Ein einfaches Ereignis & Stillleben - S. Shahid Saless(1974)

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Salvatore Baccaro
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Ein einfaches Ereignis & Stillleben - S. Shahid Saless(1974)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Yek Etefagh sadeh

Produktionsland: Iran 1974

Regie: Sohrab Shahid Saless

Darsteller: Ane Mohammad Tarikhi, Mohammed Zamani, Hedayatollah Navid, Hibibollah Safarian

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Originaltitel: Tabiate bijan

Produktionsland: Iran 1974

Regie: Sohrad Shahid Saless

Darsteller: Zadour Bonyadi, Zahra Yazdani, Mohammed Kani, Hibibollah Safarian, Habib Safaryan
Wie alt genau er ist, das weiß Mohamad Sardari nicht. Nur, dass er bereits drei Jahrzehnte seinem Beruf nachgeht, kann er seinen Vorgesetzten bei einer Stippvisite versichern. Sein Beruf, das ist, irgendwo in der iranischen Einöde in einem Bahnhäuschen zu sitzen, und alle paar Tage einmal die Schranke niederzulassen, weil eine Schafsherde oder ein vom Weg abgekommener Bus vor den ebenfalls mehr als selten vorbeirauschenden Züge gewarnt werden müssen. Wenn Mohamad nicht in seinem Bahnwärterkabuff sitzt, sitzt er in seinem Eigenheim, das ganz ähnlich eingerichtet ist wie sein Arbeitsplatz. Auch dort vergeht die Zeit so schleppend, dass sie sich kaum zu rühren scheint. Mohamad raucht pausenlos Zigaretten, die ihn schrecklich husten lassen. Er löffelt langsam seine Abendsuppe. Er starrt Löcher in die Luft. Seine Frau wiederum ist tagaus, tagein damit beschäftigt, Teppiche zu nähen, oder damit, ihm den Tee aufzutischen, oder damit, ebenfalls Löcher in die Luft zu starren. Ein Radio, einen Fernsehapparat, oder Gespräche, die über unbestimmte Bemerkungen zum Wetter hinausgehen würden, kennen die Eheleute nicht. Manchmal kommen einmal Kunden aus einem der nächstgelegenen Dörfer vorbei, um einen Teppich zu kaufen. Manchmal ist auch der zum Wehrdienst abkommandierte Sohn zu Besuch. Er schläft dann auf der Pritsche, die eigentlich der Schlafplatz seines Vaters ist. Die Mutter und Gattin indes schläft immer auf dem Boden. Jeder Tag ähnelt dem nächsten. Jeder Tag ähnelt dem vorangegangen. Es ist, als würden diese beiden Menschen eigentlich nur noch darauf warten, dass ein Glied dieser endlosen Kette aus Tagen sich von den übrigen dadurch unterscheidet, dass es ihr letzter ist.

Wie alt genau er ist, das wissen wir nicht von Mohamad. Nur, dass er noch zur Schule geht, deren Bank er eher erfolglos drückt. Er genügt den Anforderungen gerade so weit wie es nötig ist, um keinen Verweis zu kassieren. Einmal aber bringt er seinen Lehrer aber doch in Misskredit: Der Schulinspektor ist zugegen, und Mohamad soll die Ahnengalerie irgendeiner persischen Dynastie herunterbeten, und bringt kein Wort über die Lippen. Dass es bei ihm um die Leistungen so schlecht bestellt ist, liegt weniger daran, dass er diese nicht erbringen will, sondern dass er es schlicht nicht schafft, sich nach Schulschluss noch seinen Hausaufgaben zu widmen. Die Mama, die liegt nämlich todkrank zu Hause im Bett. Der Papa ist tagsüber beim Fischfang, und Mohamad muss ihm beim Entladen seiner Fracht helfen, und diese danach in einem Laden zu Geld machen, das er dann wiederum dem Papa bringt, der seinen Feierabend saufend in der Kneipe beschließt, und, wenn er besonders gnädig ist, dem Jungen keine scheuert, wenn er, wie so oft, und obwohl er andauernd die Beine in die Hand nimmt, zu spät kommt. Abends nickt er dann über den Schulheften ein, in einer ärmlichen Behausung, die widerhallt vom Röcheln und Husten der Mutter, und dem alkoholseligen Schnarchen des Vaters. Während letzterem das Bett gehört, richten sich Mutter und Sohn notdürftig mit Matten auf dem schmutzigen Boden ein. Jeder Tag ähnelt dem nächsten. Jeder Tag ähnelt dem vorangegangen. Es ist, als würde diese Familie am Existenzminimum und in der sozialen Verelendung eigentlich nur noch darauf warten, dass ein Glied dieser endlosen Kette aus Tagen sich von übrigen dadurch unterscheidet, dass es ihr letzter ist.

Wenn es einen Rastlosen des internationalen Kinos gegeben hat, dann ist das wohl Sohrab Shahid Saless. Er wird 1944 in Teheran geboren, studiert in Wien Theaterdramaturgie, kehrt Ende der 60er in den Iran zurück, wo er zunächst Dokumentarfilme dreht, und 1974 zwei Spielfilme, die YEK ETEFAGH SADEH und TABIATE BIJAN heißen. International mit Preisen überschüttet, helfen sie zwar zunächst, das Renommee des Exponenten der Neuen Iranischen Welle auch im Heimatland zu stabilisieren. Trotzdem wird Shahid Salesss‘ nächstes Projekt mitten in den Dreharbeiten unterbrochen. Zu extrovertiert ist die Dissidentenhaltung des Regisseur dem Schah-Regime gegenüber inzwischen, und zu stark sein Wille, eher schwierige gesellschaftliche Themen anzufassen. Shahid Saless verlässt den Iran also ein zweites Mal, diesmal für immer. Er geht nach Westdeutschland, wo er bis in die frühen 90er hinein vorwiegend fürs Fernsehen arbeitet. Da es ihm als Ausländer, der nur eine Arbeitserlaubnis und keine Aufenthaltsgenehmigung hat, unmöglich ist, eigene Filme zu produzieren, ist er auf Auftragsprojekte angewiesen. Enttäuscht davon, dass seine wenigen Kinofilme durch die Raster von Publikum und Kritik fallen, zieht es ihn zwischenzeitlich in die Tschechoslowakei, und schließlich, als letzte Station, in die USA, wo er, verbittert und alkoholkrank, 1998 verstirbt. Dass sein Werk derart in Vergessenheit geraten ist, und nicht einmal die in Westdeutschland produzierten Filme anders zu erhalten sind als in Form im Netz zirkulierender TV-Mitschnitte in katastrophaler Qualität, verwundert mich, der ich nun seine beiden iranischen Frühwerke gesehen habe, ungemein.

Eines Tages erhält Mohamad seine Entlassung. Der jüngere Kollege befindet sich bereits vor Ort, und wartet darauf, dass Bahnhäuschen und Eigenheim verlassen werden, damit er sich dort einrichten kann. Mohamad entschließt sich, dem drohenden Verlust der liebgewonnenen Monotonie, des emotionslosen Alltagstrotts, der einander bis in Details gleichenden Tagesabläufe, die keine Enttäuschungen und keine Überraschungen bergen, vorzubeugen, indem er in die Stadt reist, und die Bahngesellschaft darauf hinweist, offensichtlich einen Fehler begangen zu haben: Ihn, der doch immerhin seit dreißig Jahren in ihrem Dienst stehe, könne man doch nicht einfach aus seinem Beruf kicken…

Eines Tages verstirbt Mohamads Mutter. Vater und Sohn stehen eine Weile am frischen Grab, bevor ersterer sich umwendet, und mit schnellen Schritten zurück in den gewohnten Alltagstrott eilt. Als Trostpflaster für den Jungen hat er - zu mehr Zärtlichkeiten ist er offenbar nicht fähig - lediglich einen Geldschein übrig. Er solle sich davon was Schönes kaufen. Mohamad gibt das Geld für etwas zu Essen und zu Trinken aus. Schlemmend steht er am einzigen Tisch in der kargen Hütte, während der Papa sturzbetrunken wie immer über die Schwelle torkelt und halb besinnungslos auf die Matratze stürzt…

Dass Shahid Saless zuvor im dokumentarischen Sektor tätig gewesen ist, meint man YET ETEFAGH SADEH und TABIATE BIJAN in jeder Pore anzusehen. Zurückgenommen, in beinahe schmerzhafter Ereignislosigkeit, lässt der damals dreißigjährige Regisseur die Bilder für sich sprechen – und die wiederum erzählen mir von ziemlich schlimmen Dingen, die umso schlimmer wirken, weil sie so alltäglich, so banal, so akzeptabel herüberkommen. Wenn Mohamad Sardari und Eheweib minutenlang in Echtzeit dabei beobachtet werden, wie sie ihr Vesperbrot zu sich nehmen, oder wenn der Schulbub Mohamad lange Blicke aus dem Klassenzimmerfenster wirft, und das Treiben der Stadt betrachtet; wenn Mohamad Sardari mit seinem Sohn ein Gespräch führt, das größtenteils aus Schweigen, und einigen wenigen eher zufällig dazwischenpurzelnden einsilbigen Fragen und Antworten, oder wenn der Schulbub Mohamad von seinem Vater einen Anzug gekauft bekommen soll, der ihn aber sofort auffordert, er solle ihn wieder ausziehen, als der Händler einen ihm viel zu hohen Preis nennt; wenn es zu Mohamad Sardaris aufregendsten Erlebnissen des Arbeitsalltag gehört, dass eine Schafsherde seinen Bahnübergang überquert, und wenn es zu den aufregendsten Erlebnissen des Alltags des Schulbuben Mohamads gehört, wenn er seinem Vater inmitten von dessen Saufkumpanen einen Brief irgendwelcher Verwandter laut vorlesen darf – dann braucht Shahid Saless im Grunde einzig sein Gespür für triste Farben, für quälend lange Plansequenzen, in denen seine Protagonisten die immergleichen, nicht einmal minimal variierten Handgriffe ausführen und Dialoge murmeln, und für zwar schmucklose, aber mit genauem Augenmaß komponierte Bilder, um mich völlig in diese der Wirklichkeit wohl gar nicht so ferne Welt hineinzuzerren, die ausschaut und sich anfühlt, als habe man sie zur Ader gelassen, um ihr jegliche bunten Flecken, jegliche Leidenschaft, jegliche Aufregung, jegliche emotionale Interaktion auszusaugen.

Chantal Akermans JEANNE DIELMAN ist nicht weit entfernt, wenn für das Greisenpaar in TABIATE BIJAN jede mini-male Variation im Alltagsablauf einen ungemeinen Kraftakt bedeutet, und an Abbas Kiarostamis Frühwerk kann man denken, wenn YET ETEFAGH SADEH das trostlose Leben eines kleinen Jungen aus dessen Perspektive illustriert. Auch Robert Bresson liegt nahe, da Shahid Saless es liebt, keine psychologisch ausgefeilten Charaktere zu entwerfen, sondern sich das gesamte Drama der menschlichen Existenz anhand winziger Gesten, stummer Gesich-ter, kaum wahrnehmbarer Blicke entfalten zu lassen. Dennoch: Mit einer ästhetischen Choreographie wie JEANNE DIELMAN sie ist, und dem warmherzigen Humanismus Kiarostamis haben TABIATE BIJAN und YET ETEFAGH SADEH genauso wenig zu tun wie mit der impliziten Metaphysik Bressons. Es verblüfft mich selbst, dass ich das einmal schreibe, aber jedes Werk der drei genannten Filmemacher nimmt sich im Gegensatz zu Shahed Salass' beiden Spielfilmen wie ein actionreicher Blockbuster aus. Möglicherweise sind YET ETEFAGH SADEH und TABIATE BIJAN die Erfüllung der Träume, mit denen damals Neorealisten wie de Sica oder Rossellini zu Bett gingen: Es sieht nicht so aus, als ob da eine fiktionale Welt konstruiert werden würde, nein, vielmehr scheint die fiktionale Welt mit der realen derart identisch, dass die Unterscheidung allein schon keinen Sinn mehr macht.

Dass Shahid Saless es schafft, seine minimalistischen Meditationen über im Grunde Nichts dennoch – zumindest für mich – zu keinem Zeitpunkt langweilig wirken zu lassen, liegt, neben der Präzision von Montage, Kameraarbeit, und Schauspielführung, sicherlich mit daran, dass beide Stillleben trotz allen Stillstands eine Geschichte erzählen – und zwar einmal die durchaus anrührende eines alten Mannes, der nichts im Leben hat als seinen eintönigen Alltag, und der – vielleicht der wagemutigste Schritt, den er jemals unternommen hat! – sich entscheidet, um diesen zu kämpfen, und wenn er dafür auch sein graumeliertes Eremitendasein kurzzeitig verlassen, und sich mit den Autoritäten in der Stadt auseinandersetzen muss; und andererseits die eines kleinen Jungen, der, wenigstens einmal im Leben, die Freiheit genießt, einen ihm allein gehörigen Geldschein, für den freilich die eigene Mutter ihrer Tuberkulose erliegen musste, zu verpfeffern, und anschließend für eine Viertelstunde wie im Schlaraffenland in Saus und Braus zu schlemmen, bevor die Heimkehr des Vaters den ephemeren Glücksmoment die Flügel stutzt. Allerdings sollte man selbst in diesen Szenen keine dramaturgischen Exzesse erwarten: Beide Filme enden genauso – im wahrsten und besten Wortsinne – nichtssagend wie sie begonnen haben.

Wie viel dezidierte Kritik am politischen System des Schahs nun in Shahid Salass' iranischem Spielfilm-Oeuvre steckt, das wird mir wohl nur ein Landsmann beantworten können, der etwaige Anspielungen und Querverweise problemlos zu dechiffrieren vermag. Aber auch ohne derartige Exegese sind YET ETEFAGH SADEH und TABIATE BIJAN zeitlose Meisterwerke über die Trostlosigkeit des Alters, die Fallstricke der täglichen Routine, das Gefängnis der Gewohnheiten, dysfunktionale Familien am Rande der Gesellschaft, die Hilflosigkeit junger Menschen, die in ein Hamsterrad hineingeboren werden, das sie aus eigener Kraft niemals verlassen werden können, und stellenweise gar kafkaesk in ihrer Schilderung eines familiären oder institutionalisierten Systems, das seine einzelnen Schräubchen absurde, weil nichtige Aufgaben über Jahrzehnte hinweg erledigen lässt, während derweil ihre Lebenskraft und Lebenszeit dahinkümmern wie Blumen unter Glasglocken.
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