Originaltitel: Sans Soleil
Produktionsland: Frankreich 1983
Regie: Chris Marker
In einem japanischen Tempel betet ein Ehepaar im Angesicht zahlloser Katzenstatuetten dafür, dass ihrer entlaufenen Mieze namens Tora kein Leid geschehe. Ebenfalls in Japan kann man ein eigenwilliges Etablissement besuchen: Eine Mischung aus religiöser Stätte, Sex-Shop und Museum. In der einen sind überdimensionale Penisse und Vulven ausgestellt, in die die Besucher Geldstückchen als Opfergabe fallenlassen, im andern können sie sich mit extravagantem Spielzeug für die schönen Stunden zu Zweit versorgen, in letzterem hat man die Geschlechtsteile ausgestopfter Tiere wie Zebras und Äffchen miteinander in teilweise abenteuerlichen Posen verschränkt. Auf Island erwacht ein Vulkan aus jahrhundertelangem Schlaf, während die afrikanische Savanne aufgrund einer anhaltenden Trockenzeit von ausgedorrten Tierkadavern gespickt ist.
Wer bei diesen knappen Schlaglichtern auf den 1984 erschienenen Film SANS SOLEIL auf die Idee kommt, es könne sich um einen späten Nachzügler des Mondo-Booms handeln, der bewegt sich eigentlich auf gar nicht allzu glattem Eis. Obwohl ich mir sicher bin, dass der französische Regisseur Chris Marker, dessen bekanntester Werk wohl der nahezu ausschließlich aus Photographien kompilierte Science-Fiction-Kurzfilm LA JETÉE von 1963 sein dürfte, alles im Sinn hatte, nur nicht, Jacopetti und Prosperi seine Referenz zu erweisen, sind die Gemeinsamkeiten zwischen seinem elaborierten Bild-Essay, und deren Streifzüge auf der Suche nach Kuriositäten rund um den Globus kaum von der Hand zu weisen.
Ich glaube, es war in einer Kritik zu Godfrey Reggios nahezu zeitgleich erschienenem KOYAANISQATSI (1983), (oder möglicherweise auch zu Ron Frickes BARAKA (1992)), dass ich auf die Bezeichnung „New Age Mondo“ gestoßen bin. Obwohl ich den Terminus nun nicht für unbedingt wirklich passend halte, ist die Idee dahinter doch eine, die ich teilweise nachvollziehen kann: Nach der Hochphase des Mondo-Kinos in den 60ern und 70ern zerfasert es in zwei Adern, von denen die eine stark pulsiert, und die andere einen eher schmächtigen Eindruck erweckt. Erstere führt zu FACES OF DEATH, zu FACES OF GORE, zu Schock-Seiten im Internet, letztere führt zu meditativen, nicht durch schockierende Inhalte, sondern visuelle Opulenz überwältigende Filmen wie den erwähnten von Reggio oder Fricke.
SANS SOLEIL besteht größtenteils aus Aufnahmen, die Chris Marker in den 70ern vor allem in Guinea-Bissau und Japan, aber auch auf Island oder den USA geschossen hat. Hinzukommen Archivaufnahmen, beispielweise von einer Giraffe, die Großwildjägern zum Opfer fällt – (übrigens die einzige wirklich graphische Szene des Films) –, oder aus japanischen Spielfilmen und Nachrichten-Berichten, die Marker von Fernsehschirmen abgefilmt hat. Der Name des Regisseurs taucht einzig im Abspann beiläufig auf. Er habe das Material zusammengestellt, nicht mehr, nicht weniger. Präsentiert wird SANS SOLEIL von einer weiblichen Erzählerin, die vorgibt, Briefe zu paraphrasieren oder auch wortgetreu vorzulesen, die ihr der Photograph Sandor Krasna über Jahre hinweg geschickt haben soll. Krasna ist natürlich eine fiktive Figur, hinter der sich Marker selbst verbirgt. Auch die Dinge, über die Krasna in seinen ebenso fiktiven Briefen reflektiert und philosophiert, dürften mit denen identisch sein, die Marker selbst über die Jahre hinweg beschäftigt haben.
Was die Dame aus dem Off rezitiert, das wirkt wie Tagebucheinträge, unsystematisch, momenthaft, und einzig durch den roten Faden der Frage verbunden, wie menschliche Erinnerung funktioniert, wie voller Fallstricke unser Gedächtnis ist, und wie verzweifelt man wird, sobald diese Fallstricke sich einem ins Bewusstsein drängen, und man das Funktionieren oder besser Nicht-Funktionieren der eigenen Erinnerung permanent beim Stottern beobachten muss. Marker philosophiert über den Videospiel-Kultur, der in Japan bereits tiefe Wurzeln geschlagen hat, oder über Alfred Hitchcocks VERTIGO, dessen Originalschauplätze er in San Francisco aufsucht, oder über einen Blick, den ihm für den Bruchteil einer Sekunde eine Frau auf einem afrikanischen Markt zuwirft, die dabei so tut, als habe sie die auf sie gerichtete Kamera nicht bemerkt, und schaue nur zufällig in deren Richtung. Marker erzählt uns die Geschichte vom treusten Hund der Welt, Hachiko, der noch zu Lebzeiten an der Bahnhofsstation, wo er sein Leben lang auf sein längst verstorbenes Herrchen wartete, eine Statute errichtet bekommen hat, oder von den Gefühlen, die er nun, Anfang der 80er, der 68er-Bewegung gegenüber hegt, von der er selbst ein aktiver Teil gewesen ist, oder von einem Computertechniker namens Haya Yamaneko, der eine alternative Realität erfunden hat, die er – als Reminiszenz an Tarkowskijs STALKER – schlicht die „Zone“ nennt: Dort kann er Bilder einspeisen – von Emus im Zoo auf der Ile de France zum Beispiel, oder von japanischen Kamikazepiloten –, und sie werden digital zu bunten, fasrigen Schlieren transformiert, die nur bei eingehendem Studium noch Ähnlichkeit zu ihrem Ausgangsmaterial aufweisen. Währenddessen sind die Hunde Sandor Krasnas aka Chris Markers bei einem Strandspaziergang ganz aufgeregt: Kein Wunder, denn laut japanischem Kalender treffen in diesem Jahr die Zeichen von Hund und Wasser erstmals nach einer Ewigkeit wieder aufeinander. Mit schöner Regelmäßigkeit kommt Krasna immer wieder auf einen Science-Fiction-Film zu sprechen, den er immer hatte drehen wollen: Er soll SANS SOLEIL heißen, nach dem Liederzyklus von Mussorgsky, und er soll mit einem Bild beginnen, das ihm auf Island begegnet ist: Drei Mädchen auf einer Wiese, die langsam in einiger Entfernung an der Kamera vorbeilaufen, und sich halb kritisch, halb neugierig zu ihr umwenden. Ein Außerirdischer betritt unseren Planeten. Zwischen zwei seiner Schritte vergehen Jahre. Aber, erklären Sandor Krasna und Chris Marker im gleichen Atemzug, dieser Film, der wird sowieso niemals gedreht werden.
Wo Godfrey Reggio und Ron Fricke sich eines Off-Kommentars vollends entledigen, und den jeweiligen Soundtrack von Philipp Glass und Michael Stearns zum eigentlichen Sprecher erheben, der uns bei der Hand nimmt, und durch die assoziative Bilderflut leitet, wählt Marker den Weg der semantischen Überfülle: Man mag das prätentiös finden, diesen endlosen Strom an Wörter, von denen manche hängenbleiben, andere an einem vorbeiziehen, ohne dass man ihren Sinn richtig zu fassen kriegt, weil sie zu esoterisch und zu kryptisch daherkommen. Eine dritte Gruppe fällt jedoch, gerade wenn sie ungewöhnliche Liaisons mit den Bildern eingehen, mir mitten hinein ins Herz: Schlafende Menschen in der völlig überfüllten Tokioer U-Bahn, und ihre Träume, ein riesiges Archiv an visuellen Fetzen. Dann die Treppe, die zur U-Bahn hinabführt, als langes, breites Instrument: Jeder Schritt ein Ton. Der Blick einer jungen Frau, nur für eine Millisekunde, direkt in die Kamera, so tuend, als sei das Kreuzen von Linse und Auge bloßer Zufall. Markers Lieblingstiere, die Katze und die Eule, wie sie eingespeist werden in Yamanekos Paralleluniversum: „In that moment poetry will be made by everyone, and there will be emus in the zone.“