Celestial Wives of the Meadow Mari - A. Fedorchenko (2012)
Verfasst: Do 17. Mai 2018, 20:56
Originaltitel: Nebesnye zheny lugovykh mari
Produktionsland: Russland 2012
Regie: Aleksei Fedorchenko
Darsteller: Yuliya Aug, Yana Esipovich, Vasiliy Domrachyov, Olga Degtyaryova, Aleksandr Ivashkevich
Das Decamerone der Mari, tatsächlich.
Die Mari sind ein wolgafinnisches Volk, das sich bis weit ins 17. Jahrhundert der Christianisierung widersetzt hat. Angesiedelt ist es größtenteils in der autonomen Republik Mari El im östlichen Teil des heutigen Russlands. Sie haben eine eigenständige Sprache, eine eigenständige Kultur. Die hat freilich über die Zeit hinweg letztlich doch den einen oder anderen christlichen oder islamischen Einschlag erhalten und haltgemacht hat die technologische Modernisierung natürlich ebenfalls vor ihr. Trotzdem werden von den Mari noch heute weitgehend intakt die archaischen Bräuche der Urahnen praktiziert. Diesem Volksstamm, von dem ich zuvor ehrlich gesagt noch nie etwas gehört hatte, haben Regisseur Aleksey Fedorchenko und Drehbuchautor Denis Osokin in ihrer Gemeinschaftsarbeit NEBESNYE ZHENY LUGOVYKH MARI von 2012 ein Denkmal setzt.
Der Film ist keine Dokumentation. Eher steht er in der Tradition dessen, was Pasolini Anfang der 70er mit seiner Leinwandadaption von Boccaccios Querschnitt durch die italienische Gesellschaft, dem DECAMERONE aus dem 14. Jahrhundert, versucht hat: In kurzen und kürzesten Episoden – insgesamt vierundzwanzig an der Zahl bei einer Filmlaufzeit von etwa hundert Minuten – illustriert Fedorchenko Aspekte der Mari-Kultur im Hinblick auf die weibliche Sexualität. Gedreht wird vor Ort und ausschließlich in Mari-Sprache, teilweise mit professionellen Schauspielerinnen, oftmals mit Laien. Jede Szene trägt den Namen seiner weiblichen Hauptfigur. Alle beginnen sie mit O. Da haben wir: Oshtylech, Onya, Oropti, Okanay. Alle werden sie entjungfert, gebären, verlieben sich, oder bekommen es mit übelgesinnten Waldgeistern zu tun. Ein Mädchen hat seinen ersten sexuellen Kontakt in einem Kuhstall, wo es seinem Schwarm die Brust zum Säugen gibt. Ein anderes scheint mit dem Wind verlobt zu sein, und bestraft einen jungen Mann, der entgegen ihrer Warnungen dieses Geheimnis entdeckt hat. Ein drittes erhält von einer alten Frau den Rat, den Jüngling, in den es verschossen ist, aufzufordern, ihr seinen Penis zu zeigen, und schon würde er sie heiraten wollen, und nicht ihre Rivalin - was funktioniert. Wiederum ein anderes erzürnt den Geist einer Birke, weil es vor ihr mit einem Buben knutscht. Ein letztes wird von ihrer Tante in die Freuden der Liebeslust eingeweiht, indem diese ein bizarres Waschungsritual an ihr vollzieht. Wie bei Pasolini herrscht in jedem dieser mal traurigen, mal komischen, mal schaurigen, und immer skurrilen Segmenten eine unbändige, beinahe kindliche Begeisterung für die Zauber des Lebens. Fedorchenko ist auf Augenhöhe mit seinen Protagonistinnen. Er filmt deren Welt aus deren Perspektive. Es wird nichts kontextualisiert, nichts erklärt, nichts unnötig verklausuliert. Es ist so, als habe ich in einem Antiquariat ein altes Buch mit Märchen einer mir völlig fremden Kultur gefunden, und kann nicht mehr aufhören, darin zu blättern. Mit dem Kopf verstehe ich die Pointen nicht. Ich verstehe die Pointen mit etwas anderem.
Schon allein dafür, mich unvermittelt in der Fremde auszusetzen, und sofort wieder abzuholen, verdient NEBESNYE ZHENY LUGOVYKH MARI mein größtes Lob. Noch größer wird es, wenn ich in Rechnung stelle, wie großartig dieses Märchenbuch verfilmt wurde. Fedorchenko weiß genau, wie er eine Szene montieren muss, um mir entscheidende Informationen zuzuschieben, im Großen und Ganzen aber ihre Rätselhaftigkeit zu wahren. Fedorchenko weiß ebenfalls, wie man mit statischen Kameraaufnahmen beeindruckende Panoramen aus Landschaft, Kostümen und Frauenkörpern konstruiert. Nicht zuletzt weiß Fedorchenko, dass eine feine, subtile Ironie, ein schelmisches Augenzwinkern der beste Wegbegleiter ist, um Menschen in eine völlig neue Welt zu entführen. Sein Film ist keine Nostalgiestunde für die Altvorderen, die einer vergangenen Zeit hinterhertrauern, und darüber völlig die Gegenwart vergessen – eine Tendenz, die man Pasolinis DECAMERONE mit seinen erotischen Jubelfesten auf ein (imaginäres) Mittelalter, in dem die Körper, die Gesellschaft, die Liebe noch nicht korrumpiert gewesen sein sollen vom kapitalistischen Duktus der Konsumierbarkeit, durchaus ankreiden kann. Sein Film – unterlegt übrigens sowohl von Mari-Folklore wie auch von Russendisco, Opernklängen, zarten Klaviertupfern und am Schluss einem entzückenden Stück, das von Sigur Rós stammen könnte – handelt von universellen Dingen, die mir und Dir passieren, Tag für Tag: Erste Liebe, erster Sex, und, dass sich böse Geister in Gestalt aufreizender Jünglinge materialisieren, um nackte Mädchen für sie tanzen zu lassen.
Es gibt für mich nicht einen einzigen Grund, weshalb irgendwer dieses unverhoffte Meisterwerk nicht genauso ins Herz schließen sollte wie ich.
Der Film ist keine Dokumentation. Eher steht er in der Tradition dessen, was Pasolini Anfang der 70er mit seiner Leinwandadaption von Boccaccios Querschnitt durch die italienische Gesellschaft, dem DECAMERONE aus dem 14. Jahrhundert, versucht hat: In kurzen und kürzesten Episoden – insgesamt vierundzwanzig an der Zahl bei einer Filmlaufzeit von etwa hundert Minuten – illustriert Fedorchenko Aspekte der Mari-Kultur im Hinblick auf die weibliche Sexualität. Gedreht wird vor Ort und ausschließlich in Mari-Sprache, teilweise mit professionellen Schauspielerinnen, oftmals mit Laien. Jede Szene trägt den Namen seiner weiblichen Hauptfigur. Alle beginnen sie mit O. Da haben wir: Oshtylech, Onya, Oropti, Okanay. Alle werden sie entjungfert, gebären, verlieben sich, oder bekommen es mit übelgesinnten Waldgeistern zu tun. Ein Mädchen hat seinen ersten sexuellen Kontakt in einem Kuhstall, wo es seinem Schwarm die Brust zum Säugen gibt. Ein anderes scheint mit dem Wind verlobt zu sein, und bestraft einen jungen Mann, der entgegen ihrer Warnungen dieses Geheimnis entdeckt hat. Ein drittes erhält von einer alten Frau den Rat, den Jüngling, in den es verschossen ist, aufzufordern, ihr seinen Penis zu zeigen, und schon würde er sie heiraten wollen, und nicht ihre Rivalin - was funktioniert. Wiederum ein anderes erzürnt den Geist einer Birke, weil es vor ihr mit einem Buben knutscht. Ein letztes wird von ihrer Tante in die Freuden der Liebeslust eingeweiht, indem diese ein bizarres Waschungsritual an ihr vollzieht. Wie bei Pasolini herrscht in jedem dieser mal traurigen, mal komischen, mal schaurigen, und immer skurrilen Segmenten eine unbändige, beinahe kindliche Begeisterung für die Zauber des Lebens. Fedorchenko ist auf Augenhöhe mit seinen Protagonistinnen. Er filmt deren Welt aus deren Perspektive. Es wird nichts kontextualisiert, nichts erklärt, nichts unnötig verklausuliert. Es ist so, als habe ich in einem Antiquariat ein altes Buch mit Märchen einer mir völlig fremden Kultur gefunden, und kann nicht mehr aufhören, darin zu blättern. Mit dem Kopf verstehe ich die Pointen nicht. Ich verstehe die Pointen mit etwas anderem.
Schon allein dafür, mich unvermittelt in der Fremde auszusetzen, und sofort wieder abzuholen, verdient NEBESNYE ZHENY LUGOVYKH MARI mein größtes Lob. Noch größer wird es, wenn ich in Rechnung stelle, wie großartig dieses Märchenbuch verfilmt wurde. Fedorchenko weiß genau, wie er eine Szene montieren muss, um mir entscheidende Informationen zuzuschieben, im Großen und Ganzen aber ihre Rätselhaftigkeit zu wahren. Fedorchenko weiß ebenfalls, wie man mit statischen Kameraaufnahmen beeindruckende Panoramen aus Landschaft, Kostümen und Frauenkörpern konstruiert. Nicht zuletzt weiß Fedorchenko, dass eine feine, subtile Ironie, ein schelmisches Augenzwinkern der beste Wegbegleiter ist, um Menschen in eine völlig neue Welt zu entführen. Sein Film ist keine Nostalgiestunde für die Altvorderen, die einer vergangenen Zeit hinterhertrauern, und darüber völlig die Gegenwart vergessen – eine Tendenz, die man Pasolinis DECAMERONE mit seinen erotischen Jubelfesten auf ein (imaginäres) Mittelalter, in dem die Körper, die Gesellschaft, die Liebe noch nicht korrumpiert gewesen sein sollen vom kapitalistischen Duktus der Konsumierbarkeit, durchaus ankreiden kann. Sein Film – unterlegt übrigens sowohl von Mari-Folklore wie auch von Russendisco, Opernklängen, zarten Klaviertupfern und am Schluss einem entzückenden Stück, das von Sigur Rós stammen könnte – handelt von universellen Dingen, die mir und Dir passieren, Tag für Tag: Erste Liebe, erster Sex, und, dass sich böse Geister in Gestalt aufreizender Jünglinge materialisieren, um nackte Mädchen für sie tanzen zu lassen.
Es gibt für mich nicht einen einzigen Grund, weshalb irgendwer dieses unverhoffte Meisterwerk nicht genauso ins Herz schließen sollte wie ich.