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Kindergesichter - Jacques Feyder (1925)

Verfasst: So 16. Sep 2018, 16:41
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Visages d'enfants

Produktionsland: Frankreich/Belgien 1925

Regie: Jacques Feyder

Darsteller: Jean Forest, Pierrette Houyez, Arlette Peyran, Victor Vina, Rachel Devirys
Es ist wie mit dem ersten Sex, wie mit dem ersten Vollrausch, wie mit dem ersten Mal weinend eine Kuh zu umarmen, wie mit dem ersten Mal ohne Strom auf einer Ostseeinsel festsitzen, wie mit dem ersten Mal in der Frankfurter Innenstadt zelten. Man hat viel darüber gelesen, und kann sich ungefähr vorstellen, wie es sich anfühlen und was es mit einem machen wird, doch dann, wenn es einem widerfährt, ist es doch ganz anders, und meistens viel schöner.

Auch über VISAGES D’ENFANTS hatte ich schon einiges gelesen, und ausnahmslos Gutes. Ursprünglich 1923 gedreht, kam die schweizerisch-französische Co-Produktion erst 1925 in die Kinos. Mitgearbeitet an ihr haben Meister ihres Fachs: Jacques Feyder führt Regie und besorgt den Schnitt, die Kamera kurbelt Léonce-Henri Burel, der vorher schon für Abel Gance tätig war, und später für Robert Bresson tätig sein wird. Beim zeitgenössischen Publikum fällt VISAGES D’ENFANTS, wie viele andere Edelsteine des Kinos, allerdings gnadenlos durch. Wie ebenfalls bei vielen anderen Edelsteinen des Kinos müssen Jahrzehnte ins Land gehen, bis Jean Mitry schreiben wird, dass, wenn er nur einen einzigen französischen Film der 20er vor der Vernichtung retten könne, es mit Sicherheit dieser hier wäre. Die Sekundärliteratur überschlägt sich seitdem in ihren Lobgesängen auf die Außenaufnahmen des Films, der an Originalschauplätzen im Oberwallis vor imposanter Bergkulisse gedreht worden ist, und vergleicht ihn mit bildgewaltigen Werken von Schweden wie Victor Sjöström oder Mauritz Stiller. Zu lesen ist ebenso oft, dass VISAGES D’ENFANTS einer der ersten Filme überhaupt sei, der konsequent die Sicht seiner minderjährigen Protagonisten einnehme, und seine Geschichte rein aus den titelgebenden Kindergesichtern bzw. -augen erzählen würde. Dabei strotze er nur so vor kreativen Regieeinfällen, sei zwar melodramatisch, aber niemals sentimental, und seine Kinderdarsteller würden absolut realistisch agieren, ohne weit ausholende Theatergesten und rollende Augen. Das alles kann man lesen, und glauben, aber wirklich glauben tut man es erst, wenn man es gesehen hat.

Der Ortsvorsteher einer kleinen Gemeinde irgendwo in den Schweizer Bergen sieht sich als Witwer vor die Aufgabe gestellt, seine beiden Kinder, den zehnjährigen Jean und die fünfjährige Pierette, alleine aufzuziehen. Da es aber im Dorf noch eine andere Witwe gibt, eine ebenfalls alleinerziehende Mutter einer halbwüchsigen Tochter, entschließt sich Pierre dazu, ein zweites Mal zu heiraten. Jean ist davon wenig begeistert, zu groß ist die Eifersucht auf die Stiefmutter, und auf die vielleicht zwölfjährige Halbschwester Jeanne, die er als direkte Konkurrentin um die Gunst der Eltern ansieht. Zwischen den Kindern, auf der einen Seite die verschworene Gemeinschaft von Jean und Pierette, auf der andern Jeanne, die mal forsch, mal flehentlich in diese vorzudringen versucht, wachsen sich die Animositäten zu wahrer Feindschaft aus, die Jean auf einen bösen Gedanken bringen: Als Jeanne im tiefsten Winter ihre Puppe im Schnee verloren hat, erklärt er ihr, er sei sicher, sie müsse bei der Brücke im Wald liegen, und dass sie sich nachts aus dem Haus schleichen solle, um sie zu holen, denn die Eltern würden bei dem Wetter wohl kaum mit ihr dorthin fahren, und sie auch nicht alleine gehenlassen. Natürlich ist das erstunken und erlogen, und Jeanne gerät, als sie sich verläuft und eine Lawine auf sie herabregnet, in Lebensgefahr…

Nichts kann ich hinzufügen, was nicht schon in den oben zitierten Quellen zu finden ist, nur meine eigenen Emotionen, zu deren Spielball mein Körper wird, als ich vor einigen Wochen wegen der Hitze nicht schlafen kann, und das Fenster aufreiße, um wenigstens die etwas kühle Seeluft hereinzulassen, und mir VISAGES D’ENFANTS anschaue, ohne viel zu erwarten, ohne viel zu hoffen. Der Titel ist Programm: Noch bevor irgendein Erwachsener eine Großaufnahme bekommt, haben wir die Gesichter Jeans und Pierettes in Großaufnahme liebgewonnen. Wie Jean bei der Beerdigung seiner Mutter zusammenbricht, wie er danach mit ihr über die Photographie kommuniziert, die gerahmt über seinem Bett hängt, wie sie ihm aus dieser zulächelt, für immer jung, und wie Pierette den Tod der Mutter erst gar nicht begreifen kann, und mit ihren Puppen spielt, während Männer aus dem Dorf den Sarg holen kommen, und wie sie sch freut, als ihr Bruder nach Wochen der Abwesenheit, die er mit dem Pfarrer in ein Nachbardorf gereist ist, plötzlich wieder vor ihr steht, und wie sie auf der Alm herumsitzen, und zahme Ziegen ihnen die Haare vom Kopf fressen, das alles ist herzzerreißend und herzallerliebst. Mir den Atem verschlagen die Landschaftsaufnahmen, bei denen die Berge, die Wälder, die Jahreszeiten beinahe zu eigenständigen Protagonisten des Dramas werden, jedoch ohne dass Feyder die Schönheiten des Wallis irgendwie plakativ und selbstzweckhaft ausstellen würde. Nicht mal das Finale wirkt, obwohl Potential dafür durchaus vorhanden gewesen wäre, allzu dickaufgetragen, trotz oder gerade weil alles letztlich ausgeht wie im Märchen. Wenn es dann noch einen point-of-view-Schuss aus einer rollenden Lawine heraus gibt, als würden wir mit deren Augen die Landschaft betrachten, die sie unter sich verschüttet, und wenn die Kinderdarsteller sich vor der Kamera benehmen wie echte Kinder, völlig unaffektiert und mit beiden Füßen auf dem Boden ihre psychologisch absolut glaubwürdigen Charaktere mit Leben füllen, und wenn der Film zeitweise regelrecht schwelgt in den Bildern von malerischen Bergfriedhöfen, Ziegenherden, Kätzchen, die nach Baumwollknäueln die Tatzen ausstrecken, Leichenprozessionen oder Berglern, die in tiefster Nacht – und diese Szene wurde tatsächlich in tiefster Nacht gedreht! – mit ihren Fackeln ausschwärmen, um die vermisste Jeanne zu suchen, dann gibt es für mich kein einziges Suppenhaar, das mir den Genuss dieses wunderschönen, zutiefst menschlichen, unaufgeregten und gerade dadurch so aufregenden Meisterwerks auch nur ein bisschen verleiden würde.

Wenn ich nur einen einzigen französischen Film der 20er vor der sicheren Vernichtung retten könnte, würde dieser hier mit Sicherheit in die allerengste Auswahl gelangen.
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