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Das Ziegenhorn - Metodi Andonov (1971)

Verfasst: Sa 2. Jun 2018, 22:31
von Salvatore Baccaro
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Produktionsland: Bulgarien 1972

Regie: Metodi Andonov

Darsteller: Katya Paskaleva, Anton Gorchev, Todor Kolev, Milen Penev, Kliment Denchev, Nevena Andonova
Der Film setzt ein mit einer Texttafel. Seine blutige Geschichte spiele im Bulgarien des achtzehnten Jahrhunderts. Sie beginne mit einem Akt der Gewalt.

In den letzten Wochen habe ich mir eine Handvoll Filme angeschaut, die mich vor Jahren derart begeisterten, dass sie zwar auf meiner persönlichen Meisterwerk-Liste landeten, mir seitdem allerdings nicht mehr über den Weg gelaufen sind, und die außerdem eint, dass sie allesamt an – aus westlicher Mainstream-Perspektive betrachtet – an eher exotischen Kino-Standorten wie dem Senegal, Ägypten, den Philippinen oder eben Bulgarien entstanden sind. Keiner von ihnen hat mich bei unserem erneuten Rendezvous bisher enttäuscht. Mein Filmgeschmack scheint sich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren kaum verändert zu haben. Ich kann komplett nachvollziehen, was mein früheres Ich so euphorisch zucken ließ bei Filmen wie Djibril Diop Mambétys nouvelle-vagueskem Road-Movie TOUKI BOUKI (1973), oder bei Mohammed Shebls vollkommen überzwerger ROCKY-HORROR-PICTURE-SHOW-Hommage beziehungsweise Vampirfilm-Dekonstruktion ANYAB (1981), oder bei dem sexploitativen Dorfdrama SILIP (1985) von Elwood Perez. Auch Metodi Andonovs KOZIJAT ROG von 1971 hat seinen Platz in meinem cinephilen Herz mit Bravour verteidigt.

Der Gewaltakt, von dem in der einleitenden Texttafel die Rede ist, besteht in einer Vergewaltigung mit )versehentlicher) Tötung einer jungen Frau, die, während ihr Gatte die Ziegen hütet, von einer vierköpfigen Halunkenbande überfallen wird. Zeugin des Vorgangs ist nur die kleine Tochter Maria, deren Reihe an Traumata sich fortsetzt, als ihr Vater nach Hause zurückgekehrt. Schockiert über den Anblick, der sich ihm darbietet, zündet er kurzerhand die Hütte an. Sein Wunsch nach Rache lässt ihn unsere Heldin als Jungen erziehen. Er schneidet ihr die Haare ab, verbietet ihr jedes kindliches oder mädchenhaftes Verhalten und entsprechende Garderobe, unterrichtet sie im Gebrauch von Waffen und Kampfkunst. Sein Plan: Maria soll als Erwachsene die Mörder ihrer Mutter richten. Jahre später spürt das Gespann aus Vater und Tochter die vier Räuber von damals auf, um sie auf grausame Weise in den Tod zu befördern…

Mit den Referenzen könnte ich eine ganze Seite füllen: Aufgrund der Rachegeschichte erinnert KOZIJAT ROG an eine Art SHURAYUKI-HIME (1973) oder THRILLER – EN GRYM FILM (1973) im Bulgarien des achtzehnten Jahrhunderts. Gleich-eitig sind natürlich auch František Vláčil beiden Mittelalter-Epen MARKETA LAZAROVÀ (1967) und ÚDOLÍ VCEL (1968) oder Ingmar Bergmans JUNGFRUKÄLLAN (1960) nicht weit. Ein Name wie Sergej Paradschanow drängt sich mir ebenfalls auf. Doch ist der seinerzeit mit Preisen überhäufte, in einer deutschen Synchronfassung in der DDR gezeigte und heute unverständlicherweise weitgehend vergessene vierte und leider letzte Film Andonovs – der Regisseur stirbt nicht mal ein Jahr nach der Premiere von KOZIJAT ROG – eigenständig genug, um gänzlich ohne derartige Verwandtschaftslinien und Querbezügen seinen Status als kinematographisches Kleinod bestreiten zu können.

Filme als Medien, in die sich ihre zeitlichen und geographischen Kontexte, ob sie es wollen oder nicht, unweigerlich einschreiben, haben es naturgemäß wesentlich schwieriger als andere Kunstformen, noch nach langen Zeiträumen ihre Frische zu bewahren, und als historische Artefakte weiterhin unmittelbar und gleichsam zeitlos zu wirken. Eine Methode, dem nagenden Zeitzahn nicht so viel Angriffsfläche zu bieten, ist ein Weg des konsequenten Reduktionismus, den auch KOZIJAT ROG mit beinahe tänzerischem, völlig unaufgeregtem Schritt beschreitet. Seine kargen Schwarzweißbilder, seine präzisen Schilderungen eines unter ottomanischer Herrschaft stehenden Kulturraums, in dem sich osteuropäische und muslimische Traditionen vermischen, seine Schauspieler, die miteinander kaum zehn nennenswerte Dialogsätze wechseln, dafür ihre Gesichter umso beredeter sprechen lassen, seine Geschichte, verfasst von Nikolai Haitov nach einer eigenen Erzählung, die universell ist, und zu jedem Zeitpunkt an jedem Ort hätte stattfinden können, da sie von menschlichen Gefühlen handelt, die sich im Laufe der Geschichte kaum beträchtlich gewandelt haben, seine Absenz von extradiegetischer Musik und überhaupt eine tiefe Affinität zu Stille und Naturgeräuschen – all das erweckt den Eindruck, Andonov habe das Kino mit KOZIJAT ROG auf seine Ursprünge zurückführen wollen. Im Grunde funktioniert sein Werk als Stummfilm. Die Handlung ist mythisch, archaisch. Seine Bilder sind von einer rauen Zartheit.

Es gibt so viele ergreifende Momente in KOZIJAT ROG – ergreifend auch deshalb, weil der Film sie mit einer ganz bescheidenen Geste präsentiert. Maria soll einen weiteren Mörder ihrer Mutter aus einem Hinterhalt erschießen. Als sie ihn verliebt mit seiner Ehefrau schäkern sieht, senkt sie ihre Büchse. Sie bringt es nicht übers Herz, eine Unschuldige durch seinen Tod ins Unglück zu stürzen. Als Maria mit einem Zicklein schäkert, ist das für ihren Vater zu viel Gefühlsduselei. Er schlachtet das Tier, dem sie verspielt ein Band um den Hals gebunden hat, vor ihren Augen, und zwingt sie, es anschließend noch zu häuten, zu kochen, zu verspeisen. Aber auch das kann nicht verhindern, dass Maria sich alsbald in einen jungen Mann verknallt, zu dem sie sich immer öfter heimlich hin stiehlt, ihn schließlich im Verborgenen heiratet. Zwischen zwei Schnitten lässt der Film unsere Heldin ihre Unschuld verlieren: Eben noch steht sie angezogen bei einem Wasserfall. Die Kamera fährt ihren Körper nach unten ab. Als sie wieder hochguckt, ist Maria nackt, und legt sich in die Arme ihres Liebhabers.

Stundenlang könnte ich übrigens dem heidnischen Fest – eine Art Perchtenzeremonie – zuschauen, bei der sämtliche Beteiligte kuriose Masken und Kostüme aus Tierfellen tragen, und mit irgendwelchen Schellen lärmen, und von wo Maria und ihr Vater einen ihrer Feinde verschleppen. Stundenlang könnte ich beim Finale den Atem anhalten, bei dem sich die Ankündigung der Texttafel wiederholt: Unsere blutige Geschichte endet mit einem Akt der Gewalt.
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