Die Abwesenheit - Peter Handke (1992)

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Salvatore Baccaro
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Die Abwesenheit - Peter Handke (1992)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: L'Absence

Produktionsland: Deutschland/Frankreich/Spanien 1992

Regie: Peter Handke

Darsteller: Eustaquio Baraju, Bruno Ganz, Sophie Semin, Jeanne Moreau, Alex Descas
Zwischen 1971 und 1992 hat der österreichische Schriftsteller Peter Handke insgesamt vier Spiel- bzw. Experimentalfilme realisiert. DIE ABWESENHEIT ist – nach CHRONIK DER LAUFENDEN EREIGNISSE (1971), DIE LINKSHÄNDIGE FRAU (1978) und DAS MAL DES TODES (1985) – seine bisher letzte Regiearbeit.

Erneut basiert ein Film Handkes auf einem Erzähltext seiner eigenen Feder. DIE ABWESENHEIT heißt nicht nur genauso wie ein sogenanntes „Märchen“, das er drei Jahre vor Beginn der Dreharbeiten publiziert hat, sondern folgt dem Prosastück auch inhaltlich weitgehend: Vier archetypisch-allegorische Figuren – ein dunkelhäutiger Soldat aus der französi-schen Kolonie; ein ältlicher, abgehalfterter Spieler vom Rande der Gesellschaft; eine junge, adrette Frau, die eine Zeitlang in der Psychiatrie saß; ein griechischer Poeten-Greis, der sich gerade von seiner französischen Ehefrau getrennt hat – brechen zunächst unabhängig voneinander zur großangelegten spirituellen Sinnsuche auf, finden schließlich zusammen, küren den Dichter zu ihrem Führer, und streunen neunzig Minuten lang durch das wunderhübsch photographierte Hinterland Spaniens und Frankreichs (darunter als Schauplatz Handkes eigenes Wohnhaus außerhalb von Paris in Chaville), führen ausnahmslos kryptische, sich größtenteils wie Monologe gebärdend Dialoge, kapern einen Linienbus, nächtigen unter freiem Himmel.

Eine Referenz, die mir regelrecht ins Gesicht springt, ist das letzte Drittel von Alejandro Jodorowskys HOLY MOUNTAIN. Während Jodorowsky allerdings ein ausgiebiges Bad in den collageartig zusammengewürfelten Symboliken jeder erdenklichen und unerdenklichen Menschheitsreligion nimmt, sind konkrete symbolistische Szenen bei Handke eher spärlich gesät – verfehlen dann aber, wenn man plötzlich vor ihnen steht, ihre Wirkung nicht: Ich denke an die wundervolle Trias aus Schlange, Igel und Schildkröte, die wie an einer unsichtbaren Kette in der Mitte eines Feldwegs angeordnet sind, oder an eine nicht weniger schöne Kamerafahrt an einem Ensemble aus getrockneten Maulwürfen, die als zusammengeflochtenes Knäuel von einem Baum herabbaumeln. Wichtiger jedoch als die Bilder sprechen zu lassen – für mich geben die beiläufig zauberhaften Kompositionen zwischen hohen Bergen, zwitschernden Wiesen, dichten Wäldern und schließlich der Weite der Wüste ein konstantes Summen von sich, das angenehm anzuhören ist, jedoch auf Dauer ziemlich monoton –, scheint Handke es, seine Figuren bei alltäglichen Verrichtungen zu beobachten, denen der präzise Kamera-Blick, wie den sie umlagernden Naturphänomen, allein durch ihr vehementes Starren ihre Aura zurückgeben bzw. sie überhaupt erst sichtbar machen soll: Wie sie sich auf primitive Weise Essen zubereiten, eine Melone miteinander teilen, in das kühle Nass eines Sees hüpfen, von Hügeln aus die Ebene anstarren oder wiederum von der Ebene angestarrt werden, das ist alles ist sehr fragil inszeniert, in zu zerbrechen drohende Bilder gefasst, und verfestigt sich am wenigsten durch die derart chiffrierten Sätze, die die Figuren permanent von sich geben, dass mir jedweder Schlüssel dazu fehlt. Handkes Helden sind keine psychologisch nachvollziehbaren Charaktere in einer kohärenten Handlung, sondern wandelnde Gleichnisse in einer Versuchsanordnung aus Bildern, die sich ausnahmslos mittels Gedichtversen, (pseudo)-philosophischen Reflexionen und langen, vermeintlich ihre Lebensschicksale aufarbeitenden Litaneien miteinander verständigen – oder, besser gesagt, permanent aneinander und an mir, dem Zuschauer, vorbeireden. Verstärkt wird dieses Eindruck noch, dass jede der Figuren in ihrer eigenen Sprache plappert: Der Spieler Deutsch, der Poet Griechisch, die junge Frau und der Soldat Französisch.

Eine zweite Referenz, die sich mir langsam aufdrängt, ist jene Phase Jean-Luc Godards Ende der 80er, Anfang der 90er, als er sich entschließt, seine Schauspieler in Naturkulissen wie Gemälde zu stellen, und sie zu Klassischer Musik, wie in NOUVELLE VAGUE (1990) oder HÉLAS POUR MOI (1993), Zitate berühmter oder vergessener Philosophen, Schriftsteller oder sonstiger Männer (und Frauen) der (europäischen) Kulturgeschichte deklamieren zu lassen. Herrscht bei Godard dadurch aber eine intellektuelle Fülle vor, die man, wenn einem der Sinn danach steht, durchaus dahingehend dekonstruieren kann, dass man der Herkunft eines bestimmten Satzes auf den Grund geht, und dadurch Verbindungslinien zu ziehen beginnt zwischen einer Theorie und einer nächsten, die einen freilich früher oder später in einem undurchdringlichen Spinnengewebe einschließen, handelt es sich bei DIE ABWESENHEIT um einen reichlich reduktionistisches Werk. Handke scheint zu sehr von sich selbst zu besessen, um irgendwem sonst irgendeinen Freiraum zuzugestehen. Sein Film hat etwas Masturbatorisches. Eigentlich höre ich die ganze Zeit einem Selbstgespräch zu.

Ebenfalls an Godard erinnert mich allerdings, in welcher subtiler Großartigkeit Handke die Bewegungen seiner Darsteller – darunter solche illustren Namen wie Bruno Ganz als Spieler und Jeanne Moreau als Frau des Poeten, mit der Handke in den 70ern für einige Jahre zusammenlebte, aber auch Unbekannte wie seine damals aktuelle Ehefrau Sophe Semin oder Eustaquio Baraju als Dichterfürst – und die, die von ihrer Umgebung ausgehen, als feinironische Choreographien inszeniert. Immer mal wieder sitzt unsere Pilgertruppe stumm und regungslos an Bächen, auf Weiden, an Wegesrändern, und Fahrradfahrer, Jogger oder Motorcross-Fahrer müssen plötzlich, obwohl um sie herum genügend Platz wäre, unbedingt mitten durch ihre Gemeinschaft hindurchpreschen. Zuweilen vermitteln auch Kameraschwenks oder Montage-Ellipsen ein Augenzwinkern, das einen etwas von der dem Film immanenten Steifheit und Gesetztheit erlöst. Ich mochte es, wenn unsere Helden auf einmal, ohne dass der Film das irgendwie erklären würde, abwechselnd als Fahrer und Fahrerinnen eines Linienbusses fungieren, oder wenn sie auf einem Felsen über einem reißenden Wildbach campieren, und die Kamera abwechselnd in die eine oder andere Richtung guckt, und von dort immer mehr Wanderer herbeiströmen, bis sie regelrecht umzingelt sind von sie interessiert anstierenden Menschen, als seien sie besonders exotische Zooexponate. Was ich indes überhaupt nicht mochte: Wenn Jeanne Moreau am Ende minutenlang direkt in die Kamera monologisiert, und ich verzweifelt nach einem Funken Selbstironie in ihrem Gesicht und Handkes Sätzen suche. Oder wenn Bruno Ganz und Sophie Semin, nebeneinander sitzend, soweit ich das verstanden habe, eine frühere Begegnung rekapitulieren, sich dabei nicht einmal in die Augen schauen, und derart emotionslos ebenfalls minutenlang ihre Dialoge herunterbrechen, dass dagegen Bresson wirkt wie Zulawski. Oder wenn kurz vorm Abspann unbedingt noch versucht wird, die Elfenbein-turmhaftigkeit des Films zu negieren, indem Handke auf den zu lodern beginnenden Jugoslawienkrieg verweisen muss, was im realitätsentrückten Kontext der vorherigen eineinhalb meditativ-einschläfernden Stunden nicht ansatzweise so überwältigend wirkt wie Jodorowskys „Zoom back, camera!“ und die damit einhergehende Enttarnung der kinematographischen Illusion in HOLY MOUNTAIN.

Bedeutungsschwanger, hochgradig verklausuliert, demonstrativ dem Publikums-Gros den Rücken zukehrend, jedoch dabei, zumindest mir, nichts viel von Bedeutung mit auf den Weg gebend, mich nicht mal anheizend, die Verklausulierung interpretatorisch aufdröseln zu wollen, und bei aller Verweigerungshaltung eben keine nach Kippen und Alkohol riechende Lou-Reed-Lederjacke tragend, sondern einen bildungsbürgerlichen Blazer, das ist Handkes DIE ABWESENHEIT, trotz der einen oder anderen angenehm absurden Idee und Landschaftsbildern, die ich mir gerahmt übers Bett hängen würde, für mich.
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