Poil de carotte - Julien Duvivier (1932)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3072
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Poil de carotte - Julien Duvivier (1932)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bild

Originaltitel: Poil de carotte

Produktionsland: Frankreich 1932

Regie: Julien Duvivier

Darsteller: Robert Lynen, Harry Baur, Catherine Fonteney, Louis Gauthier, Simone Aubry, Maxime Fromiot
Nun endlich, nachdem das neue Jahr bereits mehr als sechs Wochen auf dem Buckel hat, bin ich zum ersten Mal in ihm von einem Film zu Tränen gerührt worden. Wie kam es dazu?

Zunächst stelle ich fest, nachdem ich kürzlich GRIBICHE von Jacques Feyder gesichtet hatte, dass der französische Regisseur, der in meiner persönlichen Filmgeschichte für alle Zeiten ein Denkmal für VISAGES D’ENFANTS besitzen wird, im gleichen Jahr 1925, in dem sein Meisterwerk erschienen ist, - (gedreht wurde VISAGES D’ENFANTS freilich bereits 1923) –, an einem weiteren Projekt mitgearbeitet hat, das seine Geschichte ebenfalls konsequent aus der Perspektive eines Kindes zu erzählen versucht. POIL DE CAROTTE basiert auf dem gleichnamigen Roman von Jules Renard aus dem Jahre 1894, in dem episodenhaft die Leidensgeschichte des titelgebenden Karottenkopfs nachgezeichnet wird, einem rothaarigen, sommerbesprotten Buben namens Francois Lepic, der in einer desolaten Familie des Fin-de-siécle-Bürgertums aufwächst, und dort nicht das Geringste zu lachen hat: Sein Vater interessiert sich kaum für die Kinder, vertreibt sich die Tage lieber auf der Jagd und seiner laufenden Bürgermeisterkandidatur der kleinen ; seine Mutter ist eine bitterböse Frau, die die Dornen ihrer missglückten Ehe vor allem am jüngsten Sohn ausagiert, indem sie ihn aschenputtelgleich zu allen erdenklichen Haushaltsaufgaben verdonnert, ihn körperlich und seelisch misshandelt, und niemals auch nur ein nettes Wort oder eine liebevolle Geste für ihn übrig hat; seine Geschwister sind trotzige, verwöhnte Geschöpfe, die Tochter eitel und egoistisch über alle Maßen, und Mamas Liebling Felix vorrangig an den Rockzipfeln junger Damen interessiert, von denen er sich ausnehmen lässt wie eine Weihnachtsgans, weshalb seine Langfinger sich auch schon mal in den mütterlichen Geldbörsen verirren. Erst als Poil de Carotte, wie Francois eher beleidigend denn schmeichelhaft gerufen wird, einen Selbstmordversuch unternimmt, begreift sein Vater, wie sehr sein Sohn unter der familiären Situation leidet…

Für die Verfilmung von 1925 hat Feyder nicht den Regiestuhl übernommen – auf diesem sitzt Julien Duvivier -, sondern lediglich am Drehbuch mitgewirkt, und vielleicht ist es auch damit zu erklären, dass POIL DE CAROTTE gerade im Vergleich mit VISAGES D’ENFANTS, aber auch GRIBICHE doch einige künstlerische Abstriche hinnehmen muss: Statt dem poetischen Realismus von Feyders Film dominieren bei Duvivier eher groteske, satirische Töne, die die immanente Dramatik der Geschichte erst weit im letzten Drittel überhaupt sichtbar zutage treten lassen. Nicht dass Duvivier den Film nicht kompetent inszeniert hätte, oder dass die Darsteller, gerade André Heuzé als Rotfuchs, nicht die nötige Balance aus Zurückhaltung und Expressivität finden, oder ihren Figuren nicht ausreichend Leben einhauchen würden – dennoch hat mich der Film derart kaltgelassen, dass ich ihn im Grunde nicht anders betrachten konnte als mit dem Blick des Filmwissenschaftlers, der darüber nachdenkt, wann welche Montageentscheidung geworden wurde, weshalb wann eine Großaufnahme Verwendung fand, wie genau die Lichtsetzung in welcher Szene funktioniert usw. Verantwortlich ist hierfür vor allen Dingen wohl eine Regieentscheidung, die ich beim besten Willen nicht nachvollziehen kann: Die grausame Über-Mutter, die Poil de Carotte zu jeder sich bietenden Gelegenheit demütigt und züchtigt, wird zwar von einer Frau gespielt – und zwar von Charlotte Barbier-Krauss, außerhalb der Leinwand die tatsächliche Gattin des Vater-Darstellers Henry Krauss –, doch das musste ich erst einmal nachprüfen, denn man hat alles dafür getan, die gute Dame physiognomisch wie einen Mann wirken zu lassen. Konkret hat Duvivier ihr einen exorbitanten Oberlippenbart verpasst, der zumindest mich wirklich für eine Weile daran zweifeln ließ, ob man für die Rolle nicht tatsächlich einen männlichen Schauspieler verpflichtet haben sollte. Letztlich ist das aber völlig egal: Poil de Carotte’s Mutter sieht aus wie ein Mann, tritt auf wie ein Mann, trägt sogar einen Bart. Welcher Teufel Duviver und sein Team bei dieser Idee auch geritten haben mag, für mich ist das ein Ritt in plakative Gefilde, die mir in jeder italienischen Trash-Kanone niemals den Filmgenuss vergällt hätten, mir bei einer ernsten Thematik wie der in POIL DE CAROTTE dann aber doch ziemlich sauer aufgestoßen sind.

POIL DE CAROTTE von 1925 ist demnach sicherlich nicht der erste Film 2019 gewesen, der mich zu Tränen rührte – (es sei denn zu Tränen der Verzweiflung, weil es mir einfach nicht in den Kopf will, wie man der weiblichen Hauptdarstellerin solch einen hässlichen Schnauzer ankleben konnte.) Dennoch ist POIL DE CAROTTE derjenige Film gewesen, der mich letzte Woche in seinem Schlussteil unvermittelt zu Tränen rührte. Allerdings die Adaption von 1932, ohne Beteiligung Feyders, inszeniert jedoch erneut von Julien Duviver, die den (sich wiederum dicht an die Vorlage Renards haltenden) Vorgängerfilm teilweise bis in Details kopiert. Warum nimmt mich der eine denn dann so mit, und der andere überhaupt nicht, wenn sich beide Filme so ähnlich sind?

Irgendwo meine ich einmal gelesen zu haben, dass Duvivier einer der wenigen bereits im Stummfilm tätigen Regisseure gewesen sein soll, die den Tonfilm mit offenen Armen begrüßt haben. Wenn man sich sein Remake von POIL DE CAROTTE anschaut, und es seiner eigenen 25er Verfilmung des Stoffs entgegenhält, besteht eigentlich gar kein Zweifel mehr an der Richtigkeit dieser Behauptung. Was sieben Jahre zuvor noch wirkte wie das Leben fremdartiger Insekten unter dem objektiv-nüchternen Teleskop eines Wissenschaftlers, der zwar fasziniert, aber nicht emotional engagiert von dem bunten Treiben in seinem Schaukasten ist, besitzt auf einmal genau – beinahe wäre ich pathetisch geworden, und hätte geschrieben: die Wahrheit – die Vitalität, die vonnöten ist, um einen Zuschauer (wie mich) vollkommen in die Geschichte einzuwickeln.

Ich muss gestehen, anfangs war ich noch skeptisch. POIL DE CAROTTE beginnt genauso überdreht und betont heiter wie das Original von 1925 – wenn nicht sogar noch überdrehter. Robert Lynen, der den Titelhelden im Jahre 1932 verkörpert, ist ein hagerer, schlaksiger Junge, dem man während seiner ersten Auftritte mindestens ein ausgeprägtes Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom zu unterstellen versucht ist. Er lacht sich halbtot, wenn seine Eltern sich in die Haare kriegen; er nimmt jede drakonische und unverdiente Strafe der Mutter mit einem lockeren Spruch hin; er schäkert mit dem neuen Hausmädchen Anette, als ob es kein Morgen gäbe. Bald schon wird einem bewusst: All dieses affektierte, quirlige Gebaren ist reiner Selbstschutz, ein Panzer, den Frederic Lepic sich hat wachsen lassen, um seine triste, tragische Existenz überhaupt ertragen zu können. Nachts, allein in seinem Dachstubenbett, bricht sein wahres Gesicht hervor – und zwar in Gestalt von Doppelgängern seiner selbst, die ihm vom Schlafen abhalten. Niemand liebt Dich!, bläut ihm der eine ein. Der andere zählt ihm die verschiedenen Möglichkeiten auf, wie er sich das Leben nehmen könne. Aber der Fluss, der ist doch eiskalt!, wendet unser Held ein. Dann tunke Deinen Kopf eben so lange wie möglich in einen Eimer voller Wasser; daran stirbt man auch!, rät ihm sein Doppelgänger. Diese Szene ist nur eins von mehreren Beispielen, in denen Duvivier den Spagat zwischen bitterer Komik und humorvoller Tragik mit Bravour schafft: Auf gewisse Weise besitzt sie das Potential, einen zu amüsieren, zugleich hat man das Gefühl, nie etwas Trauriges gesehen zu haben. Im Original von 1925 ist Poil de Carotte übrigens in seinen Alpträumen einfach nur die Mama (mit Oberlippenbart!) erschienen, wie sie ihm – per Spiegeltricks und Mehrfachbelichtung ins Unendliche vervielfacht - die Leviten liest.

Ähnlich famos ist ein kleiner Ausbruch, den Francois sich aus seinem grauen Alltag erlaubt, wenn er mit seinem Patenonkel und seiner kleinen Freundin Mathilde durch die Naturidyllen außerhalb des Dorfes streunt. Die Kinder setzen sich gegenseitig Blumenkränze auf, spielen Hochzeit. Der Patenonkel, (von dem zumindest ich bis zuletzt nicht begriffen habe, ob er wirklich ein Verwandter der Lepics ist, oder einfach nur ein Freund der Familie), stimmt derweil ein Volkslied an, dessen pastorale Stimmung der Montage dirigiert, was sie in der nächsten Minute an Bilder aneinanderzureihen hat: Da sind Kühe auf der Weide, an die die Kamera dicht heranführt, und eine Kolonne Enten als Brautjungfern, und munter umhertollende Ferkelchen, weitere lyrische, mit die Bilder verschwommen und verwaschen, nahezu traumgleich wirken lassenden Kameralinsen bewerkstelligte Aufnahmen von Flora und Fauna, die nicht nur in deutlichem Kontrast zum dumpfen, von ehelichen und geschwisterlichen Konflikten regelrecht kontaminierten Bürgerhaus stehen, in dem Poil de Carotte seine Tage fristet, sondern auch als Nussschalenbeispiel dafür herhalten könnten, was der Filmhistoriker meint, wenn er vom Poetischen Realismus im französischen Kino der 30er spricht. Im Original von 1925 fehlt diese Szene (und überhaupt die Figur des Paten) vollkommen, und auch derartige lyrische Einsprengsel habe zumindest ich nirgends auffinden können – stattdessen aber den deplatziertesten falschen Schnauzer der mir bekannten Filmgeschichte.

Was Duvivier auf jeden Fall versteht – und wobei ihm der Ton zupasskommt –, das ist, seine erneut exzellenten Schauspieler - (begeistert bin ich vor allem von Harry Baur als Monsieur Lepic) – mittels feiner Nuancen in ihren Dialogen mehr über ihr Seelenleben auszusagen als das jeder elaborierte Monolog (oder, was das betrifft, jede plakative Requisite wie ein angeklebter Bart) vermocht hätten. Sicherlich, die Mutter von Francois benimmt sich, verkörpert von Catherine Fonteney, im 32er Remake wie eine exaltierte Schmierenkomödiantin, die jede Fliege zum Elefanten aufbauscht, und das gesamte Register von unbeugsamer Härte ihrem Sohn gegenüber, aber auch Krokodiltränen weinender Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs beherrscht, und wenn im Hause Lepic der Segen desselben schiefhängt, dann äußert sich das durchaus auch mal in enervierendem Geschrei und Gezeter. Worin POIL DE CAROTTE jedoch tatsächlich brilliert und berührt, das sind seine stillen Töne, die beiläufigen Geste, die subtilen Botschaften, die in leicht dahingesagten Sätzen mitschwingen. Das gesamte Finale ist dafür ein Paradebeispiel: Francois Vater beginnt allmählich zu begreifen, wie schlecht es um seinen Sohn steht, und setzt sich entgegen seiner Gattin für ihn ein, verspricht ihm gar, dass er ihn abends zur Bürgermeisterwahl begleiten dürfe. Die Mutter lässt sich ihre Autorität freilich nicht gerne untergraben, und sperrt Poil de Carotte zur Strafe in sein Zimmer ein. Als Anette ihn zu befreien versucht, ist dieses jedoch bereits leer: Unser Held hat sich abgeseilt, um mit seinem Papa in der Dorfschenke die erfolgreich bestandene Bürgermeisterwahl zu feiern. Der Vater jedoch ist abgelenkt von all den Verlockungen, die ihm sein neues Amt bieten – vor allem, dass just am gleichen Abend eine Hochzeit stattfindet, und er als Schultheiß das Vorrecht besitzt, als Erster mit der Braut zu tanzen. Als Francois ihm am Rock zupft, weist er den Sohn kühl ab: Er habe nun wirklich keine Zeit für ihn. Anders gesagt: Francois Vater verfällt genau in die Gleichgültigkeit zurück, die er seinem jüngsten Sohn gegenüber Jahre schon an den Tag legte. Poil de Carotte ist verständlicherweise am Boden zerstört. Nein, mehr noch: Nun, wo ihm die Hoffnung regelrecht zerstampft worden ist, im Vater einen Freund und Verbündeten gegen die Mutter gefunden zu haben, schwindet ihm endgültig der Lebensmut. Mit einem Strick zieht er zum Heuschober hin, vertraut sich unterwegs nur der kleinen Mathilde an. Als die Nachricht von Francois‘ geplantem Suizid seinen Vater erreicht, reißt dies ihn erstmals aus seiner üblichen Lethargie. Gerade noch rechtzeitig kann er seinen Sohn vom Äußersten abhalten.

Diese Sequenz, die im Film das gesamte letzte Drittel ausmacht, ist hervorragend montiert, beseelt von einer Dramaturgie, die jedem Thriller gut zu Gesicht stehen würde, und dabei so geerdet, betont unaufgeregt, beinahe schüchtern in ihrer Inszenierung, dass ich nur staunen kann. Noch mehr staune ich jedoch darüber, was der abschließende Dialog zwischen Vater und Sohn in mir ausgelöst hat: Man spaziert gemeinsam über Felder. Endlich, nach so vielen Jahren, schütten die beiden einander ihre Herzen aus. Du hast ja nie gesagt, wie unglücklich Du gewesen bist, wenn wir jagen gewesen sind, sagt der Vater zerknirscht. Du hast ja noch viel weniger gesagt! Nein, Du hast überhaupt nie mit mir gesprochen!, erwidert Poil de Carotte. Diesen Namen legt er am Ende dann ab. Das ist ein Schimpfwort, das die Mutter sich für ihn ausgedacht hat. Ab nun bist Du Francois!, verspricht der Vater ihm. Man umarmt sich. Die Kamera fährt an Kuhherden vorbei, zeigt uns in Großaufnahme die Schönheit von Schilf, das in einem leichten Windgang schaukelt. Unser Held sieht endlos glücklich aus. Fin – und der Film ist sogar klug genug, seinen versöhnlichen Ausgang über alle Gebühr zur Schau stellen: Für einen Moment, als Vater und Sohn sich am Tisch einer Schenke zuprosten, sind sie in einem Pakt vereint, den sie gegen die Schikanen der Mutter geschmiedet haben – doch, inwieweit dieser Pakt Bestand haben, und ob sich die Lage im Hause Lepic wirklich zum Besseren ändern wird, das verschweigt der Film uns mit dem Taktgefühl von jemandem, der eine gute Nachricht nicht durch unnötigen Kitsch entstellt will. Mir sind derweil die Augen feucht geworden.
Antworten