Grass - Merian C. Cooper / Ernest B. Schoedsack (1925)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3072
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Grass - Merian C. Cooper / Ernest B. Schoedsack (1925)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Grass

Produktionsland: USA 1925

Regie: Merian C. Cooper / Ernest B. Schoedsack

Darsteller: Nomaden, Ziegen, Schafe, Pferden
Innerhalb der Filmgeschichte sind die beiden Namen Merian C. Cooper und Ernest B. Schoedsack wohl für die meisten vor allem mit einem Riesengorilla verbunden, dessen hauptsächlich aus den Kämpfen mit Sauriern bestehendes Leben auf einer prähistorischen Tropeninsel jäh endet, als er Besuch von einem US-amerikanischen Filmteam bekommt, das ihn als Zirkusattraktion nach New York entführt, wo er wiederum ausbüxt, die blonde Frau, in die er sich verliebt hat, in seine Gewalt bringt, und letztlich von Düsenjets vom Gipfel des Empire State Buildings gefegt wird. Die filmhistorische Bedeutung von KING KONG (1933) dürfte unumstritten sein: Gerade die Stop-Motion-Effekte, mit denen Willis O’Brien urzeitliches Echsengetier zu vermeintlichem Leben erweckt, sind wegweisend. Außerdem arbeiten Cooper und Schoedsack als Erste mit Miniaturprojektionen, unterlegen, ebenfalls ein Novum, auch Dialogszenen mit einem Orchesterscore, und begründen, quasi nebenbei, das Genre des Monsterfilms, in dem haushohe Ungetüme seither mit Vorliebe US-amerikanische oder japanische Großstädte in Schutt und Asche legen. Auch in der Folge hat sich das Duo darin hervorgetan, die Figur des Affengiganten für die Leinwand zu kultivieren: Bereits ein halbes Jahr nachdem Kong die Lichtspielhäuser der Welt im Sturm erobert hat, dreht man mit SON OF KONG ein wesentlich possierlicheres Sequel, und noch 1948 mit MIGHTY JOE YOUNG eine Art Remake des Original-KONG, jedoch deutlich zugeschnitten auf ein jüngeres Publikum. Neben Soloprojekten wie dem von Schoedsack in Eigenregie gestalteten DR. CYCLOPS (1940) oder Coopers rege Produktionstätigkeit für John Ford bei Westernmeilensteinen wie RIO GRANDE (1950) oder THE SEARCHERS (1956) ist es vielleicht noch THE MOST DANGEROUS GAME (1932), der Freunden des klassischen Horrorkinos ein Begriff sein dürfte. Gedreht zum Teil in den gleichen Kulissen und mit den gleichen Darstellern wie der spätere KING KONG, für dessen Finanzierung er hauptsächlich gedient haben soll, erzählt der Film schwarzweißmalerisch von dem russischen Grafen Zaroff, der seinen Lebensabend damit zubringt, auf einer entlegenen Atlantikinsel der Menschenjagd zu frönen. Zwischen all diesen reinen, teilweise überaus erfolgreichen und/oder stilprägenden Unterhaltungsspielfilmen ist es beinahe schon so etwas wie ein wohlgehütetes Geheimnis, dass Cooper/Schoedsack ihren möglicherweise besten Film bereits acht Jahre vor KONG mit ihrem Debut vorgeleget haben.

Es ist eine nahezu abenteuerliche Geschichte, die der Produktion von GRASS vorausgeht. Cooper ist ursprünglich Pilot, meldet sich im Polnisch-Sowjetischen Krieg als US-amerikanischer Freiwilliger für die polnische Armee, und fliegt einen gefährlichen Einsatz nach dem andern über dem vom Bürgerkrieg zerrissenen Gebiet der späteren Sowjetunion. Nach Beilegung des Konflikts lernt er in Wien Schoedsack kennen, der schon seit 1914 im US-Kino als Kameramann tätig ist, und seinen Militärdienst in Europa mit dem Drehen von Wochenschauen für die Heimat verbindet. Beide scheinen bei der Leidenschaft des jeweils anderen Blut zu lecken: Schoedsack entdeckt in sich den Abenteurer, Cooper in sich den Filmemacher. Zusammen beginnt man Expeditionen zu unternehmen, nach Somalia, in den Jemen. Das Filmmaterial, das man in diesen Ländern sammelt, wird allerdings Opfer eines Schiffbruchs. An Aufgeben ist nicht zu denken: Gemeinsam mit der Journalisten Marguerite E. Harrison brechen unsere Helden vom heutigen Ankara (seinerzeit noch: Angora) Richtung Kleinasien auf, ohne bestimmtes Ziel, jedoch mit haufenweise Filmmaterial im Gepäck. Als sie von nahezu vergessenen Nomadenstämmen hören, die jedes Mal, wenn das Gras in den Tiefebenen abgeweidet ist, die beschwerliche Reise auf der Suche nach neuem Weideland unternehmen, ist das Sujet für ihren nächsten/ersten Film geboren. Cooper, Schoedsack und Harrison schließen sich Anfang 1924 dem Stamm der Bachtiaren an, und begleiten sie auf ihrer siebenwöchigen Wanderung mit schätzungsweise 50.000 Menschen und 100.000 Schafen, Ziegen, Pferden quer über Zard Kuh, den höchsten Berg des Zāgros-Gebirges im heutigen Iran, und sind damit die ersten Menschen aus westlicher Hemisphäre, die Bilder dieses strapazenreichen Marsches mit einer Filmkamera einfangen.

Was GRASS für mich zu einem Meisterwerk des (frühen) Dokumentarfilms macht, ist etwas, das Cooper/Schoedsack bereits in ihrem nächsten, wesentlich bekannteren ethnographischen Werk, CHANG von 1928, zu verwässern beginnen: Dort erzählen sie von dem ewigen Kampf, den die Bewohner eines Dorfes im Dschungel von Siam unablässig mit der sie umzingelnden Flora und Fauna ausfechten müssen - darunter Elefantenhorden, deren Füße die lebensnotwendigen Reisplantagen einstampfen, oder Leoparden, die nachts die nicht minder lebenswichtigen Ziegen verschlingen -, und greifen dabei permanent auf Muster aus dem Erzählkino zurück, wenn sie beispielweise ein kleines Äffchen, Haustier eines genauso kleinen Dorfjungen, zum komödiantischen Einsprengsel aufbauen, oder ganz generell ihren Film strukturell und dramaturgisch aufbauen wie einen des Illusionskino. Die dokumentarischen Aufnahmen sind letztendlich ein Grundstock, aus dem Cooper/Schoedsack eine klassische Geschichte modellieren. Ganz anders verfahren sie bei GRASS. Relativ am Anfang tun die Zwischentitel und die Kamera so, als ob sich ein Hundewelpe mit einem Kamel unterhalten würde, und einige der folkloristischen Tanzszenen sind mit Sicherheit arrangiert für die Kameralinse, und dass die Darstellung des Anführers der Bachtiaren, Haidar Khan, als einer der wenigen Personen des Nomadenstroms, die überhaupt ein Gesicht erhalten, beinahe ein bisschen zu stilisiert wirkt, das sind lediglich Details in Anbetracht dessen, dass der knapp siebzigminütige Bildreigen ansonsten sowohl auf großartige Texttafeln wie auch auf sichtbare Manipulationen von Seiten der Filmemacher zu verzichten scheint: Tatsächlich erweckt GRASS den Eindruck, Schoedsack und Cooper hätten einfach nur ihre Kameras auf das gerichtet, was vor ihnen geschieht – ohne werten zu wollen, ohne die Bilder zwanghaft in eine Narration zu pressen, ohne das Ganze sogar in irgendeiner Weise politisch oder historisch einzubetten.

Herausgekommen ist ein Film von einer Reinheit, wie man sie heute kaum noch sieht: Minutenlang schauen wir dabei zu wie die Bachtiaren einen gefährlichen Flusslauf überqueren - in der Realität dauert es sechs Tage bis alle Menschen und Ziegen das andere Ufer erreicht haben -, vielen Tieren kosten die Stromschnellen das Leben, manche werden gerettet, wenn ihre beherzten Besitzer ihnen in die Fluten nachspringen, und sie mit aller Gewalt zurück auf die aus Holz und Lammfellen zusammengezimmerten Flössen hieven. Minutenlang schauen wir zu wie die Nomaden hinauf zu schneebedeckten Höhen steigen, mühsam einen Schritt vor den andern setzend, entlangbalancierend an tiefen Schluchten, auf den Schultern blökende Zicklein, und vor sich etliche Kilometer bis man überhaupt erst den Gebirgspass erreicht hat. Wie Fliegen scheinen die Menschen und Tierherden in den Panoramaaufnahmen an den steilen Felswänden zu kleben, und wie Fliegen scheinen sie in der Strömung des Flusses Zentimeter für Zentimeter dem gegenüberliegenden Ufer entgegen zu paddeln oder zu schwimmen. Trotz seiner nahezu epischen Bildgewalt ist GRASS ein durchaus bescheidener Film. Er will nicht die Welt verändern, nicht agitieren, mir nicht mal seine spezifische Perspektive auf die Welt aufzwingen. Alles, was Cooper/Schoedsack tun, ist Bilder einer Kultur zu präsentieren, die, wie so vieles andere auch, schon 1925 im Begriff zu verschwinden gewesen ist. Ich bin meines Atems beraubt – und sehe KING KONG, gerade was seine ethnograpischen Aspekte betrifft, mit anderen Augen…
Antworten