„Moral und Werte existieren in dieser Welt nicht mehr!“
Mit seinem Regiedebüt „Red Riding Hood“ aus dem Jahre 2003 schuf der italienische Regisseur Giacomo Cimini einen kleinen, feinen Horrorfilm, der sich lose Grimm’scher Märchenmotive bedient und darüber hinaus fleißig das Genre zitiert.
Nachdem ihr Vater, offensichtlich ein hochrangiger Politiker, von einer Attentäterin erschossen wurde und später ihre Mutter mit einem neuen Freund durchbrannte, lebt die zwölfjährige Jennifer allein in Rom. Das Sorgerecht fällt auf ihre Großmutter (Kathleen Archebald), die aus New York anreist, um Jennifer mit in die USA zu nehmen. Was sie jedoch nicht ahnt: Zusammen mit einem geheimnisvollen Mann im Wolfskostüm sorgt Jennifer auf den Straßen Roms für Recht und Ordnung bzw. das, was sie dafür hält: Das Duo spürt Lügner, Betrüger, Diebe etc. auf und richtet sie blutig. Jennifer hat wenig Lust, ihre Tätigkeit aufzugeben und möchte partout nicht zurück in die USA…
„Red Riding Hood“ präsentiert ein aufgewecktes, selbstbewusstes, jedoch psychisch krankes Mädchen und lässt es den Film aus dessen Perspektive erzählen. Zu Beginn trägt es seiner Großmutter zunächst einmal eine „alternative“ Form des Märchens von Rotkäppchen und dem bösen Wolf vor und weckt damit später entsprechende Assoziationen, wenn sie als präpubertäres Mädchen zusammen mit einem Mann im Wolfskostüm gemeinsame Sache macht und sich gegen die Großmutter verschwört. Weitere Bezugnahmen auf das Märchen gibt es aber praktisch nicht, so dass auch nicht wirklich die Rede von einer Märchenadaption im Horrorgewand sein kann. Stattdessen bekommt man es mit einem comichaften, zynischen, schwarzhumorigen und harten Film zu tun, der ein kleines Mädchen mit verqueren, radikalen Moralvorstellungen als Richterin und Henkerin zugleich etabliert.
Sehr zu Gute kommt dem Film dabei die Wahl Susanna Sattas als Jennifer, die mit ihren buschigen schwarzen Augenbrauen ungewöhnlich und schon ein Stück weit geheimnisvoll aussieht, irgendwo zwischen niedlich-verschmitzt und teuflisch-verschlagen. Die kleine Satta brodelt dabei vor Spielfreude und scheint vor Ausstrahlung beinahe überzukochen – eine großartige Leistung der Jungschauspielerin, die über weite Strecken den Film auf ihren Schultern zu tragen hat. Eine dynamische Kameraarbeit und ein moderner, rasanter Schnitt verschleiern gut die eine oder andere Länge und stehen dem aufgedrehtem Film prima zu Gesicht.
Die sauber herbeikonstruierten Mordmotive und ihre jeweils baldigen, in Form wirklich guter Spezialeffekte umgesetzten Ausführungen erinnern an Slasher-Filme und Gialli der blutigen Sorte, die Sadismen gegen die gefangengehaltene Großmutter hingegen beginnen schwarzhumorig mit Schlafmitteln und Erdnussbutter (die rüstige ältere Dame reagiert allergisch auf Erdnüsse) und steigern sich zum Ende zu einer Reminiszenz an „Misery“, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Dies geschieht ohnehin in schöner Regelmäßigkeit, wenn die eingeschränkte, undifferenzierte, naive Sichtweise einer radikalmoralistischen Zwölfjährigen blutiger Ernst wird, während Jennifer ihr Treiben konsequent kaltschnäuzig und neunmalklug, doch dabei letztlich unvermindert infantil kommentiert. Auch die Liebe darf nicht fehlen – ohne, dass „Red Riding Hood“ dafür seinen Tonfall ändern würde: Die Konfrontation mit dem ersten Verliebtsein hat natürlich auch ihre bösen Folgen.
Seine Schwachpunkte offenbart „Red Riding Hood“ in erster Linie in der Klimax des Drehbuchs. Was anscheinend als Überraschungseffekt vorgesehen war
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– der Mann im Wolfskostüm existiert gar nicht, sondern ist lediglich ein Alter Ego Jennifers –
, dürfte jedem Zuschauer bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt klar sein. Zudem scheint die Handlung so sehr der Realität entrückt, dass klassische Spannung nicht unbedingt entwickelt wird. Dafür versuchte man aber, mit einem bizarren Ende das Publikum gleichsam zu ekeln und mit einer weiteren satten Dosis schwarzen Humors zu erfreuen, und tatsächlich unterstreicht es die zynische Note gekonnt. Unterm Strich nimmt „Red Riding Hood“ pointiert und kurzweilig die einseitige, vermeintliche Allgemeingültigkeit von Moralvorstellungen aufs Korn und zeigt die Notwendigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit denselben anhand eines vereinsamten Kindes auf, das hierzu nie die Möglichkeit bekam und sie dadurch ins Gegenteil verkehrt – selbstverständlich in Form eines exploitativen, wunderbar geschmacklosen Horrorstreifens, der bei all seinem Humor fast immer rechtzeitig davor Halt macht, ins allzu Alberne abzudriften.