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Brief einer Unbekannten - Max Ophüls (1948)

Verfasst: So 3. Dez 2017, 16:07
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Letter from an Unknown Woman

Produktionsland: USA 1948

Regie: Max Ophüls

Darsteller: Joan Fontaine, Louis Jourdan, Marcel Journet, Mady Christians, Art Smith
In Köln habe ich Stefan Zweigs Novelle BRIEF EINER UNBEKANNTEN von 1922 gelesen. Das war unweit der Traumathek, in einem Park, der eher den Namen Grasflecken verdient, zwischen herumspazierenden Hunden und Drogendeals, die unweit von meiner Bank über die Bühne gingen, mit dem Geruch von Joints in der Nase und dem Geschmack von Chilischoten im Mund, die ich mir kurz zuvor gekauft hatte, und nun langsam zerkaute.

Je älter ich werde desto mehr kann ich mit den Filmen Max Ophüls‘ etwas anfangen. Geboren 1902 in Saarbrücken, wo heute noch ein Filmnachwuchspreis nach ihm benannt ist, wendet er sich zunächst der Theaterschauspielerei zu, führt dann selbst Regie an verschiedenen Bühnen in Wien und Frankfurt, bevor er 1931 mit DANN SCHON LIEBER LEBERTRAN seinen ersten, heute leider verschollenen Spielfilm nach einer Vorlage von Erich Kästner dreht. Sein Durchbruch folgt ein Jahr später mit LIEBELEI, erneut eine Literaturadaption, diesmal nach einem Stück von Arthur Schnitzler. Das Lob von Publikum und Kritikern hilft dem Juden Ophüls, der mit bürgerlichem Nachnamen Oppenheimer heißt, freilich nichts angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus, vor dem er sich nach einem kurzen Intermezzo in Italien, wo der Film LA SIGNORA DI TUTTI (1934) entsteht, nach Paris absetzt. Auch dort wird die Lage nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brenzlig, weshalb Ophüls Anfang der 40er nach Hollywood übersiedelt. LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN, basierend auf einer Novelle Stefan Zweigs aus dem Jahre 1922, ist sein zweiter und möglicherweise schönster US-amerikanischer Film.

Ein Schriftsteller kommt an seinem Geburtstag, den er mit einer Bergtour weniger gefeiert denn herumgebracht hat, in seine Wiener Wohnung zurück, und findet dort einen Brief ohne Absender, der ihm Rätsel aufgibt: Weder kennt er die Handschrift noch den Namen der Frau, die ihm dort über viele Seiten hinweg ihre Lebensgeschichte erzählt – eine Lebensgeschichte, wie unser Held bald feststellen muss, die, ohne dass er das bewusst mitbekommen hat, eng mit seiner eigenen verwoben ist. Lisa Berndl nämlich, so heißt die Autorin, kennt ihn schon seit sie dreizehn ist. Damals ist er in die Wohnung gezogen, die er heute noch bewohnt, und, ohne Notiz von dem halben Nachbarskind zu nehmen, zu ihrem Augenstern geworden. Heimlich hat Lisa den um einige Jahre älteren Mann beobachtet, ist vor Herzklopfen fast umgekommen, wenn er ihr auf der Mietshausstiege zulächelte, hat sich ausgemalt, wie das wohl wäre, wenn er ihr genau die Gefühle entgegenbringe würde, die sie für ihn hegt. Dann aber hat ihre verwitwete Mutter einen neuen Mann kennengelernt: Man zieht nach Innsbruck, was Lisa das Herz bricht. Kaum ist sie achtzehnen, macht sie sich von ihren Familienbanden frei, und zieht zurück nach Wien, um ihrem Heros so nahe wie möglich zu sein. Tag für Tag flaniert sie vor ihrem ehemaligen Wohnhaus, um ihn zu sehen, wie er es verlässt, wie er es betritt. Dass er immer wieder in Gemeinschaft von jungen Frauen unterwegs ist, tut zwar weh, ist für sie aber kein Grund, von ihrem Vorhaben Abstand zu nehmen, ihn endlich auf sich aufmerksam zu machen. Früher oder später geschieht das. Der Schriftsteller spricht sie an, flirtet mit ihr. Sie ist sofort bereit, mit ihm essen zu gehen. Es endet mit Sex: Einmal, zweimal, dreimal. Dann verreist er. Sein Versprechen, sich wieder bei ihr zu melden, macht er nicht wahr. Sie wartet vergeblich. Er hat sie vergessen. In ihr wächst unterdessen sein Kind heran.

Eins von Ophüls‘ Faibles ist das Wien um die Jahrhundertwende oder generell der verblichene Glanz der einstigen Donaumo-narchie voller Kaffeehäuser, Walzerklängen, Droschken, gezwirbelten Schnurbärten und enggeschnürten Kurtisanen-Mieder. Von seinem halb wehmütig-nostalgischem, halb gesellschaftskritisch-präzisem Blick auf die österreichische Hauptstadt vor dem Ersten Weltkrieg lässt er auch in Hollywood nicht ab. Für LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN entsteht ein Studio-Wien, bei dem das Prater-Riesenrad zwar klar erkennbare eine Projektion ist, ansonsten aber ganze Straßenzüge, Vergnügungslokale und Wohnräume des gehobenen Bürgertums in einer Detailfreude nachgebaut werden, dass es mir manchmal schwerfällt, die Augen bei der Handlung zu behalten, und mich nicht in den exquisiten Kostümen, den Deko-Objekten, den Teppichen und Gemälden zu verlieren, die Ophüls‘ Film wie Exponate einer historischen Sammlung füllen. Auch sonst erweckt LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN in seinem Subtext für mich oft den Eindruck, als solle, quasi als Dreingabe zu der melodramatisch-tragischen Liebesgeschichte, die der Film vordergründig erzählt, eine Querschau geliefert werden über Sitten und Bräuche einer bestimmten Kaste zu einer bestimmten Epoche innerhalb der europäischen Kulturgeschichte. Ophüls als Soziologe von Sitten, Gebräuchen und kulturhistorisch determinierten Gefühlen: Sein nachsichtiger, manchmal augenzwinkernder, immer empathischer Blick ist allerdings weit von dem eines kaltblütigen Wissenschaftlers entfernt.

Lisa zieht ihr Kind groß. Sie möchte den Vater nicht davon unterrichten, aus Angst, er würde dann nur aus Mitleid mit ihr zusammen sein. Außerdem habe sie ihn ja sowieso immer bei sich, schreibt sie ihm. Sie müsse nur in die Augen ihres gemein-samen Sohnes schauen, und schon sehe sie ihn. Trotzdem, manchmal zögert sie doch: Er hätte ihr finanziell unter die Arme greifen können, immerhin. Aber auch dafür ist Lisa zu stolz. Sie wird zur Kurtisane, trifft sich für Geld mit Männern aus der Wiener Oberschicht, geht mit ihnen aus, begleitet sie in Konzerthäuser, und natürlich in ihre Betten. Die Jahre ziehen dahin. Da entdeckt sie ihn eines Abends, als sie ein weiterer ihrer Liebhaber ausführt, unter den Besuchern eines Nachtlokals. Auch er bemerkt sie, blickt zu ihr rüber. Doch ihre Hoffnung wird enttäuscht: Natürlich, er erkennt sie nicht. Was sie indes erkennt, ist, dass er Interesse an ihr zeigt. Sie machen einander Zeichen. Er solle draußen warten, sie komme nach. Vor dem Lokal steht Lisa vor einer folgenschweren Entscheidung: Soll sie sich erneut auf den Mann einlassen, der nicht mal mehr ihren Namen weiß, und dafür ihre Geldquelle drinnen sitzenlassen? Es ist klar, was ihr verliebtes Herz ihr rät.

Ophüls‘ Filme haben für mich den Charakter von Champagner. Sie sind leicht, heiter, manchmal ein bisschen frivol, und, selbst wenn das Schicksal ihren Helden sehr übel mitspielt, immer noch versöhnlich. Zugleich machen sie trunken, und zwar nicht nur über ihre Dekors, sondern auch, was ihre technische Seite betrifft. In LETTER FROM AN UNKOWN WOMAN entzücken mich: Die agile Kamera, wie sie beispielweise gleich zu Beginn, als die Umzugskartons in das Miethaus getragen werden, zwischen all den Personen herumhuscht, um sich dann erst auf die junge Lisa einzuschießen, und ihr solange zu folgen bis sie auf ihren zukünftigen Liebsten trifft. Die kontrastreiche Schwarzweißphotographie, die in manchen Szenen gar nicht so weit vom Chiaroscuro des film noirs entfernt ist: Da bauschen sich Schatten um Hauptdarstellerin Joan Fontaine, deren Kopf signalhaft von einer hellen Gloriole gekrönt wird. Die Bildkompositionen, in denen Ophüls‘ es zum Beispiel liebt, Fontaine halb abgeschirmt von irgendwelchen in den Bildkader ragenden Gegenständen zu platzieren, seien es nun die Gitterstäbe von Hoftoren oder Fensterkreuze oder Petroleumlampen, die ihr Gesicht oder Teile ihres Körpers verdecken. Die Repetitionen mancher Szenen: So die verblüffende Treppenhausaufnahme, in der die Kamera, Lisas Blick folgend, über die Stiege schwenkt, und bei der ersten der nahezu identischen Aufnahmen auf der Entdeckung landet, dass ihre Mutter mit einem neuen Mann herumknutscht, und bei der zweiten, einige Minuten später, auf ihrer heimlichen Liebe, die mit einer fremden Frau nach Hause zurückkehrt.

Er erkennt sie immer noch nicht, nicht mal, nachdem sie eine vierte Nacht miteinander verbracht haben. Tief verletzt verlässt Lisa ihn am nächsten Morgen. Es nutzt nichts, sagt sie sich, ich bin eine Unbekannte für ihn, und werde es bleiben. Dann erkrankt ihr Sohn an Typhus. Sein Tod stürzt sie in eine dumpfe Verzweiflung, aus der sie sich befreit, indem sie ihrem Schriftsteller endlich einen Brief schreibt, der fast birst vor unausgesprochenen Gefühlen. Er soll ihn erst erhalten, wenn sie ebenfalls nicht mehr am Leben sei. Denn, deutet sie an, der Typhus habe sich auch in ihr bereits eingenistet, und das sei gar keine Tragödie, denn ohne ihn und ihren Jungen wolle sie sowieso nicht mehr leben. In der Rahmenhandlung, zu der die Novelle in ihren letzten Zeilen zurückfindet, ist der Schriftsteller sowohl erschüttert als auch irritiert von dieser Lebensbeichte. Er kann sich nämlich noch immer nicht erinnern. Nur bruchstückhaft, ganz weit hinten in seinem Gedächtnis, will sich das Bild einer Frau materialisieren, und fällt dann immer wieder in die Unsichtbarkeit zurück.

An Zweigs Vorlage hat Ophüls so gut wie nichts verändert. Neben der üblichen bigotten Hollywood-Zensur, die Lisas wechselnde Liebhaber in einer einzigen Männerfigur amalgiert - einem gewissen Franz, der Lisa heiratet und für ihr Kind den Vater gibt -, und aus den vier Liebesnächten unserer Helden ebenfalls eine einzige macht, ist es vor allem die Tatsache, dass aus dem Schriftsteller bei Ophüls‘ ein Pianist geworden ist sowie ein diesem am Ende der Rahmenhandlung drohendes Duell, mit dem Franz seine gekränkte Ehre wiederherstellen möchte: Ersteres führt zu ganz viel hübscher diegetischer Musik von beispielweise Chopin und Mozart, die beide ihr Bestes tun, den teilweise unerträglich dickauftragenden extradiegetischen Score auf ein Minimum zu begrenzen, und die zweite Drehbuch-Intervention zu einem weiteren kulturgeschichtlichen Partikel, der uns viel darüber sagt, wie damals, im Wien um 1900, die Gesellschaft getickt hat, wenn ihre Zeiger drohten, sich in einem unliebsamen Winkel zu versteifen.

Opühls‘ ist übrigens raffiniert genug, sein Studio-Wien in der wohl witzigsten Szene dieses dann doch recht herzzerreißenden Films gewissermaßen auf einer Meta-Ebene vor den Karren der Selbstironie zu spannen: Lisa und Stefan Brand, wie ihr namen-loser Herzbube in der Verfilmung heißt, schweifen im Prater umher. Plötzlich scheinen sie in einem Zugabteil zu sitzen. Draußen zieht eine absolut künstliche Landschaft vorbei. Gerade, als ich glauben will, dass die Spezialeffekte für LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN weit hinter den Standards zurückbleiben, die zur Entstehungszeit gerade in der Traumfabrik schon hatten erwarten werden können, entpuppt sich die vermeintliche Bahnreise als Jahrmarktsattraktion: Ein altes Männchen auf einem Radl ist dafür verantwortlich, dass wechselnde Szenerien an den künstlichen Abteilfenstern vorbeiziehen. Nachdem Stefan für eine halbe Weltreise im Voraus bezahlt hat, ziehen sich die Turteltäubchen in ihr Refugium zurück, und der Greis darf weiter strampeln. Ich pruste vor Lachen.

Lasst eure Mondos, Pinku Eigas, Vomit-Gore-Exploiter einmal kurz fahren, und gebt euch dieser noblen Praline eines Films hin, dessen Manierismen mit einer Schokoglasur überzogen sind!