Raw - Julia Ducournau (2016)
Verfasst: Do 1. Jun 2017, 16:05
Originaltitel: Grave
Produktionsland: Frankreich 2016
Regie: Julia Ducournau
Darsteller: Garance Marillier, Ella Rumpf, Rabah Nait Oufella, Laurent Lucas, Joana Preiss
Justine wird flügge. Sie verlässt ihr streng vegetarisches Elternhaus, um Studentin an der renommierten Saint-Exupéry-Veterinärschule zu werden, wo bereits ihre Schwester Alexia, das schwarze Schaf der Familie, eingeschrieben ist. Ihr Alltag als Neuling ist gekennzeichnet von bizarren Ritualen, die die älteren Studierenden ihr und allen anderen Erstsemestern auferlegen. Wenn die angehenden Tiermediziner nicht lebende oder tote Pferde studieren bzw. sezieren, betrinken sie sich auf Neonlicht-Partys bis zur Besinnungslosigkeit, müssen befremdliche "Mutproben" absolvieren wie öffentlichen Sex oder das Kriechen auf allen Vieren, oder werden, wie Justine, heimgesucht von lange in ihrer Psyche verschlossen gehaltenen Ungeheuern: Es ist ein Stück Fleisch, das Justine vor den Augen ihrer Kommilitonen - und forciert von der eigenen Schwester! - in der Mensa herunterschlucken muss. Zwar erbricht sie es gleich darauf, doch es dauert nicht lange bis ihr Körper auf den ersten Kontakt mit dem, was ihm all die Jahre verwehrt worden ist, ganz eigene und eigenwillige Reaktionen entwickelt. Nicht nur, dass Justine sich fortan im Schlaf den kompletten Körper blutig kratzt, in der Kantine lässt sie immer wieder Fleisch mitgehen, das sie dann unbemerkt und voller Heißhunger verschlingt. Als Alexia in ihrer Gegenwart bei einem Unfall einen Mittelfinger verliert, stützt Justine sich auch über diesen wie ein wildes Tier her. Das ist aber nur eine von vielen weiteren Stationen auf einer Spirale der Grenzüberschreitungen, die die französische Regisseurin Julia Ducournau ihrer Protagonisten und ihrem Publikum bis zum bitteren Ende zumutet…
Grave, das heißt auf Französisch so viel wie ernst, feierlich, würdevoll, und ist damit weitgehend deckungsgleich mit dem lateinischen gravis, das allerdings noch die Bedeutungen schlimm, ekelhaft, widerlich haben kann. Umgangssprachlich kann der Franzose mit grave auch ausdrücken, dass eine Person oder eine Sache vollkommen durchgeknallt ist. Im Englischen wiederum bezeichnet grave als Adjektiv genau das Gleiche, kann aber, als Substantiv, außerdem eine Begräbnisstätte meinen. All diese Bedeutungen lassen sich in GRAVE irgendwie wiederfinden, schaffen es aber trotzdem nicht, die Essenz dieses wunderbaren Films wirklich zu fassen.
Da ich kein Etymologe bin, versuche ich es mit Querbezügen zur Filmgeschichte. GRAVE, das ist so ein Mittelding zwischen den ungestümen, weit über die Grenze zur Hardcore-Pornographie hinausschreitenden Transgressionen eines Emiliano Rocha Minters (TENEMOS LA CARNE) und den weniger experimentellen, narrativer ausgerichteten Körperdekonstruktionen einer Marina de Van (DANS MA PEAU). Ich könnte mir den Film als Doppelvorstellung mit einer ganzen Reihe außergewöhnlicher neuer Spielfilme vorstellen – zum Beispiel mit Nicolette Krebitzs WILD (weil in beiden Filmen eine junge Frau im Zentrum steht, die Gesellschaftskonventionen überschreitet, und dadurch zur Bestie wird), oder mit Achim Bornhaks DER NACHTMAHR (weil beide Filme von einer jungen Frau, halbes Kind noch, handeln, deren Auflehnen gegen das Elternhaus in einer aus der Balance geratenen Beziehung zum eigenen Körper gipfelt), oder mit Lucie Hadzihalilovics INNOCENCE (weil beide Filme im Kern coming-of-age-Dramen sind, die allerdings in einer leicht surrealen, (alp-)traumhaften Internats- bzw. Eliteuniversitätswelt angesiedelt wurden). Zugleich hat GRAVE auch einiges von Giorgios Lanthimos, denn alles, was innerhalb der Veterinärakademie geschieht, erinnert zwar durchaus an die westliche Gesellschaft des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, ist aber doch, gerade was die kulthaften Initiationsriten betrifft, immer soweit neben der Spur, dass ein subtiler Irritationseffekt entsteht, der dann im Zusammenhang mit dem recht minimalistischen Sujet ein weites Feld für Interpretationsansätze und Metapher-Decodierungen eröffnet, auf dem genügend Platz ist, dass jeder von uns seine ganz eigene Sicht darauf, was der Film uns denn nun eigentlich sagen (oder verschweigen) soll, ausstreuen kann.
Von all den aufgezählten Werken (und Meisterwerken) ist GRAVE vielleicht nicht unbedingt der Wurf mit der weitesten Reichweite, doch im Prinzip hat Ducournau, zumindest meinem Empfinden nach, vieles richtig gemacht. GRAVE kann zärtlich sein, wenn er will, aber auch ziemlich ekelerregend. Der Film ist auf eine absurde Art witzig – vor allem dann, wenn man meinen Humor teilt -, genausogut aber auch ein ernstzunehmendes, wenn auch freilich reichlich derangiertes, Jugend- bzw. Geschwisterdrama. Es gibt Elemente des (Body)Horrors, ein bisschen (feministische) Gesellschaftskritik, und mit Garance Marillier eine gar nicht genug zu lobende Hauptdarstellerin. Die Kinematographie schlägt weder zu viele Kapriolen noch kann man ihr vorwerfen, nicht doch pausenlos ästhetisch adrette - und vor allem angenehm bunte - Bilder zu produzieren.
Jedem, der einen (oder alle) der oben genannten Filme schätzt oder sogar liebt, kann ich GRAVE demnach nur wärmstens an Herz legen – auch wenn ich die Anekdote, dass bei der Premiere angeblich reihenweise Kritiker das Kino fluchtartig verlassen haben sollen, um ihre Mägen zu leeren, für einen klugen Marketing-Schachzug halte – oder aber ich bin, wie so oft, schon durch zu viele kinematographische Schlachthöfe gewatet, dass ich schon gar nicht mehr recht ermessen kann, was einem „normalen“ Kinogänger bereits übel aufstößt. Sei’s drum: Falls GRAVE hierzulande in die Kinos kommen sollte, ziehe ich mir ein Ticket.
Grave, das heißt auf Französisch so viel wie ernst, feierlich, würdevoll, und ist damit weitgehend deckungsgleich mit dem lateinischen gravis, das allerdings noch die Bedeutungen schlimm, ekelhaft, widerlich haben kann. Umgangssprachlich kann der Franzose mit grave auch ausdrücken, dass eine Person oder eine Sache vollkommen durchgeknallt ist. Im Englischen wiederum bezeichnet grave als Adjektiv genau das Gleiche, kann aber, als Substantiv, außerdem eine Begräbnisstätte meinen. All diese Bedeutungen lassen sich in GRAVE irgendwie wiederfinden, schaffen es aber trotzdem nicht, die Essenz dieses wunderbaren Films wirklich zu fassen.
Da ich kein Etymologe bin, versuche ich es mit Querbezügen zur Filmgeschichte. GRAVE, das ist so ein Mittelding zwischen den ungestümen, weit über die Grenze zur Hardcore-Pornographie hinausschreitenden Transgressionen eines Emiliano Rocha Minters (TENEMOS LA CARNE) und den weniger experimentellen, narrativer ausgerichteten Körperdekonstruktionen einer Marina de Van (DANS MA PEAU). Ich könnte mir den Film als Doppelvorstellung mit einer ganzen Reihe außergewöhnlicher neuer Spielfilme vorstellen – zum Beispiel mit Nicolette Krebitzs WILD (weil in beiden Filmen eine junge Frau im Zentrum steht, die Gesellschaftskonventionen überschreitet, und dadurch zur Bestie wird), oder mit Achim Bornhaks DER NACHTMAHR (weil beide Filme von einer jungen Frau, halbes Kind noch, handeln, deren Auflehnen gegen das Elternhaus in einer aus der Balance geratenen Beziehung zum eigenen Körper gipfelt), oder mit Lucie Hadzihalilovics INNOCENCE (weil beide Filme im Kern coming-of-age-Dramen sind, die allerdings in einer leicht surrealen, (alp-)traumhaften Internats- bzw. Eliteuniversitätswelt angesiedelt wurden). Zugleich hat GRAVE auch einiges von Giorgios Lanthimos, denn alles, was innerhalb der Veterinärakademie geschieht, erinnert zwar durchaus an die westliche Gesellschaft des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts, ist aber doch, gerade was die kulthaften Initiationsriten betrifft, immer soweit neben der Spur, dass ein subtiler Irritationseffekt entsteht, der dann im Zusammenhang mit dem recht minimalistischen Sujet ein weites Feld für Interpretationsansätze und Metapher-Decodierungen eröffnet, auf dem genügend Platz ist, dass jeder von uns seine ganz eigene Sicht darauf, was der Film uns denn nun eigentlich sagen (oder verschweigen) soll, ausstreuen kann.
Von all den aufgezählten Werken (und Meisterwerken) ist GRAVE vielleicht nicht unbedingt der Wurf mit der weitesten Reichweite, doch im Prinzip hat Ducournau, zumindest meinem Empfinden nach, vieles richtig gemacht. GRAVE kann zärtlich sein, wenn er will, aber auch ziemlich ekelerregend. Der Film ist auf eine absurde Art witzig – vor allem dann, wenn man meinen Humor teilt -, genausogut aber auch ein ernstzunehmendes, wenn auch freilich reichlich derangiertes, Jugend- bzw. Geschwisterdrama. Es gibt Elemente des (Body)Horrors, ein bisschen (feministische) Gesellschaftskritik, und mit Garance Marillier eine gar nicht genug zu lobende Hauptdarstellerin. Die Kinematographie schlägt weder zu viele Kapriolen noch kann man ihr vorwerfen, nicht doch pausenlos ästhetisch adrette - und vor allem angenehm bunte - Bilder zu produzieren.
Jedem, der einen (oder alle) der oben genannten Filme schätzt oder sogar liebt, kann ich GRAVE demnach nur wärmstens an Herz legen – auch wenn ich die Anekdote, dass bei der Premiere angeblich reihenweise Kritiker das Kino fluchtartig verlassen haben sollen, um ihre Mägen zu leeren, für einen klugen Marketing-Schachzug halte – oder aber ich bin, wie so oft, schon durch zu viele kinematographische Schlachthöfe gewatet, dass ich schon gar nicht mehr recht ermessen kann, was einem „normalen“ Kinogänger bereits übel aufstößt. Sei’s drum: Falls GRAVE hierzulande in die Kinos kommen sollte, ziehe ich mir ein Ticket.