They Do Not Exist - Mustafa Abu Ali (1974)
Verfasst: Mi 31. Mai 2017, 16:33
Originaltitel: Laysa Lahum Wujud
Produktionsland: Palästina 1974
Regie: Mustafa Abu Ali
Darsteller: Einwohner des Nabiata-Flüchtlingslagers im Südlibanon
In einem Interview mit der Sunday Times vom 15. Juni 1969 erklärt Golda Meir: „There were no such thing as Palestinians. When was there an independent Palestinian people with a Palestinian state? It was either southern Syria before the First World War, and then it was a Palestine including Jordan. It was not as though there was a Palestinian people in Palestine considering itself as a Palestinian people and we came and threw them out and took their country away from them. They did not exist.“ Mustafa Abu Alis knapp fünfundzwanzigminütigen Film LAYSA LAHUM WUJUD von 1974 muss man, allein aufgrund seines Titels, als direkte Reaktion auf diese Aussage der damaligen Ministerpräsidentin Israels verstehen.
Geboren 1940 in Maliha, Palästina, studiert Abu Ali zunächst Film an der Berkeley-University, später in London, wo er 1968 seinen Abschluss macht. Bald schon, nämlich 1973, gehört er zu den Begründern eines genuin Palästinensischen Kinos, das, wenig verwunderlich, eng verknüpft ist mit der kurz zuvor ins Leben gerufenen PLO. Ebenfalls wenig verwundert vielleicht, dass Ali Abu später für kurze Zeit zum Weggefährten Jean-Luc Godards werden sollte – wohlgemerkt eines Godards, der sich zu diesem Zeitpunkt schon seit beinahe einer Dekade vom kommerziellen Filmbetrieb abgewendet hat, und unter der Prämisse, keine politischen Filme, sondern Politik mittels Filme zu machen, am Aufbau der kinematographischen Infrastruktur der sogenannten Dritten Welt arbeitet. Es ist die gleiche Kamera, mit der Godard, Anne-Marie Miévielle und Jean-Pierre Gorin 1976 die Dokumentation ICI ET AI über die Diskrepanzen und Kongruenzen zwischen einer französischen und einer palästinensischen Familie drehen, die Abu Ali bereits zwei Jahre zuvor für LAYSA LAHUM WUJUD verwendet hat.
Noch heute wird Godard von mancher Seite sein politisches Engagement in den 70er Jahren – oder, um konkret zu sein: Seine Solidarisierung mit der PLO – nachgetragen. Berühmt-berüchtigt ist ein Auftritt im ZDF Anfang der 70er, bei dem er ein Bild in die Kamera hält, auf dem Davidstern und Hakenkreuz per Überblendung miteinander verschmelzen. Darüber zu lesen: NAZISRAEL. Das Geld, erklärt Godard, das er für dieses Interview, (das doch eher ein Monolog ist), erhält, wird komplett in den Kampf gegen das kapitalistisch-zionistische System fließen. Für den Godard der 70er ist klar: Der Konnex zwischen Israel und der US-amerikanischen bzw. britischen Finanzoligarchie führt zu einer Umverteilung etablierter Rollen. An die Stelle Hitlers tritt nun der neugegründete Nahost-Staat, an die Stelle der Juden das Palästinensische Volk. Noch in NOTRE MUSIQUE von 2004 kann man zwischen den Zeilen bzw. Bildern herauslesen, dass sich an dieser Ansicht nicht viel geändert hat.
Godard, über den ich eigentlich gar nicht habe schreiben wollen, ist ein französischer Intellektueller, ein, könnte man sagen, Außenstehender. Bei Ali Abu Mustafa sieht das schon anders aus, wie nicht zuletzt vorliegender Film über das Bombardement des Nabatia-Flüchtlingscamps im Südlibanon zwischen Mai und Juni 1974 durch die Israelische Luftwaffe beweist. Natürlich ist LAYSA LAHUM WUJUD kein Film, der beide Seite des Konflikts zu Wort kommen lässt. Natürlich ist der Film nicht unparteiisch. Natürlich hält Abu Mustafa mit seiner Verzweiflung, seiner Wut, seiner Trauer, seiner Bereitschaft zur Aktion kein bisschen hinterm Berg. Allein dieses Kontextwissen macht es aber möglich, LAYSA LAHUM WUJUD noch viel leichter aus einer distanzierten Reflexionshaltung heraus zu betrachten als einen beliebigen Hollywood-Film, der seine Propaganda in hübschen Bildern, säuselnder Musik und banalen Geschichten versteckt.
In LAYSA LAHUM WUJUD ist eigentlich nichts hübsch, säuselnd oder banal. Der Film – bzw. die heute noch erhaltene Fassung, die man 1982 nach der Israelischen Invasion Beiruts (metaphorisch wie tatsächlich) aus dessen Ruinen geborgen hat und bei der leider etwa die letzte Minute fehlt – besteht aus neun Segmenten. (1) Impressionen des Nabiata-Lagers. Frauen hängen Wäsche auf. Kinder spielen in den Straßen. Ein älterer Mann und ein kleiner Junge essen Eis. Alles wie im Frieden, könnte man denken. Ein kleines Mädchen schreibt einen Brief an seinen Bruder. Schon immer wollte sie so mutig sein wie er. Ein Bekannter besucht ihre Familie, nimmt einige Lebensmittel und Wasser in Empfang. Ebenso den Brief. (2) Impressionen des PLO-Kommandos Abu Alabeed. Ein Palästinensisches Lied erklingt von der Tonspur. Mein verlorenes Land, Land meiner Vorväter. Der Bekannte von eben betritt das Zeltlager. Lebensmittel, Wasser ist für die Guerillas bestimmt. Auch der Brief. Der Bruder des Mädchens liest ihren Brief. Auch ein anderer Mann liest einen Brief, verfasst von einem Mädchen, das er gar nicht kennt. Sie heiße Aida Al Shaikh, sei zehn Jahre alt, und lebe ebenfalls im Nabiata-Camp. Ihr Vater sei Schneider, und ursprünglich stammen sie aus Palästina, aus dem Norden, Cabri heißt die Stadt. Zigaretten liegen bei. Nur das Beste für euch, denn ihr opfert eure Leben für Palästina. (3) Ein Mann – Mustafa Ali Abu selbst? – liest eine Erklärung frontal vor der und direkt in die Kamera. Die Imperialisten werden, sagt er, jedes Verbrechen begehen, wenn es darum geht, ihre Interessen zu schützen – das beweisen zahllose historische Dokumente. Was folgt ist eine lange Reihe von Namen auf Texttafeln, jeweils überblendet mit dem Ausruf Genocide! Vietnam, Südafrika, Mozambique, die Nazi-Massaker. (4) Originalaufnahmen des Nabiata-Bombardements. Ein Höllenlärm. Bomben, Zerstörung, Tod. Dann: Ein wunderschönes Bach-Violinkonzert. Die Luftwaffe rüstet zum Start, prallvoll mit Munition. Wie Schüsse knallt mehrmals das oben genannte Zitat Meirs in die Leinwand hinein. (5) ¾ des Lagers sind zerstört. Die Stille danach ist eigentlich noch ohrenbetäubender. Eine ganze Siedlung liegt in Schutt und Asche. (6) Pressekonferenz nach dem Bombardement. Auf die Aggressionen Israels antworten die Palästinenser mit aufrührerischer Entschlossenheit. Niemals werden sie das Töten ihrer Kinder durch moderne US-Waffen hinnehmen. Noch mehr Kampf ist erforderlich. (7) Statement eines Einwohners der Stadt Nabiata. Vierzig bis fünfzig Flugzeuge seien es gewesen. Viele Menschen seien zur Hilfe ins Lager geeilt, und dort ebenfalls getötet worden. (8) Statements versehrter Bewohner des Nabiata-Lagers. Eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, schwört auf sein Photo, ihn zu rächen, während seine Geschwister in ihrem Schoß oder um sie herum sitzen, und betroffen oder verwirrt in die Kamera schauen. Ein Mann hat auf den Feldern gearbeitet, hört den Bombenalarm, eilt nach Hause, und findet sein Haus als Trümmerhaufen vor. Ein anderer Mann ereifert sich darüber: Er muss in einem Flüchtlingscamp leben, eins, das zudem jetzt zerstört sei, und ein Israeli lebe in seinem Haus, in seiner Heimat. (9) Der Kreis schließt sich, und der PLO-Kämpfer, der einen Brief von Aida erhalten hat, antwortet ihr. Was für eine Verschwendung ohne Tagen, schreibt er, ohne Lieben, ohne Geliebt-Werden.
LAYSA LAHUM WAHUD ist ein ergreifendes Zeitdokument – nicht nur für den nun, über vierzig Jahre später, noch immer nicht beigelegten Konflikt zwischen Israel und Palästina, sondern, aus filmhistorischer Sicht, vor allem auch für die spezifische Art und Weise, mit der (links-)politische Filmemacher und Filmemacherinnen seit den 60ern in halb-dokumentarischer, halb-essayistischer, halb-narrativer Form Agitation mit Aktualität zu verbinden suchten. Dabei erweist sich die Unterteilung des Films in oben aufgezählte Segmente – manches davon eher narrativ, ein anderes rein dokumentarisch, eins die Meinung eines Individuums, eins die Meinung einer gesamten Nation – als besonders geeignet dafür, ein Wechselbad der Stilmittel, der Emotionen, der Perspektiven zu evozieren, die LAYSA LAHUM WAHUD nie den Fallstricken allzu plumper Propaganda ins Netz gehen lassen. Wer auch nur ein bisschen etwas mit der Film-Politik eines Godards anfangen kann, sei hiermit weitergeleitet an den wohl noch schmuckloseren, herberen, unbeschwerter von intellektuellem Ballast schweifenden Blick eines Mustafa Abu Ali.
Geboren 1940 in Maliha, Palästina, studiert Abu Ali zunächst Film an der Berkeley-University, später in London, wo er 1968 seinen Abschluss macht. Bald schon, nämlich 1973, gehört er zu den Begründern eines genuin Palästinensischen Kinos, das, wenig verwunderlich, eng verknüpft ist mit der kurz zuvor ins Leben gerufenen PLO. Ebenfalls wenig verwundert vielleicht, dass Ali Abu später für kurze Zeit zum Weggefährten Jean-Luc Godards werden sollte – wohlgemerkt eines Godards, der sich zu diesem Zeitpunkt schon seit beinahe einer Dekade vom kommerziellen Filmbetrieb abgewendet hat, und unter der Prämisse, keine politischen Filme, sondern Politik mittels Filme zu machen, am Aufbau der kinematographischen Infrastruktur der sogenannten Dritten Welt arbeitet. Es ist die gleiche Kamera, mit der Godard, Anne-Marie Miévielle und Jean-Pierre Gorin 1976 die Dokumentation ICI ET AI über die Diskrepanzen und Kongruenzen zwischen einer französischen und einer palästinensischen Familie drehen, die Abu Ali bereits zwei Jahre zuvor für LAYSA LAHUM WUJUD verwendet hat.
Noch heute wird Godard von mancher Seite sein politisches Engagement in den 70er Jahren – oder, um konkret zu sein: Seine Solidarisierung mit der PLO – nachgetragen. Berühmt-berüchtigt ist ein Auftritt im ZDF Anfang der 70er, bei dem er ein Bild in die Kamera hält, auf dem Davidstern und Hakenkreuz per Überblendung miteinander verschmelzen. Darüber zu lesen: NAZISRAEL. Das Geld, erklärt Godard, das er für dieses Interview, (das doch eher ein Monolog ist), erhält, wird komplett in den Kampf gegen das kapitalistisch-zionistische System fließen. Für den Godard der 70er ist klar: Der Konnex zwischen Israel und der US-amerikanischen bzw. britischen Finanzoligarchie führt zu einer Umverteilung etablierter Rollen. An die Stelle Hitlers tritt nun der neugegründete Nahost-Staat, an die Stelle der Juden das Palästinensische Volk. Noch in NOTRE MUSIQUE von 2004 kann man zwischen den Zeilen bzw. Bildern herauslesen, dass sich an dieser Ansicht nicht viel geändert hat.
Godard, über den ich eigentlich gar nicht habe schreiben wollen, ist ein französischer Intellektueller, ein, könnte man sagen, Außenstehender. Bei Ali Abu Mustafa sieht das schon anders aus, wie nicht zuletzt vorliegender Film über das Bombardement des Nabatia-Flüchtlingscamps im Südlibanon zwischen Mai und Juni 1974 durch die Israelische Luftwaffe beweist. Natürlich ist LAYSA LAHUM WUJUD kein Film, der beide Seite des Konflikts zu Wort kommen lässt. Natürlich ist der Film nicht unparteiisch. Natürlich hält Abu Mustafa mit seiner Verzweiflung, seiner Wut, seiner Trauer, seiner Bereitschaft zur Aktion kein bisschen hinterm Berg. Allein dieses Kontextwissen macht es aber möglich, LAYSA LAHUM WUJUD noch viel leichter aus einer distanzierten Reflexionshaltung heraus zu betrachten als einen beliebigen Hollywood-Film, der seine Propaganda in hübschen Bildern, säuselnder Musik und banalen Geschichten versteckt.
In LAYSA LAHUM WUJUD ist eigentlich nichts hübsch, säuselnd oder banal. Der Film – bzw. die heute noch erhaltene Fassung, die man 1982 nach der Israelischen Invasion Beiruts (metaphorisch wie tatsächlich) aus dessen Ruinen geborgen hat und bei der leider etwa die letzte Minute fehlt – besteht aus neun Segmenten. (1) Impressionen des Nabiata-Lagers. Frauen hängen Wäsche auf. Kinder spielen in den Straßen. Ein älterer Mann und ein kleiner Junge essen Eis. Alles wie im Frieden, könnte man denken. Ein kleines Mädchen schreibt einen Brief an seinen Bruder. Schon immer wollte sie so mutig sein wie er. Ein Bekannter besucht ihre Familie, nimmt einige Lebensmittel und Wasser in Empfang. Ebenso den Brief. (2) Impressionen des PLO-Kommandos Abu Alabeed. Ein Palästinensisches Lied erklingt von der Tonspur. Mein verlorenes Land, Land meiner Vorväter. Der Bekannte von eben betritt das Zeltlager. Lebensmittel, Wasser ist für die Guerillas bestimmt. Auch der Brief. Der Bruder des Mädchens liest ihren Brief. Auch ein anderer Mann liest einen Brief, verfasst von einem Mädchen, das er gar nicht kennt. Sie heiße Aida Al Shaikh, sei zehn Jahre alt, und lebe ebenfalls im Nabiata-Camp. Ihr Vater sei Schneider, und ursprünglich stammen sie aus Palästina, aus dem Norden, Cabri heißt die Stadt. Zigaretten liegen bei. Nur das Beste für euch, denn ihr opfert eure Leben für Palästina. (3) Ein Mann – Mustafa Ali Abu selbst? – liest eine Erklärung frontal vor der und direkt in die Kamera. Die Imperialisten werden, sagt er, jedes Verbrechen begehen, wenn es darum geht, ihre Interessen zu schützen – das beweisen zahllose historische Dokumente. Was folgt ist eine lange Reihe von Namen auf Texttafeln, jeweils überblendet mit dem Ausruf Genocide! Vietnam, Südafrika, Mozambique, die Nazi-Massaker. (4) Originalaufnahmen des Nabiata-Bombardements. Ein Höllenlärm. Bomben, Zerstörung, Tod. Dann: Ein wunderschönes Bach-Violinkonzert. Die Luftwaffe rüstet zum Start, prallvoll mit Munition. Wie Schüsse knallt mehrmals das oben genannte Zitat Meirs in die Leinwand hinein. (5) ¾ des Lagers sind zerstört. Die Stille danach ist eigentlich noch ohrenbetäubender. Eine ganze Siedlung liegt in Schutt und Asche. (6) Pressekonferenz nach dem Bombardement. Auf die Aggressionen Israels antworten die Palästinenser mit aufrührerischer Entschlossenheit. Niemals werden sie das Töten ihrer Kinder durch moderne US-Waffen hinnehmen. Noch mehr Kampf ist erforderlich. (7) Statement eines Einwohners der Stadt Nabiata. Vierzig bis fünfzig Flugzeuge seien es gewesen. Viele Menschen seien zur Hilfe ins Lager geeilt, und dort ebenfalls getötet worden. (8) Statements versehrter Bewohner des Nabiata-Lagers. Eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat, schwört auf sein Photo, ihn zu rächen, während seine Geschwister in ihrem Schoß oder um sie herum sitzen, und betroffen oder verwirrt in die Kamera schauen. Ein Mann hat auf den Feldern gearbeitet, hört den Bombenalarm, eilt nach Hause, und findet sein Haus als Trümmerhaufen vor. Ein anderer Mann ereifert sich darüber: Er muss in einem Flüchtlingscamp leben, eins, das zudem jetzt zerstört sei, und ein Israeli lebe in seinem Haus, in seiner Heimat. (9) Der Kreis schließt sich, und der PLO-Kämpfer, der einen Brief von Aida erhalten hat, antwortet ihr. Was für eine Verschwendung ohne Tagen, schreibt er, ohne Lieben, ohne Geliebt-Werden.
LAYSA LAHUM WAHUD ist ein ergreifendes Zeitdokument – nicht nur für den nun, über vierzig Jahre später, noch immer nicht beigelegten Konflikt zwischen Israel und Palästina, sondern, aus filmhistorischer Sicht, vor allem auch für die spezifische Art und Weise, mit der (links-)politische Filmemacher und Filmemacherinnen seit den 60ern in halb-dokumentarischer, halb-essayistischer, halb-narrativer Form Agitation mit Aktualität zu verbinden suchten. Dabei erweist sich die Unterteilung des Films in oben aufgezählte Segmente – manches davon eher narrativ, ein anderes rein dokumentarisch, eins die Meinung eines Individuums, eins die Meinung einer gesamten Nation – als besonders geeignet dafür, ein Wechselbad der Stilmittel, der Emotionen, der Perspektiven zu evozieren, die LAYSA LAHUM WAHUD nie den Fallstricken allzu plumper Propaganda ins Netz gehen lassen. Wer auch nur ein bisschen etwas mit der Film-Politik eines Godards anfangen kann, sei hiermit weitergeleitet an den wohl noch schmuckloseren, herberen, unbeschwerter von intellektuellem Ballast schweifenden Blick eines Mustafa Abu Ali.