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Feuchtgebiete - David Wnendt (2013)

Verfasst: Mi 30. Jan 2019, 20:31
von buxtebrawler
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Originaltitel: Feuchtgebiete

Herstellungsland: Deutschland / 2013

Regie: David Wnendt

Darsteller: Carla Juri, Christoph Letkowski, Marlen Kruse, Meret Becker, Axel Milberg, Peri Baumeister, Edgar Selge, Clara Wunsch, Ludger Bökelmann, Bernardo Arias Porras, Selam Tadese, Pia Röver u. A.
Die 18jährige Helen (Carla Juri) hat schon seit ihrer Kindheit Hämorrhoiden, hat diesen Fakt aber immer verheimlicht, da sie glaubte, dass wäre nicht mädchenhaft und nur alte Männer hätten so etwas. Von ihrer Mutter (Meret Becker), die extrem viel Wert auf Hygiene legt, hatte sie noch andere Weisheiten als Kind mitbekommen, die sich als falsch herausstellten. Dazu gehörte auch, dass eine Frau sehr auf ihre Vagina achten müsste, da diese schnell schmutzig würde. Helen hat gegenteilige Erfahrungen gemacht - ihr kann keine Toilette dreckig genug sein, ohne dass sie sich darauf setzt und trotzdem ist ihre Scheiden-Flora bestens in Schuss. Auch sonst geht sie mit ihren Körpersäften offensiv um, berührt mit ihren Lippen gerne weiche, gerundete Oberflächen wie die Eichel eines Penis und nennt als ihr liebstes Hobby "Ficken". Als Corinna (Marlen Kruse) sie als neue Nachbarn begrüßen will, rät ihr Helen gleich ab, da ihre Mutter sicher bald wieder umzieht und zu ihrem nächsten Lover wechselt, was sie seit der Scheidung von Helens Vater (Axel Milberg) ständig tut. Trotzdem werden Corinna und Helen beste Freundinnen, die alles miteinander teilen...
Quelle: www.ofdb.de

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Re: Feuchtgebiete - David Wnendt (2013)

Verfasst: Mi 30. Jan 2019, 20:35
von buxtebrawler
„Lieber jetzt ein zerschrammtes Knie als später ein gebrochenes Herz!“

Der Debütroman der ehemaligen Musik-TV-Moderatorin Charlotte Roche, „Feuchtgebiete“, wurde nach seinem Erscheinen 2008 kontrovers diskutiert. Er galt schnell als Ekel- und Skandal-Werk, denn ausführlich und detailliert beschrieb Roche Masturbations- und Sexualpraktiken ihrer Protagonistin sowie ihre Vorliebe für körperliche Düfte, Geschmäcker und Ausscheidungen bis hin zu autoaggressivem Verhalten. Wie sich ein solcher Stoff adäquat verfilmen lassen soll, ist eine Frage, die sich sicherlich nicht nur Regisseur David Wnendt stellte: Für seinen dritten Spielfilm aus dem Jahre 2013 machte er eine recht luftige Erotik-Dramödie aus dem Stoff, die abermals manchem die Schamesröte ins Gesicht und verklemmte Sittenwächter ebenso wie Sexisten auf die Barrikaden trieb.

Obwohl erst 18 Jahre jung, wird Helen (Carla Juri, „Jump“) von fiesen Hämorrhoiden geplagt. Als sie sich widerwillig die feinen Härchen um ihren Anus abrasiert, zieht sie sich eine schmerzhafte Analfissur zu, die stationär behandelt werden muss. Im Krankenhaus ans Bett gefesselt beginnt sie mit ihrem Pfleger Robin (Christoph Letkowski, „Diaz: Don’t Clean Up This Blood“) zu flirten, vor allem aber, über ihre kaputte Familie nachzudenken – und ihre Körperlichkeit und ihr Sexualleben Revue passieren zu lassen. Denn während ihre Mutter (Meret Becker, „Die Sieger“) einem Putz- und Hygienezwang unterliegt, wurde aus Helen die Antithese zu ihrer Erzeugerin: Sie vögelt gern durch die Gegend, steht auf Körpersäfte und masturbiert mit Avocadokernen…

„Stellen Sie sich immer so vor?“

Roches Roman war eine Kampfansage an Hygiene- und Reinlichkeitswahn, ein Gegenentwurf zum Verleugnen menschlicher Gerüche und Geschmäcker sowie individueller Gelüste und Praktiken, zu Lust- und Körperfeindlichkeit. Nicht so recht zusammenpassen wollten die psychologische Komponente, die Roche einbrachte, und die auf Übertreibung und Tabubruch angelegten, ausgeschmückten Schilderungen Helens Intimlebens inkl. sämtlicher unappetitlicher Details, denen tatsächlich etwas Pornographisches anhaftete, die auf Dauer aber auch eintönig wurden. Wnendts Verfilmung beginnt mit einem eingeblendeten Verriss eines empörten Lesers des Romans, bevor Helen aus dem Off von ihren Hämorrhoiden berichtet und auch in der Folge weiterhin als Erzählerin durch den Film führen wird. Eine Szene, in der sie Hämorrhoidensalbe auf einer widerlichen öffentlichen Toilette aufträgt, geht über in einen animierten Vorspann voller Bakterien. In zahlreichen Schilderungen, Rückblenden und Tagträumen Helens lernen wir sie und ihr Leben kennen: Den Putzfimmel und das notorische Misstrauen ihrer Mutter, die Scheidung der Eltern (Vater: Axel Milberg, „Nach fünf im Urwald“) und den Beitritt der Mutter zur katholischen Kirche auf der einen, Helens Sexualleben in Form von Cunnilingus und Freiluft-Handjob sowie Masturbation in der Badewanne und gleichgeschlechtlichem Sex im Bordell auf der anderen Seite. Ihre Eltern würde sie am liebsten wieder zusammenbringen.

„Ich würde gern so’ne Pizza essen!“

Auch Helens beste Freundin Corinna (Marlen Kruse, „Polizeiruf 110: In Flammen“) lernt man kennen; diese hat einen Metal-Musiker zum Freund, der auf Ankacken steht. Damit hat Helen allerdings nichts zu tun. Um ihren Analbereich begann sie sich, wie eine Rückblende zeigt, mittels Rasuren zu kümmern, als sie Kanell (Selam Tadese, „Immigration Game“) kennenlernte, der Freude daran hatte, sie zu rasieren. Mit Corinna wiederum verbindet sie eine Blutschwesternschaft: Sie tauschten benutzte Tampons und schmierten sich gegenseitig ihr Menstruationsblut ins Gesicht. Von einem Drogentrip weiß Helen ebenso zu berichten wie vom „Pizzawichsen“, also dem Onanieren mit anschließender Ejakulation auf ein italienisches Grundnahrungsmittel, was genüsslich inkl. Spermaflugs in Zeitlupenbildern zu klassischer Musik ausgekostet wird. Derartigen Unappetitlichkeiten zum Trotz geht es alsbald um etwas ganz anderes, nämlich um Helens fixe Idee, ihre Eltern und deren Besuche im Krankenhaus wieder zusammenzubringen – weshalb sie sich ihre Wunde wieder aufreißt, als sie entlassen werden soll und spätestens damit die Handlung in Richtung Selbstverletzung und ausgemachte psychische Probleme verschiebt.

Dieser Aspekt ist zum einen wichtig, um eine tatsächliche Geschichte anstelle einer losen Anekdotensammlung zu erzählen, andererseits aber auch nicht ganz unproblematisch, wenn er vom Publikum dahingehend aufgefasst wird, dass Helens Freizügigkeit und ihr vielerorts als unhygienisch eingeordnetes Verhalten die Folgen einer zerstörten Familienidylle, also einer „schwierigen Kindheit“, und eines psychischen Belastungstraumas sind. Immerhin würde dies die Aussage des Films infrage stellen. So weit kommt es jedoch glücklicherweise nicht; besser als im Buch lässt sich beides zumindest so weit voneinander trennen, dass die Parteiergreifung für mehr Natürlichkeit in Zeiten von Selbstverleugnung durch falsche Photoshop-Ästhetik, absurde plastischer Chirurgie, Botox-Maskengesichter und Anal-Bleaching sowie möglichst antiseptische Sexualität ohne direkten Körperkontakt erhalten bleibt. Und das Tolle ist, dass dies nicht hasserfüllt und verächtlich mit dem Holzhammer einer verbitterten ungefickten Emanze vermittelt wird, sondern kontrovers und erfrischend humorvoll zugleich von einer juvenilen, frechen, quirligen Hauptdarstellerin. Carla Juri ist ein echter Glücksgriff für diesen Film, gerade weil sie keine klassische Filmschönheit ist. Ohne falsche Scham scheint sie sich in ihr freizügiges Schauspiel zu stürzen, nuschelt sogar ein bisschen wie Roche und wird von einer Kamera eingefangen, die aus „Feuchtgebiete“ eben keinen Softporno macht, sondern konsequent Helens Perspektive beibehält. Fürs Protokoll und die Voyeure: Ja, man sieht Carla Juri komplett unbekleidet, sexuell explizite Szenen bleiben aber aus.

„Feuchtgebiete“ funktioniert für mich trotz einiger Unklarheiten, loser Fäden und leichter erzählerischer Brüche in seiner Verfilmung besser als in Buchform, ohne dafür seine provokante Wirkung auf diejenigen einzubüßen, denen freie weibliche Sexualität schon immer suspekt war. Und „Feuchtgebiete“ ist noch so viel mehr, neben dem bereits ausführlich Beschriebenen nämlich auch ein gelungener polarisierender Spaß für größere Jungs und Mädels und ein eindrucksvoller Beweis dafür, wie unspießig und originell deutsches Kino sein kann. Nichtsdestotrotz sollte natürlich geschützter Geschlechtsverkehr bei Partnerwechseln weiterhin selbstverständlich sein und zweifelsohne gibt es in der Tat fiese Erreger und Krankheiten, die man sich durchaus auf Bahnhofstoiletten oder durch ein mangelndes Mindestmaß an Hygiene einfangen kann. Es gilt wie so oft im Leben, die richtige Balance zwischen den Extremen zu finden. Mit Songs wie Peaches‘ „Fuck the Pain Away“ oder dem unter den Abspann gelegten „Come Into My Mouth“ von Thee Headcoatees hat man zudem übrigens bestens passende musikalische Untermalung aus dem Archiv gezaubert. Man läuft nach dem Film- (oder Buch-)genuss allerdings Gefahr, Avocados zukünftig mit bestimmten Bildern zu assoziieren...

Vorsichtige 7,5 von 10 Pizzastücken werden nach der Erstsichtung ins Krankenhaus geliefert, vorbehaltlich etwas Luft nach oben.

Re: Feuchtgebiete - David Wnendt (2013)

Verfasst: Do 31. Jan 2019, 08:20
von jogiwan
Das Buch war ja 2008 schon ein Riesenspaß und so banal kann eine Geschichte ja gar nicht sein, dass man sie nicht mit genügend Sex und Körperausscheidungen aufpeppen kann. Als Urlaubslektüre leider ungeeignet, da man ständig anderen Leuten alle ekligen Stellen laut vorlesen muss. Vielleicht sollte ich auch mal den Film anstesten. :kicher: