiert, dessen Alltag das genaue Gegenteil von dem vergleichsweisen freien, unangepassten Leben ist, das unser Held bislang zu führen gewohnt war: Seine Frau trägt streng den Hidschāb, im Haus darf nicht geflucht, nicht mal an Sex gedacht werden, im Fernsehen laufen Aufrufe zum bewaffneten Kampf gegen die westlichen Invasoren, von denen kurz zuvor Sadam Hussein entmachtet worden ist. Unbedarft wie Bahtar nun mal ist, wird er schnell Feuer und Flamme für die Religion, an die er bisher kaum einen Gedanken verschwendet hat. Er beginnt zu fasten, studierte nächtelang den Koran, fragt seinen Ziehvater schließlich offen heraus, ob es denn nicht möglich sei, dass er sein Leben für den Islam gebe, immerhin würden ihn dann doch die Jungfrauen des Paradieses erwarten, und es sei doch die höchste Gnade, die einem in diesem Leben zuteilwerden könne, wenn man sich selbst für Allah opfere…

Bis hierher liest sich AKHIR FILM, nehme ich an, wie eine recht stringente, hochaktuelle Geschichte, die sich inzwischen zu jedem Zeitpunkt überall auf der Welt ereignen könnte: Ein junger Mann gerät unter den Einfluss von Islamisten, die ihn zum Terroristen ausbilden, und endet instrumentalisiert als menschliche Bombe auf irgendeinem Marktplatz, in irgendeinem Bus, Flugzeug oder Kaufhaus. In seinem gewohnt äußerst realistischen, nahezu schmucklosen Inszenierungsstil schafft es Bouzid, sowohl einen erhellenden Einblicke in den Zustand der tunesischen Gesellschaft an der Schwelle zum einundzwanzigsten Jahrhundert zu liefern, der mit Bezügen zur aktuellen politischen Lage nicht geizt – zu nennen wäre hier vor allem die Szene zu Beginn, wenn Bahtar gemeinsam mit Freunden und einer Gruppe älterer Herren im örtlichen Teehaus den Fernsehbildern vom kollektiven Zerstören von Hussein-Standbildern im Irak zuschaut, an die ich mich selbst noch ziemlich gut erinnere, und die darauffolgende Diskussion zwischen den Generationen, wie man auf den Ausgang des Dritten Golfkrieges denn nun reagieren solle -, als auch ein mehrbödiges Portrait des großartig von Lofti Abdelli verkörperten Bahtar zu zeichnen, bei dem es nicht schwerfällt, allein anhand seiner psychischen Verfasstheit den Weg nachzuzeichnen bzw. zu verstehen, der ihn – auch rein optisch! – vom Breakdancer über den gläubigen Muslim bis hin zum opferbereiten (Selbst-)Mörder führt. Schonungslos ist hierbei möglicherweise auch der Begriff, der AKHIR FILM, erneut, am besten umschreibt. Wenn gegen Ende der mental bereits verstörend instabile Bahtar von seinen „Ausbildern“ in einem verlassenen Gebäude eingesperrt und einzig sporadisch mit Nahrung und Wasser versorgt wird, was ihn wohl endgültig zur „Kampfmaschine“ transformieren soll, dann ist das ein ebenso eindrucksvolles Zeichen von der Bouzid eigenen Kompromisslosigkeit wie die – für den arabischen Blick wohl ungemein kontroverse – Szene, in der Bahtar unter der Dusche onaniert oder sein Abschied von der Frau seines Ziehvaters, der beinahe so etwas birgt wie eine zarte, metaphysische Erotik.

Gewissermaßen ist somit auch AKHIR FILM ein klassisches coming-of-age-Drama. Bahtar, für den es zu Beginn keine schlimmere Schmach gibt, als wenn seine Freunde ihm seine Männlichkeit absprechen, entwickelt sich sukzessive vom Lausbuben zum Mann, zugleich aber vom sorglos in den Tag hineinlebenden Tänzer zum Gotteskrieger. Ebenso entwickelt sich – und das ist, wie ich finde, die eigentliche Qualität von AKHIR FILM – aber auch Bouzids eigener Film vor unseren Augen. Wir sind etwa eine Dreiviertelstunde im Film, und Bahtar beginnt gerade, sich in den orthodoxeren Auslegungen des Korans zu verlieren, als es seinem Darsteller, Lofti Abdelli, plötzlich reicht, und er Bouzid mit dem Vorwurf konfrontiert, dass das doch ein Film über einen Tänzer werden solle, und keiner über einen Terroristen. Auf einmal enthüllt sich das Haus des greisen Steinmetz für uns als Film-Set. Überall sind Kameras, Leuchten, Techniker. Bouzid selbst tritt aus dem Schatten und beginnt, seinen Hauptdarsteller wortreich zum Weiterdrehen zu bewegen. In grobkörnigen, überbelichteten Bildern wird exakt dreimal die vierte Wand auf diese Weise durchbrochen. Immer ist es Lofti, der Worte der Kritik an Bouzid richtet: Dass AKHIR FILM als Beschmutzung des Islams verstanden werden könne, dass AKHIR FILM eine Handlung erzähle, die sich so in Tunesien gar nicht zutragen würde können, dass AKHIR FILM ein Film-Monster sei, das sie beide verschlingen würde. Immer ist es Bouzid der ruhig und gemessen erklärt, dass Lofti ihm vertrauen solle, er wisse, was er tue, und er habe nicht vor, irgendeine Religion zu beschmutzen, er wolle nur sein laizistisches Weltbild vertreten, seinen Glauben, dass Religion und Staat getrennt sein müssten, dass es keinen Freiheitskampf im Namen einer Religion geben dürfe, dass er ihm, noch einmal, vertrauen solle. Durch diese freilich bereits im Titel angedeutete selbstreflexive Ebene wird AKHIR FILM letztlich zu wesentlich mehr als einer einfachen Fabel über religiöse Radikalisierung, den Verlust der Unschuld, die Manipulationen der Macht. Stattdessen verortet Bouzid sein kleines Meisterwerk in einem Bereich zwischen Konstitution und Dekonstruktion: AKHIR FILM ist ein Film, etwa zwei Stunden lang, mit einem klaren Plot, Figuren, Dialogen. AKHIR FILM ist aber auch die Versuchsanordnung eines Films, ein permanentes Grübeln darüber, wie denn ein solcher Film aussehen kann, muss, darf, um von den Falschen nicht richtig und den Richtigen nicht falsch verstanden zu werden. Einziger Wermutstropfen: Dass Bouzid seinen Film in der Fiktion enden lässt, und im Final nicht doch noch einmal als Puppenspieler im Hintergrund selbst in Erscheinung tritt, was das Werk, wie ich finde, noch einmal die eine oder andere Meta-Ebene hätte höherrücken lassen können. Dennoch: So klug, selbstkritisch, bewusst ist vielleicht noch nie in einem Spielfilmkontext von islamischem Terrorismus erzählt worden, und wenn er es mit RIH ESSED noch nicht geschafft haben sollte, dann ist Nouri Bouzid spätestens mit vorliegendem Werk zu dem für mich wichtigsten Exponenten des Maghreb-Kinos geworden.