Heart of a Dog - Laurie Anderson (2015)
Verfasst: Sa 9. Dez 2017, 11:28
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Originaltitel: Heart of a Dog
Produktionsland: USA 2015
Regie: Laurie Anderson
Darsteller: Terrier-Hündin Lolabelle
Drei Stationen der Beziehung zwischen Multimedia-Künstlerin Laurie Anderson und ihrer Terrier-Hündin Lolabelle:
Sie sind für die Ferien in die Berge gefahren. Über ihnen kreisen die Falken. Einer von ihnen stößt auf Lolabelle herab, entscheidet sich dann aber doch anders: Das, was ihn auf einmal verwirrt anstarrt, ist gar kein Kaninchen, sondern viel zu groß, um von seinen Krallen davongetragen zu werden. Lolabelle blickt dem Vogel lange nach, und zwei Gedanken gehen ihr durch den Kopf: Dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben für ein anderes Lebewesen zur Beute geworden ist. Dass die Gefahr auch von dort oben kommen kann, aus den Wolken, die sie bisher mit nichts Bedrohlichem assoziiert hat, und dass das, zusätzlich zum Erdboden, den sie als ausgebildeter Jagdhund sowieso andauernd im Blick hat, noch einmal einhundertachtzig Grad mehr sind, die sie von nun an im Auge behalten muss, denn – das weiß sie ebenfalls sofort – das Gefühl des möglichen Todes aus den Lüften wird sie nie wieder loswerden können.
Im Alter ist Lolabelle erblindet. Das macht sie übervorsichtig, ängstlich. Einzig am Strand traut sie sich noch, in vollem Lauf davonzujagen, weil sie weiß, dass sich ihr dort keine Hindernisse in den Weg stellen werden. Anderson spricht mit ihrer Hun-dertrainerin über das Problem, und die hat die Idee, Lolabelle das Keyboardspielen beizubringen. Ein vorgefertigter Beat begleitet von nun an täglich ihre Übungsstunden, bei denen sie mit den Pfoten rhythmisch die Tasten eines Kinderkeyboards bearbeitet, manchmal melodisch, manchmal fast schon experimentell. Bald tritt Lolabelle auch vor Publikum auf, bei Benefiz-Konzerten zum Beispiel. Sogar eine Weihnachts-CD wird aufgenommen, auf der sie bekannte Christmas-Standards einspielt.
Lolabelle liegt in den letzten Zügen. Der Tierarzt rät Anderson, sie einschläfern zu lassen. Das sei keine große Sache, und erlöse die geliebte Vierbeinerin von unnötigen Qualen. Für Anderson aber sind diese Qualen nicht unnötig. Kurz zögert sie, dann nimmt sie Lolabelle doch aus der Praxis mit nach Hause, wo sie sie ihre verbliebenen Tage beim Sterben begleitet. Das habe sie ihr nicht nehmen wollen, erklärt sie, und sich selbst nicht, die Zerbrechlichkeit, Vertrautheit, Liebe des langsamen Hinübergleitens, das so viel humaner erscheint als die sterile Spritze, die der Tierarzt bereitgehabt hätte.
Freilich dient Anderson die innige Beziehung zwischen ihrer Terrier-Hündin und ihr lediglich als Ausgangspunkt eines regel-rechten Stroms aus Gedanken, Erinnerungen, Geschichten. In ihrem Essayfilm HEART OF A DOG aus dem Jahre 2015 ist der Tod Lolabelles nur das erste Glied in einer mehrsträhnigen Kette aus Assoziationen, in der sich kaleidoskopisch autobiographische Erzählungen aus Andersons Kindheit - wie die von einem ziemlich schiefgehenden Schwimmbadstunt, bei dem sie vom Drei-Meter-Band springend nicht etwa im Wasser landete, sondern auf dem Becken, was ihr wiederum einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt mit Aussicht auf irreparable Schäden einbrachte - mit Reflexionen über die entscheidenden Denkanstöße von Philosophen wie Wittgenstein und Kierkegaard mischen, Anderson uns, wobei ihre Digi-Cam auf dem Rücken von Lolabelle montiert ist, ihre unmittelbare Nachbarschaft in Greenwich Village – darunter ein österreichischer Kuch und Maler und Regisseur Julian Schnabel - vorstellt, Beobachtungen sammelt, wie ihre Heimatstadt New York sich seit dem elften September 2001 verändert hat, immer wieder Archivaufnahmen abspielt, in denen die junge und agile Lolabelle über die Felder saust und die betagte und erblindete Lolabelle einem Keyboard experimentelle Sounds entlockt, und immer wieder zurückkehrt zu ihrem eigentlichen Thema: Den Tod ihrer Mutter, den ihrer Hündin, und natürlich der ihres Ehemannes Lou Reed, mit dem sie seit Mitte der 90er ein Paar gebildet hat, und der im Oktober 2013 nach langer Krankheit verstorben ist.
Fragt man nach einem Fokus in diesem knapp fünfundsiebzigminütigen Spiegelkabinett aus innerlichen wie äußerlichen Im-pressionen, das sich nie zu aufwändigen Metaphern versteigt, und sich stattdessen aus Heimvideoaufnahmen der schlichtesten mir bekannten Schönheit speist, dann fällt einem bald das Wittgenstein-Zitat vor die Füße, das Andersons weise, zurückge-nommene, großmütterliche Off-Stimme uns etwa in Filmmitte vorliest: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Lou Reeds Tod scheint genau solch ein blinder Fleck zu sein: etwas, das präsent ist – allzu präsent -, und sich gerade deshalb einer verbalen oder auch nur schriftlichen Äußerung entzieht. Anderson erwähnt ihren toten Mann mit keinem Wort. Ihr Schweigen ist bedeutsamer als alle Worte. Worüber man nicht sprechen kann, darüber dreht man einen der berührendsten Experimentalfilme, die ich seit langem gesehen habe.
Anderson fragt sich, wozu der Tod nutze? Ihre Antwort lautet: Um Liebe freizusetzen. HEART OF A DOG ist die in Bildern gekleidete Liebe, so unvermittelt ausgedrückt wie das über ein Bildmedium wie den Film möglich ist.
Am Ende findet HEART OF A DOG, nachdem sein Geflecht aus Erinnertem, Erdachtem, Erlebten und Erhofftem so dicht wie nur möglich geworden ist, dann doch noch zu einem Bild, das seinem zyklischen Kreisen Einhalt gebietet, und ihn auf sich selbst zurückwirft: Lou Reed schmust auf einer Schwarzweißphotographie mit Lolabelle. Die Kamera gleitet langsam über die starre Szene hinweg. Dazu ertönt sein Song „Turning Time Around“. Mir sind die Tränen gekommen.
Sie sind für die Ferien in die Berge gefahren. Über ihnen kreisen die Falken. Einer von ihnen stößt auf Lolabelle herab, entscheidet sich dann aber doch anders: Das, was ihn auf einmal verwirrt anstarrt, ist gar kein Kaninchen, sondern viel zu groß, um von seinen Krallen davongetragen zu werden. Lolabelle blickt dem Vogel lange nach, und zwei Gedanken gehen ihr durch den Kopf: Dass sie zum ersten Mal in ihrem Leben für ein anderes Lebewesen zur Beute geworden ist. Dass die Gefahr auch von dort oben kommen kann, aus den Wolken, die sie bisher mit nichts Bedrohlichem assoziiert hat, und dass das, zusätzlich zum Erdboden, den sie als ausgebildeter Jagdhund sowieso andauernd im Blick hat, noch einmal einhundertachtzig Grad mehr sind, die sie von nun an im Auge behalten muss, denn – das weiß sie ebenfalls sofort – das Gefühl des möglichen Todes aus den Lüften wird sie nie wieder loswerden können.
Im Alter ist Lolabelle erblindet. Das macht sie übervorsichtig, ängstlich. Einzig am Strand traut sie sich noch, in vollem Lauf davonzujagen, weil sie weiß, dass sich ihr dort keine Hindernisse in den Weg stellen werden. Anderson spricht mit ihrer Hun-dertrainerin über das Problem, und die hat die Idee, Lolabelle das Keyboardspielen beizubringen. Ein vorgefertigter Beat begleitet von nun an täglich ihre Übungsstunden, bei denen sie mit den Pfoten rhythmisch die Tasten eines Kinderkeyboards bearbeitet, manchmal melodisch, manchmal fast schon experimentell. Bald tritt Lolabelle auch vor Publikum auf, bei Benefiz-Konzerten zum Beispiel. Sogar eine Weihnachts-CD wird aufgenommen, auf der sie bekannte Christmas-Standards einspielt.
Lolabelle liegt in den letzten Zügen. Der Tierarzt rät Anderson, sie einschläfern zu lassen. Das sei keine große Sache, und erlöse die geliebte Vierbeinerin von unnötigen Qualen. Für Anderson aber sind diese Qualen nicht unnötig. Kurz zögert sie, dann nimmt sie Lolabelle doch aus der Praxis mit nach Hause, wo sie sie ihre verbliebenen Tage beim Sterben begleitet. Das habe sie ihr nicht nehmen wollen, erklärt sie, und sich selbst nicht, die Zerbrechlichkeit, Vertrautheit, Liebe des langsamen Hinübergleitens, das so viel humaner erscheint als die sterile Spritze, die der Tierarzt bereitgehabt hätte.
Freilich dient Anderson die innige Beziehung zwischen ihrer Terrier-Hündin und ihr lediglich als Ausgangspunkt eines regel-rechten Stroms aus Gedanken, Erinnerungen, Geschichten. In ihrem Essayfilm HEART OF A DOG aus dem Jahre 2015 ist der Tod Lolabelles nur das erste Glied in einer mehrsträhnigen Kette aus Assoziationen, in der sich kaleidoskopisch autobiographische Erzählungen aus Andersons Kindheit - wie die von einem ziemlich schiefgehenden Schwimmbadstunt, bei dem sie vom Drei-Meter-Band springend nicht etwa im Wasser landete, sondern auf dem Becken, was ihr wiederum einen mehrmonatigen Krankenhausaufenthalt mit Aussicht auf irreparable Schäden einbrachte - mit Reflexionen über die entscheidenden Denkanstöße von Philosophen wie Wittgenstein und Kierkegaard mischen, Anderson uns, wobei ihre Digi-Cam auf dem Rücken von Lolabelle montiert ist, ihre unmittelbare Nachbarschaft in Greenwich Village – darunter ein österreichischer Kuch und Maler und Regisseur Julian Schnabel - vorstellt, Beobachtungen sammelt, wie ihre Heimatstadt New York sich seit dem elften September 2001 verändert hat, immer wieder Archivaufnahmen abspielt, in denen die junge und agile Lolabelle über die Felder saust und die betagte und erblindete Lolabelle einem Keyboard experimentelle Sounds entlockt, und immer wieder zurückkehrt zu ihrem eigentlichen Thema: Den Tod ihrer Mutter, den ihrer Hündin, und natürlich der ihres Ehemannes Lou Reed, mit dem sie seit Mitte der 90er ein Paar gebildet hat, und der im Oktober 2013 nach langer Krankheit verstorben ist.
Fragt man nach einem Fokus in diesem knapp fünfundsiebzigminütigen Spiegelkabinett aus innerlichen wie äußerlichen Im-pressionen, das sich nie zu aufwändigen Metaphern versteigt, und sich stattdessen aus Heimvideoaufnahmen der schlichtesten mir bekannten Schönheit speist, dann fällt einem bald das Wittgenstein-Zitat vor die Füße, das Andersons weise, zurückge-nommene, großmütterliche Off-Stimme uns etwa in Filmmitte vorliest: Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. Lou Reeds Tod scheint genau solch ein blinder Fleck zu sein: etwas, das präsent ist – allzu präsent -, und sich gerade deshalb einer verbalen oder auch nur schriftlichen Äußerung entzieht. Anderson erwähnt ihren toten Mann mit keinem Wort. Ihr Schweigen ist bedeutsamer als alle Worte. Worüber man nicht sprechen kann, darüber dreht man einen der berührendsten Experimentalfilme, die ich seit langem gesehen habe.
Anderson fragt sich, wozu der Tod nutze? Ihre Antwort lautet: Um Liebe freizusetzen. HEART OF A DOG ist die in Bildern gekleidete Liebe, so unvermittelt ausgedrückt wie das über ein Bildmedium wie den Film möglich ist.
Am Ende findet HEART OF A DOG, nachdem sein Geflecht aus Erinnertem, Erdachtem, Erlebten und Erhofftem so dicht wie nur möglich geworden ist, dann doch noch zu einem Bild, das seinem zyklischen Kreisen Einhalt gebietet, und ihn auf sich selbst zurückwirft: Lou Reed schmust auf einer Schwarzweißphotographie mit Lolabelle. Die Kamera gleitet langsam über die starre Szene hinweg. Dazu ertönt sein Song „Turning Time Around“. Mir sind die Tränen gekommen.