Marseille - Angela Schanelec (2004)

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Salvatore Baccaro
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Marseille - Angela Schanelec (2004)

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Originaltitel: Marseille

Produktionsland: Deutschland 2004

Regie: Angela Schanelec

Darsteller: Maren Eggert, Emily Atef, Marie-Lou Sellem, Devid Striesow, Louis Schanelec, Alexis Loret
Wenn ich mir stichpunkartig die euphorischen Kritiken durchlese, die 2004 zur Feier von Angela Schanelecs viertem Langfilm MARSEILLE im deutschen Feuilleton erschienen sind, wirkt es im Nachgang, als sei damals im bundesdeutschen Kino eine neue Ära ausgerufen worden. Tatsächlich ist MARSEILLE der erste Film der sogenannten Neuen Berliner Schule – einer losen Vereinigung junger deutscher Filmemacher und Filmemacherinnen, denen es weniger darum geht, ausgefeilte Geschichten zu erzählen, sondern stattdessen mit dem Gestus unterkühlter Forscher an Alltagsszenarien herantreten, die jeder von uns kennt, die aber wohl die wenigsten von uns jemals in derart nüchterner, nahezu schmuckloser Weise dargeboten bekommen haben -, der international für Furore sorgt, auf dem Festival von Cannes abgefeiert wird und Schanelec quasi über Nacht zu einer der wichtigsten deutschstämmigen Regisseurinnen der Gegenwart stempelt. Meine distanzierte Beschreibung dessen, was MARSEILLE damals für ein Presseecho evoziert hat – es raunt dort vom besten deutschen Film seit zwanzig Jahren, nur noch vergleichbar mit Straub und Huillet, jedoch ungemein poetischer, und intelligenter, weil unbelastet von politisch-ideologischem Ballast -, lässt möglicherweise schon ahnen, wohin der Hase in den folgenden Zeilen laufen wird: Bislang kannte ich von Frau Schanelec bereits den Flughafen-Episoden-Film ORLY von 2010, aus dem ich seinerzeit mit einem Gefühl in der Magengegend herausgegangen bin, das sich nun, bei der Sichtung von MARSEILLE auf der großen Leinwand, nur noch bestätigt hat: Wenn die Berliner Schule und ich in diesem Leben noch irgendwie Freunde werden sollten, dann wahrscheinlich nicht mit einem Film Schanelecs als Bruder- oder Schwesternschaftskelch zwischen uns.

Ich möchte zunächst mit einem grundsätzlichen Irrtum aufräumen: MARSEILLE erzählt, obwohl bei einem kommerziellen Verleih veröffentlicht, und obwohl Schauspieler in ihm fiktionale Figuren verkörpern, und obwohl ein Drehbuch ihnen ihre Dialoge vorsagt, und obwohl streng chronologisch Handlungen besagter Figuren aneinandermontiert werden, keine Geschichte. Vielmehr wirkt Schanelecs Film wie eine empirische Studie: Wir beobachten, gemeinsam mit der Kamera, das (Sozial-)Verhalten der Heldin – (ein Begriff, der mir bei einem Film wie MARSEILLE kaum aus den tippenden Fingern kommt) – Sophie in unterschiedlichen, oftmals zusammenhanglosen Situationen – und das im Übrigen auf die denkbar zurückgenommenste Art und Weise. Zu Beginn verschlägt es Sophie an die – wer ahnt es schon? – französische Mittelmeerküste. In der Hafenstadt Marseille tauscht sie, was wir indes erst viel später erfahren, mit einer Französin die Wohnung: Sie wird ein paar Tage in ihren vier Wänden verbringen, und umgekehrt. Viel tut Sophie nicht in dem Zeitvakuum, das weniger wie ein Urlaub wirkt, sondern mehr einer Flucht ähnelt. Sie zieht mit ihrer Kamera durch die Gegend, fährt mit dem Bus in Vororte. Sie beobachtet Menschen, Dinge, Gebäude. Sie lernt schließlich den Automechaniker Pierre kennen, der ihr ein Fahrzeug leiht. Abends gehen sie in einer Bar was trinken. Sie treffen sich in einem Club mit seinen Freunden. Man tanzt zu orientalischen Beats, plaudert allerlei, beispielweise über Louis Malles Hollywood-Klassiker ATLANTIC CITY. Bis dahin ist bereits etwa die Hälfte des beinahe exakt eineinhalbstündigen Films verstrichen, doch wer denkt, dass sich nun zwischen dem offenen Pierre und der introvertierten Sophie zarte Liebesbande knüpfen werden, der hat die Signale Schanelecs gänzlich falsch interpretiert. Jäh, nämlich zwischen zwei Schnitten, sind wir – und Sophie – zurück in Berlin, wo sie wieder in ihren Alltagstrott verfällt. In diesem scheint sie keiner geregelten Arbeit nachzugehen, sondern hauptsächlich als Babysitterin, Streitpartnerin und Kummerkasten ihrer Freundin Hanna zu fungieren, (die ich aufgrund ihres innigen Verhältnisses den gesamten Film über für ihre ältere Schwester gehalten habe.) Außerdem soll Sophie angeblich in Hannas Freund Ivan verknallt sein, eben der Grund, weshalb sie überhaupt nach Marseille geflüchtet ist. (Auch das konnte mir die Filmsichtung selbst nicht erschließen, sondern verraten mir erst die oben erwähnten Kritiken – wobei ich mich natürlich frage, woher diese denn ihre Informationen diesbezüglich eigentlich ziehen.) All das Spekulieren macht an dieser Stelle schon deutlich: MARSEILLE ist ein Film wie eine Nuss, kaum zu knacken, hermetisch verriegelt, gleichzeitig aber auch ein Film so offen wie das Meer, das wir erst in den letzten Einstellungen endlich einmal sehen, als Sophie nach Marseille zurückgekehrt ist: In das Farbenspiel der untergehenden Sonne auf den brausenden Wogen kann man so ziemlich alles hineininterpretieren, oder nicht?

Ein anderer Vergleich gefällt mir vielleicht noch besser: Würden Außerirdische Spielfilme über die menschliche Spezies drehen, die dazu dienen sollen, den Zurückgebliebenen daheim eine ungefähre Ahnung davon zu vermitteln, wie wir ticken, dann könnte das Ergebnis ähnlich aussehen wie MARSEILLE. Sämtliche Figuren, allen voran Sophie, sind fremd wie Amöben, denen man durch ein Mikroskop beim Wuseln zuschaut. Es ist unmöglich, sich in sie hineinzuversetzen, mit ihnen mitzufühlen, sie irgendwie zu begreifen. Genauso wirkt Sophie auf mich, wenn sie in endlos langen Szenen einfach nur als personifizierte Einsamkeit durch französische Seitenstraßen spaziert. Die Bilder sind hübsch, keine Frage, und wie Schanelec mit ihrem Kinematographen Vorschneider offenbar jede einzelne Szene sorgsam komponiert hat, und wie beide mit der Kamera spielen, sie z.B. stillstehen lassen, während Sophie sich vor ihrer Linse bewegt, und, sobald diese anhält, eine subtile Fahrt beginnen, das zeugt davon, dass ein ganzes Netz voller Gedanken, Entscheidungen, vielleicht sogar Herzblut in diesen Film geflossen sein müssen. Zugleich ist MARSEILLE aber nicht nur außerordentlich mechanisch – das perfekte Gegenprogramm wären wohl die Filme Zulawskis, in denen die Schauspieler Emotionen, die im „echten“ Leben nie so heftig sind, bis zur Hysterie übersteigern, während bei Schanelec jeder Protagonist noch indifferenter, unbeteiligter, lebloser agiert als wir das im „echten“ Leben sowieso schon tun - , sondern auch seltsam beliebig. Der Sinn einiger Szenen hat sich mir nämlich schlicht nicht erschlossen: Weshalb müssen wir unbedingt der Probe eines Theaterstücks zuschauen, in der Hanna die Rolle der Dienerin übernimmt – einfach nur, damit dem Film noch eine Meta-Ebene eingeschrieben wird? In dem unbedingten Willen, zu brechen mit Konventionen verrennt sich MARSEILLE für mich in Fallstricken, denen jedwede Kohärenz fehlt. Nicht nur, dass wir quasi zufälligen Momentaufnahmen aus dem Leben Sophies und ihrer Nächsten beiwohnen, auch die Montage hat etwas von absoluter Kongruenz: Diese Szene hätte genauso gut eine andere sein können, dieses Bild ein anderes, diese Dialogzeile eine andere. Nur die einzelnen Bruchstücke sind konsequent formal ausgearbeitet, der Kitt dazwischen leuchtet mir – einmal abgesehen von der chronologischen Komponente – nie wirklich logisch ein. Das allein wäre natürlich noch kein Grund für einen Verriss. Einige meiner liebsten Filme arbeiten mit Brüchen, mit Inkohärenzen, mit Unvorhersehbarkeiten. Nur verbinden diese damit eine Transzendenzerfahrung, die MARSEILLE für mein Empfinden vollkommen abgeht. Wenn ich sage, dass selbst Hanekes DER SIEBENTE KONTINENT oder Ackermans JEANNE DIELMAN im direkten Vergleich schon beinahe wie quasi-religiöse Grenzüberschreitungen wirken, dann erahnt man möglicherweise erst, WIE reduziert, WIE heruntergebrochen auf das Basalste, WIE entschlackt von nun wirklich allem, was am Kino Spaß macht, was aufrührt, was berührt, was zum Nachdenken anregt, was erschüttert, was einen träumen lässt, MARSEILLE unterm Strich wirklich ist.

Erneut: Ich mochte einige der Stadtimpressionen, ich mochte einige dieser unterschwelligen Kamerafahrten, ich mochte, dass auf Tschechows tolles Theaterstück LA MOUETTE angespielt wird – (das übrigens Zulawski in L’AMOUR BRAQUE teilweise adaptiert) -, ich mochte die Szene, in der Hauptdarstellerin Maren Eggert unvermittelt in Großaufnahme in Tränen ausbricht, und manchmal war der Film sogar, ob nun gewollt oder nicht, auf seine sperrige Weise sogar witzig genug, dass mir ein Lächeln übers Gesicht huschen musste. Insgesamt ist das aber genau die Art von freudlos-introspektivem Arthouse-Kino, nach dem ich mich bislang ausnahmslos fühle, als habe ich zu viel Zeit in einem trostlosen Wartezimmer verbracht, um endlich zu einer Zahnwurzelbehandlung aufgerufen zu werden – nur um gesagt zu bekommen, dass es nun zu spät sei, ich solle morgen wieder vorbeischauen, mein Arzt sei bereits zum Golfplatz aufgebrochen. Maren Ade, vor deren DER WALD VOR LAUTER BÄUME und TONI ERDMANN ich den nichtvorhandenen Hut ziehe, Nicolette Krebitz, deren DAS HERZ IST EIN DUNKLER WALD und WILD mich zum Zucken brachten, und vor allem Jessica Hausner, deren LOURDES und AMOUR FOU mich willenlos niederknien lassen, sind da für mich, was Gegenwartsfilmemacherinnen aus Deutschland und Österreich betrifft, schon ganz andere Kaliber…
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