November - Rainer Sarnet (2017)
Verfasst: So 4. Nov 2018, 11:36
Originaltitel: November
Produktionsland: Estland 2017
Regie: Rainer Sarnet
Darsteller: Rea Lest, Jörgen Liik, Arvo Kukumägi, Dieter Laser, Katariina Unt, Taavi Eelmaa
Nächste Woche wird einmal mehr das alljährliche Braunschweiger Internationale Filmfestival nur ein paar Katzensprünge entfernt von meiner Wohnung stattfinden. Leider werde ich mehr als die Hälfte der Zeit nicht in der Stadt sein, und neben dem neuen Film von Gaspar Noe, CLIMAX, ist es vor allem Rainer Sarnets NOVEMBER aus dem Jahre 2017, von dem ich jetzt schon bedauere, ihn nicht auf der großen Leinwand bewundern zu können - wobei ich mich, was den Wermutstropfen zumindest ein bisschen mit Rohrzucker verfeinert, sowieso zwischen einem von beiden hätte entscheiden müssen, da sie nahezu zeitgleich gezeigt werden...
Obwohl es schon eine Weile her ist, dass ich diesen Film, von dem ich damals wenig wusste und noch weniger erwartete, gesehen habe, sind mir mehr als eine Handvoll Szenen nach wie vor präsent, als hätten sie mir erst gestern den Schlaf geraubt: Eine Dorfgemeinde irgendwann im neunzehnten Jahrhundert, irgendwo in Estland möchte herausfinden, wer unter ihnen mit dem Teufel einen Pakt geschlossen hat, wozu sich sämtliche Dorfbewohner in einer Scheune bäuchlings hinlegen, ihre Allerwertesten schutzlos ausstrecken, zugleich aber die Hosen über die Köpfe stülpen, um eine Ziege, die daraufhin hereingescheucht wird, in die Irre zu führen, denn nur derjenige, der wirklich schwarzmagischen Dreck am Stecken hat, wird, erklärt der übrigens auch mit vom Teufel besessenen Schweinen kommunizierende Geistliche, von ihr ausfindig gemacht werden. Letztendlich läuft das eher desinteressierte Tier aber reichlich undramatisch zwischen den schlotternden Männern, Frauen und Kinder umher, und pickt sich niemanden aus der Menge heraus. An Allerseelen, jenem Festtag, an dem die Grenze zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt brüchig wird, treten die gleichen Dorfbewohner in Kontakt mit ihren Toten, bringen ihnen Geschenke auf den entlegenen Waldfriedhof, um sie gnädig zu stimmen, suchen und finden sie im Nebel, nehmen sie mit nach Hause, um sie zu bewirten, versuchen gar, manchen von ihnen irgendwelche Geheimnisse darüber zu entlocken, wo denn nun eigentlich dieser oder jener Schatz versteckt sei, nach dem man seit langer Zeit schon fahndet, und dessen genauen Ort dieser oder jener Tote mit ins Grab genommen haben muss. Mit dem Christentum hat man sich mehr oder weniger arrangiert, dessen Praktiken jedoch für die eigenen paganen Riten umgemünzt: Aus der geweihten Hostie beispielweise wird, nachdem jeder Gottesdienstteilnehmer seine zerkauten, speichelvollen Überreste in einen speziell dafür gedachten Behälter gespuckt hat, ein Antidot gegen Werwolfsspuk hergestellt. Für unliebsame Aufgaben wie Holzhacken oder das Zurückbringen stibitzter Kühe bedient man sich sogenannter Kratts, klappriger Holzstecken, die die menschliche Sprache beherrschen und durch die Lüfte fliegen können, und die unruhig werden, wenn sie einmal nichts zu tun haben. Auch wenn es mal in der Liebe nicht so läuft wie man es gerne hätte, sucht man Rat in den Wäldern, wo nur ein bestimmtes Wort genügt, und schon steht Mephistopheles vor einem, um hinter schalkhaftem Lachen das Verlangen nach der jeweiligen Menschenseele als Gegenleistung der Inanspruchnahme seiner Dienste nur notdürftig zu verschleiern. Für die etwas zaghafteren Gemüter gibt es auch die Kräuterhexe, die Liebeszauber zusammenpanschen kann, und dafür nicht gleich einige Unzen kostbares Blut fordert, mit denen der eigene Name in ein verdächtiges Buch geschmiert werden soll.
Bei all dem, was ich bis hierhin aufgezählt habe, und was ich noch alles an wundersamen Dingen aus der synkretistischen Melangen zwischen heidnischen Bräuchen und christlichen Zeremoniellen aufzählen könnte, das in NOVEMBER Verwendung findet, könnte man den Verdacht bekommen, vorliegender Film sei eine episodenhafte Aneinanderreihung bizarrer, surrealer, irritierender Momente, die mit der menschlichen Logik kaum vereinbar sind. Tatsächlich bringt es der Film aber fertig, zwar einerseits eine sowohl geographisch wie historisch weitgehend entrückte Welt zu erschaffen, die irgendwo zwischen verträumter Märchenhaftigkeit, bitterer Realität und handfestem Horror oszilliert, andererseits aber dennoch deutlich zu machen, dass diese Welt, trotz oder gerade wegen ihrer Entrücktheit, in ihrem Kern dennoch ganz nach den Parametern funktioniert, die die Menschheit seit jeher umtreibt und in ihren Angeln hält. Was NOVEMBER nämlich erzählt, das ist unterm Strich eine Liebesgeschichte – und zwar die ergreifendste, romantischste, witzigste, verrückteste, die ich seit wirklich langer Zeit gesehen habe, und die man auf die simple, und doch so effektive, anrührende Formel bringen könnte, dass Lilna Hans abgöttisch liebt, dieser Hans aber ein Auge auf die Tochter eines weißbestrumpften Aristokraten geworfen hat, der seit Neustem unweit des Dorfes in seinem abgeschiedenen Herrensitz siedelt, diese Tochter, Luise, allerdings natürlich keinen Blick für den armen B´Hans übrighat, der deshalb zu Magie greift, um dem Objekt seiner Begierde näherzukommen, eine Idee wiederum, die auch Lilna zufällt, weshalb sich Hans mit dem Teufel einlässt, und Lilna mit einer Hexe, und es alsbald in dem schneeverwehten Landstrich nur so wimmelt von somnambulen Spaziergängen, folgenschweren Verwechslungen, und bösen Geistern, die sich nicht um ihren Lohn betrügen lassen wollen.
Mit seinem kontrastreichen Schwarzweiß, mit seiner sprunghaften Struktur, mit seinen zutiefst sympathischen, weil zutiefst menschlichen Figuren, mit seinem feinen Humor – (wenn mich jemals etwas zum Prusten gebracht hat, dann ist es Dieter Laser als affektierter und doch milder Gutsherr, der mit spitzen Zehen über Unrat hinwegstiefelt) -, seinen weit ausholenden schauerromantischen Gesten – (bei der Allerseelenfeier läuft es mir selbst in der Retrospektive noch eiskalt den Rücken herab) – und, nicht zuletzt, den nun wirklich absolut idiosynkratischen Szenen wie der, in der einer der Kratts die erwähnte verschleppte Kuh zu ihrem rechtmäßigen Besitzer zurückbringt – (wohl ebenso der irrste FilmProlog, den ich seit langem gesehen habe) –, oder die ebenfalls bereits erwähnte Gottes- oder Teufelsprüfung per Ziegenbock, und das gesamten Finale, bei dem ich bis heute nicht weiß, ob ich wie ein Schlosshund heulen, über die wilden Plot-Kapriolen breit grinsen, oder einfach nur entzückt sein soll darüber, dass der Film mich einnäht in seine Diegese, als sei sie ein Teil von mir, eine zweite Haut, eine Salbe, mit der ich mich bloß einschmieren muss, und schon wirbele ich selbst durch die Lüfte davon.
Ganz so weit entfernt ist NOVEMBER möglicherweise nicht von sich ebenfalls folkloristisch-paganen Themen zuneigenden aktuellen Filmen wie HAGAZUSSA – DER HEXENFLUCH oder THE VVITCH, aber – meiner Meinung nach – durch seine ostentative Naivität, seine mehrfach gebrochene Selbstironie, seine fiebrige Vitalität in Verbindung mit einer schwermütigen Todessehnsucht noch glorreicher als dieser.