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Geschichte der Nacht - Clemens Klopfenstein (1979)

Verfasst: Di 10. Apr 2018, 13:45
von Salvatore Baccaro
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Produktionsland: Deutschland/Frankreich/Schweiz 1979

Regie: Clemens Klopfenstein

Darsteller: Nächtliche Städte und ihre Bewohner

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Fünfzehn Städte hat Clemens Klopfenstein für seine 1978 erschienene GESCHICHTE DER NACHT bereist, von Basel bis Belfast, und sie in ihrem Nachtgewand zwischen drei und fünf Uhr morgens gefilmt: Menschenleere Straßenkreuzungen, die an die Photographien Atgets erinnern. Stumpf vor sich hin summende Laternen. Ampeln, die von Grün auf Rot schalten, obwohl keine Autos da sind, die ihren Befehlen Folge leisten könnten. Rolltreppen in Hauptbahnhöfen, die ohne zu befördernde Fracht rasseln. Vereinzelte pulsierende Punkte wie Tanzlokale, aus denen Reggae in die Nacht dringt; eine Gartenparty mit einem Tisch voller Weinflaschen; eine religiöse Prozession, bei der eine Marienstatue und Fackeln durch die Dunkelheit getragen werden; schließlich: der Muezzin-Ruf, der die schlaftrunkenen Gassen nicht aufscheucht, sondern sie noch lebloser wirken lässt. Klopfenstein kompiliert seine ausnahmslos in statischen, grobkörnigen Schwarzweißbildern geschossenen Aufnahmen zu einer Querschau über das, was in Europas Metropolen passiert, wenn das Gros ihrer Bevölkerung in den Federn liegt – oder eben genau diesen eigenartigen Zustand der Leere und Ereignislosigkeit, wo überhaupt nichts über die Bühne geht. In welcher Hemisphäre wir uns gerade genau befinden, verraten höchstens mal mehr, mal weniger offensichtliche Indizien wie fernes Möwengekreisch, das auf den Asphalt gepinselte Wort SLOW, eine britische Flagge, die einsam vor einem Wohnhaus weht, Transparente mit griechischen Schriftzeichen und Plakate auf Französisch. Das sind aber Ausnahmen, die deshalb ins Auge stechen, weil es sonst keine Koordinationspunkte gibt, die verhindern würden, dass Klopfensteins Bilder zu einer einzigen Symphonie der großstädtischen Nacht verschmelzen – sozusagen das meditative, asketischere Gegenstück zu Walter Ruttmanns BERLIN oder Kemenys und Lustigs SAO PAULO. Symphonie auch deshalb, weil die einen eigenartigen Sog entwickelnden Bildfolgen von schneebedeckten Gehwegen, auf Nachtbusse wartenden Frauen mit Kopftuch und über Wolkenkratzern kreisenden Vogelschwärmen mit dem dezentesten Soundtrack unterlegt worden ist, den man sich vorstellen kann: Straßenlaternenbrummen, orientalische Zupfinstrumente und intimes Schlagwerk, für das die Third Ear Band zuständig ist, die zuletzt Polanskis MACBETH vertont hatte, untermalen die ineinander verschmelzenden Ansichten, mit denen Klopfenstein regelrecht zu den frühsten Ambitionen des Kinos zurückkehrt, Dinge einfach um ihrer selbst willen zeigen zu wollen, weniger, als dass sie in ihnen verschwinden.

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Ein Straßenhund sucht währenddessen im Müll nach Essensresten. Ein Türsteher vor einem Club, in dem ein Mann seine unwillige Freundin auf die Tanzfläche zerrt, wo sie dann aber doch Gefallen an ihren sich wiegenden Hüften findet, wird auf die Kamera aufmerksam, und kommt etwas bedrohlich näher, um zu schauen, wer ihn da filmt, und weshalb. Weiterhin blinken die Ampeln sinnlos vor sich hin, und rattern die Rolltreppen, und führen verkleidete Menschen eine Art Perchtentanz inmitten einer Schneelandschaft auf, unter der irgendeine andere Metropole begraben liegt. Wie hypnotisch diese GESCHICHTE DER NACHT, die genauso sehr eine Geschichte der Zeit hätte sein können, nämlich darüber, wie sie verrinnt und stagniert, oder beides, ist, merkt man erst, wenn nach knapp einer Stunde Laufzeit das gefrierende Bild zu einer Stillphotographie wird, und man erwacht, so, als sei es plötzlich Morgen geworden.

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Damals, nach meiner Erstsichtung dieses bescheidenen Meisterwerks auf der großen Leinwand, habe ich mir zwei Sätze notiert. Zum einen, dass GESCHICHTE DER NACHT, wenn der Film ein Musikalbum wäre, ungefähr so klingen würde wie die frühen Sachen von Tangerine Dream, als das Genre, das man heute Ambient nennt, noch in den Kinderschuhen steckt, und mit vergleichsweise primitiven Synthesizern epochale Klangteppiche gezaubert wurden, so lang wie eine LP-Hälfte: Dumpfe, monotone, amorphe Soundmassen, die einen zuerst vielleicht abstoßen oder zu Tode langweilen, die einen dann aber umso mehr affizieren, wenn man sich auf sie einlässt, und erstmal die, sagen wir, ersten fünf bis zehn Minuten erfolgreich hinter sich gebracht hat. Mein zweiter Satz lautete: Rückblickend betrachtet hat die Globalisierung dazu geführt, dass wir der Welt näher rücken, nur um zu sehen, dass sie überall gleich aussieht. Das ist vielleicht ein bisschen harsch ausgedrückt, aber die Erkenntnis lässt sich doch aus Klopfensteins Film ziehen: Ob diese Straßenecke nun in Großbritannien, in der Türkei oder in Österreich verläuft, kann man allein an ihren (nicht vorhandenen) architektonischen Besonderheiten nicht ablesen. Es ist ein bisschen wie mit Andy Warhols berühmten Ausspruch: The most beautiful thing in Stockholm is McDonald's. The most beautiful thing in Florence is McDonald's. Peking and Moscow don't have anything beautiful yet. Allerdings muss ich mich korrigieren: Meine Notiz könnte so gelesen werden, dass die Straßenecken der Metropolen dieser Welt, ihre Ampeln, ihre Zweckbauten, ihre Industriegebiete schon gleich aussahen, bevor die Globalisierung eingesetzt hat, dabei sind sie wohl doch eher ein Nebenprodukt genau dieses Prozesses. Eine dezidiert politische Aussage scheint mir in Klopfensteins Film aber nicht verankert zu sein. Es geht ihm um die Bilder, ihre Ästhetik, den rhythmischen Fluss der Montage. Es geht um einen der wohl eigenwilligsten rein visuellen Reiseberichte, die ich jemals gesehen habe.

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