Wach - Kim Frank (2018)

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Salvatore Baccaro
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Wach - Kim Frank (2018)

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Originaltitel: Wach

Produktionsland: Deutschland 2018

Regie: Kim Frank

Darsteller: Jana McKinnon, Alli Neumann, Dennis Mojen, Annika Kuhl, Stephen Owusu-Sekyere
Kürzlich laufe ich mit einer Freundin und einem Freund und zwei Hunden durch eine menschenleere, weil mitternächtliche Altstadt, und das Gespräch kommt auf Bands, die man früher, als man noch jung gewesen ist, gehört und gefeiert hat. Bei ihr ist es die Schülerband „Echt“ gewesen, die seinerzeit, irgendwann Ende der 90er, Anfang der 2000er, Charts und Mädchenherzen derart im Sturm eroberten, dass zumindest meine Freundin die Texte der relevanten Hits noch heute auswendig mitsingen kann. Auch mir dämmerte es: Waren das nicht die, wegen denen man allen möglichen Leuten über Jahre hinweg erklären musste, dass „Junimond“ eigentlich eine Rio-Reiser-Komposition ist? Ganz genau, das waren die, und wie wir später in der Nacht bzw. am Morgen bei einer kursorischen Recherche feststellen, hat die Band sich nach einem erfolglosen dritten Studioalbum 2002 aufgelöst, worauf ihr Sänger und Frontmann Kim Frank sich zunächst, ebenfalls mit mäßigem finanziellem Erfolg, an einer Solokarriere versuchte, sodann einen Roman schrieb, und heutzutage hauptsächlich als Musikvideoregisseur agiert. Aber Moment, was ist das denn? Im März 2018 hat Frank seinen ersten Spielfilm gedreht, und zwar in Personalunion: Regie, Drehbuch, Schnitt, Kamera, Produktion sollen auf seine Kappe gehen, nur die Musik scheint nicht von ihm zu stammen. Mehr noch wurde WACH, wie sein Debut heißt, im Herbst des gleichen Jahres nicht etwa im Kino oder auf DVD veröffentlicht, sondern erlebte seine Premiere, koproduziert vom Online-Angebot für junge Leute der Öffentlichen Rechtlichen, FUNK, auf YouTube. Einen Klick später habe ich den Film, über dessen reinen Inhalt ich bis dahin nicht das Geringste weiß, bereits auf der entsprechenden Plattform gefunden…

WACH erzählt von etwa vier Tagen im Leben der beiden siebzehnjährigen Freundinnen Nike und Charlotta (oder Charlie, oder Lolo, oder C., oder K.), die mit sich selbst eine Wette abschließen: So lange wie möglich wach bleiben zu wollen, und zwar ohne Drogen, ohne Alkohol, ohne Kaffee, ohne Kippen. Rein zum Vergnügen entsteht dieses Guinness-Buch-reife Vorhaben nicht. Ganz zu Beginn von WACH liegt C., die den gesamten Film per retrospektivem Voice-Over begleitet, masturbierend in ihrem Bett. Ich will was fühlen, sagt sie dazwischen direkt in ihre digitale Spiegelreflexkamera, irgendwas, und nicht nichts. Auch Nike bringt später mit entwaffnender Deutlichkeit auf den Punkt: Wachbleiben, um sich selbst zu spüren, als Gegenprogramm zu den Betäubungsriten, mit denen die meisten Menschen sich ihren tristen, monotonen Alltag schönsaufen. Dazu haben unsere Heldinnen vielleicht nicht allen Grund der Welt, aber doch zumindest einige Gründe auf ihrer Seite: Sie leben in der Plattenbausiedlung irgendeiner norddeutschen Großstadt; die Elternhäuser von beiden scheinen, wie zwischen den Zeilen durchblitzt, eher auf der desolaten Seite zu stehen; außerdem hat Nike eine psychiatrische Vorgeschichte, und schon mehrmals den Schulabschluss versemmelt. Deshalb: Wachbleiben, so lange wie möglich, und zwar ohne Hilfsmittel, nur mit etwas Geld, das Nike einem bei ihr in den Schulden stehenden Kleindealer abknöpft, und den albernen Ideen, die einem eben so in den Sinn kommen, wenn man vor lauter Übermüdung immer überdrehter wird. Ach ja, und die Kamera läuft natürlich unaufhörlich mit bei dem juvenilen Selbstexperiment. Damit meine ich nicht die Kamera des Regisseurs Kim Franks, beziehungsweise nicht ausschließlich: Auch C. und Nike beschließen, dass sie einen Film drehen wollen, und zwar mit sich selbst als Protagonisten, und das Sujet sollen die Abenteuer sein, die sie erleben, während ihre Augenringe zu einem ganzen Juweliersortiment werden. Das stellen wir dann auf YouTube und wir werden Megastars! Auf einer Metaebene verhandelt WACH also seine eigene Entstehung. Oder anders gesagt: Dadurch, dass die intradiegetische Kamera C.‘s mit der extradiegetischen Kamera Franks in eins fällt, schauen wir dem Spielfilm WACH quasi live beim Entstehen zu.

Inszeniert ist der Film natürlich trotzdem, und hat deshalb auch nichts zu tun mit schmalbrüstigen Found-Footage-Vehikeln, deren Regisseure ihre Schauspieler einfach irgendwo in der Pampa abladen, und hoffen, dass es reicht, sie ein bisschen mit der Kamera herumwackeln zu lassen, um einen spannenden Film zu kreieren. (Marcel Walz, ich rede mit Dir!) WACH ist rapide und außerordentlich organisch montiert, und Langeweile kommt sowieso nicht auf, wenn unsere beiden Anti-Schlafmäuse von einer pointierten Episode, die selbst wie in sich geschlossene Clips wirken, in die nächste stolpern, wobei sich die Abwärtsspirale, wen wundert’s!, immer heftiger zu drehen beginnt. Als ob Nike und C. eine postmoderne Variante der beiden ungezogenen Gören in Vera Chytilovas Tschechische-Neue-Welle-Klassiker SEDMIKRÁSKY sein wollten, arbeitet man sich zuerst an den eigenen Feindbildern ab und haut dabei so kräftig auf den Putz wie es die eigenen Kräfte erlauben: In einer Marken-Boutique wird ein Raubzug unternommen; in einem Pornokino zockt man einen Lüstling ab; in einem hippen Club lernt man zwei adrette Burschen kennen, auf deren Kosten literweise das Mineralwasser fließt. Einer von ihnen, Jesko, muss auch gar nicht lange dazu überredet werden, die inzwischen völlig aufgekratzten, weil seit über zwei Tagen nicht mit einem Kopfkissen in Berührung gekommenen jungen Frauen spontan zur Ostsee zu fahren. Da Jeskos Eltern offenbar zu den Besserverdienern gehören, kann er in einem Hotel an der Küste auch noch gleich eine luxuriöse Suite springen lassen, die eine perfekte Kulisse für die sich stetig zuspitzenden Ereignisse abgibt. Wohlgemerkt, diese ganzen Chaostage bekommen wir ausschließlich aus der Sicht von C.‘s Cam zu Gesicht, wodurch trotz der episodischen Struktur und der teilweise salvenartigen Schnitte ein durchaus homogener Eindruck entsteht. Würde jemand WACH trotz seines Montagegewitters mit dem long take VIKTORIA vergleichen wollen, könnte ich das nachvollziehen – auch wenn Franks Film freilich, was den reinen logistischen Aufwand und das Budget betrifft, mehrere Wolkenkratzeretagen unter Schippers Kassenerfolg siedelt. Möglicherweise ist es aber genau dieser amateurhafte, verhuschte, kratzbürstige Gestus, der mich WACH dann doch um einiges mehr ins Herz schließen ließ als VIKTORIA. In seinen besten Momenten nämlich – dann, wenn sich die Übermüdungserscheinungen derart Bahn brechen, dass sie auch C.‘s Kameraführung kontaminieren – hat mich WACH gar an einen meiner Heroen des zeitgenössischen Kinos, Gaspar Noe, erinnert. Diese Momente wären: Die Ausflüge in Pornokino und Club sowie eine atemlose Autofahrt mitunter auf der falschen Fahrbahn im Finale, um die versehentlich mit MDMA in Kontakt geratene Nike ins nächste Hospital zu befördern. Sicher, auch hier gilt: Bei Frank ist das alles etliche Nummern kleiner, und auch wenn er sich beispielweise noe-artiger Zwischentitel bedient, in denen mit lauten Soundeffekten die Stunden aufgezählt werden, die unsere Heldinnen nun schon ohne Schlaf auskommen, werden die Exzesse des Franzosen zu keinem Zeitpunkt erreicht – und zwar weder auf inhaltlicher Ebene noch auf der, die mich als Zuschauer persönlich derart affektiv engagiert, dass ich mich selbst fühle, als habe ich zu tief in den Drogencocktail geschaut. Dennoch, der Fluss von Franks Film ist einer, über dem man die Zeit und letztlich die Schlichtheit des Plots für die Laufzeit von gerade mal etwa siebzig Minuten getrosten vergessen kann. Aus dem Blickwinkel passt seine Platzierung auf einer Plattform wie YouTube bestens: Als sei WACH eins der Musikvideos, mit denen Frank seit Jahren sein tägliches Brot verdient, lässt der Film seinem Publikum kaum einmal eine Ruhepause, und ist die formvollendete Antithese zu dem, was man normalerweise als „slow“ oder „contemplative cinema“ bezeichnet. Immer passiert etwas, und zwar derart zappelphilipp-artig, dass man kaum dazu kommt, während der Sichtung darüber zu reflektieren, ob dieses Etwas nun wirklich interessant genug ist, um unbedingt passieren zu müssen.

Was unbedingt passieren muss, das ist mein Lob an die beiden Schauspielerinnen, auf deren Schultern der komplette Film ruht, und die ihre Sache, meiner Meinung nach, mit Bravour lösen. Ich kann mir gut vorstellen, dass mancher gerade Alli Neumann als Nike mit ihrem kaum einmal stillstehenden Plappermaul, ihrem affektierten Jugendslang á la „Digga“ und „Alter“, und ihrem ungezügelt extrovertierten Wesen auf Dauer über alle Maßen enervierend finden kann. (Wenn ich mir Interviews mit ihr anschaue oder die teilweise von Frank inszenierten Musikvideos – denn, ja, die Dame scheint singende Newcomerin zu sein -, beschleicht mich zum einen mehr und mehr der Verdacht, dass Frau Neumann sich gewissermaßen selbst spielt, und dass ich es mit ihr, im wahren Leben, kaum länger als eine halbe Stunde an einem Tisch aushalten würde.) Genauso gut kann das Pippi-Langstrumpf-Gebaren der jungen Dame aber auch auf das Realismus-Konto des Films verbucht werden: Wie in einem Dogma-Film sollen Jana McKinnon und Alli Neumann vor allem authentisch wirken, und nicht etwa angenehm, sympathisch oder konsumierbar. Deshalb zeigt der Film uns beispielweise auch, wie Nike und C. zusammen in der Badewanne sitzen und sich gegenseitig die Beinhaare rasieren, wie sie sich massenweise Burger reinstopfen, da der erschöpfte Körper nach Energiezufuhr verlangt, oder wie sie sich in einem Sexshop ein Gefecht mit Dildos liefern. Das wirkt wie ein Schlüssellochblick in genau das Verhalten, das ich wider besseres Wissen unausgelasteten Teenagern unterstellen würde, wenn sie einmal nicht die verdiente Mütze Schlaf bekommen. Darüber hinaus hat Frank im Verhältnis der Beiden aber auch durchaus eine Handvoll intimer, zärtlicher, tragischer Momente versteckt, die immer mal hinter der überdrehten Fassade hervorlinsen, um zu zeigen, dass das destruktive und infantile Treiben in Wirklichkeit in einer tiefen Unzufriedenheit wurzelt. Dass die anfangs vergleichsweise introvertierte C. – (introvertiert im Vergleich zu Wirbelwind Nike, wohlgemerkt) – zum Ende hin diejenige der beiden ist, die am meisten über die Stränge schlägt, während Nike sich (aus Eifersucht?, aus Überdruss?, aus Erschöpfung?) mehr und mehr in sich zurückzieht, ist zudem eine Note, die ich nun vielleicht nicht unbedingt originell nennen möchte, aber doch dem Film mehr Tiefe eingräbt als man zunächst erwartet hätte. In der Hinsicht ist TIGER GIRL, an den ich ebenso mehrmals denken musste, jedenfalls die denkbar schlechtere Wahl, wenn man einen aktuellen Film sehen möchte, in dem zwei junge Frauen mit vollen Armen nach einer vermeintlichen Freiheit greifen, die sich schließlich in purer (Selbst-)Zerstörung manifestiert.

Womit es Franks Drehbuch allerdings definitiv übertreibt, das sind die bereits angesprochenen Voice-Overs von Charlotta. Immer mal wieder stagniert der wild dahingaloppierende Plot von WACH, um kurzen pseudo-philosophischen, medien- und gesellschaftskritischen Gedankenblitzen Platz zu machen, die wie eine unausgegorene Mischung aus FIGHT-CLUB-Reminiszenzen und oberlehrerhaftem Zeigefinger klingen. Da gibt C. beispielweise zum Besten, dass „wir“, also Nike und C., (und vielleicht auch das Zielpublikum dieses Films?), der Generation Z angehören würden, die mit dreizehn zu koksen anfangen, und mit vierzehn ihren ersten Entzug haben, die mit vierzehn vögeln und mit fünfzehn ficken, mit sechzehn die Liebe und mit siebzehn den Sinn suchen im Leben, im Sterben, im Lieben, im Sein. Zuvor hat sie über die Natur von Selfies philosophiert – (dass man so und so viele Bilder von sich selbst auf dem Handy habe, nur um sich zu vergewissern, dass man am Leben sei) -, den Warenkonsum kritisiert – (da man im Spätkapitalismus nur dazu angetrieben werde, so viel wie möglich zu hamstern, um ein kleines bisschen Hoffnung zu erwerben), - und sich gegenüber der Sexualisierung der Gesellschaft entsetzt gezeigt – (weil Jugendliche von Pornos lernen, wie man sich im Bett zu verhalten habe). Außerdem: Google weiß alles über Dich!, und: Wir sind alle süchtig nach Likes! Einmal abgesehen davon, dass diese tiefgründig vorgetragenen Plattitüden und Selbstverständlichkeiten teilweise in krassem Widerspruch zu den Taten von C. und Nike stehen – (macht es den Warenkonsum denn irgendwie besser, wenn man eine Boutique ausraubt?, und setzt man ein Zeichen gegen Sexualisierung der Jugend, wenn man in Pornokinos abhängt?) –, frage ich mich ernsthaft, ob Kim Frank diese Poesiealbumnotizen selbst ernstgemeint hat, oder ob sie nicht per se als mehr oder minder offene Selbstironie intendiert gewesen sind. Anders gesagt: Möchte er mit WACH aktuelle YouTube- und Facebook-Hörige tatsächlich an den Schultern packen und wachrütteln, oder will er sich im Subtext über all jene Moralapostel lustig machen, die in YouTube und Facebook das Ende der westlichen Zivilisation erblicken? Für ersteres spricht, dass WACH im Abspann den Charakter eines Requiems annimmt: Von C. für Nike, steht dort, und anschließend Geburts- und Todesdatum von letzterer, was nahelegt, dass C. den Film innerhalb der Diegese als Totenmesse für ihre verstorbene Freundin kompiliert hat. Selbstironie sieht irgendwie anders aus. Für letzteres spricht, dass Frank ein ganzes Arsenal an Stock-Footage in Anschlag bringt, um C.‘s geistigen Höhenflüge visuell zu konterkarieren. Wenn sie erklärt, sie wolle sich von dem Müll in ihrem Gehirn befreien, schneidet er flink hintereinander: Aufnahmen einer Müllkippe, eine Röntgenaufnahme eines menschlichen Schädels, Archivbilder eines Feuerwerks. In bestem Mondo-Style werden später, als Nike und C. sich in einer wahren Fressorgie etliche Chicken McNuggets reinpfeifen, Hühner in einer Legebatterie vorgeführt, denen es nicht schlechter gehen könnte, und die schicken Klamotten im Kaufladen finden ihren Kontrapunkt in Bildern von dürftig bezahlten Schneiderinnen in irgendeinem asiatischen Großbetrieb. Manchmal wird Franks Montage gar semi-surreal: C. weiß von einem Wissenschaftler, der erklärt habe, irgendwann im Leben regne einem jeden Menschen einmal ein Tropfen des eigenen Urins auf den Kopf. Schnitt zu einem Säugling, der wider Willen mit der Duschbrause traktiert wird, und sich vor lauter Wasserscheue die Seele aus dem Leib schreit. Später, bei einer ménage-a-trois mit Jesko im Ostseehotel, werden gar in Hitchcock-Manier statt plastischen Fummeleien zahllose Aufnahmen von startenden Raketen abgefeuert. Mit großartigem intellektuellem Ballast beschweren diese Fingerübungen den Film aber aus meiner Sicht nun wirklich nicht, und wenn ich präzise, luzide formulierte, streitbare Aphorismen zu den Fallstricken des Digitalzeitalters lesen möchte, werde ich weiterhin nicht zu Kim Frank, sondern zu einem der neueren Bücher von Byung-Chul Han greifen.

Zum Abschluss: Eine Sache, die mich zu Beginn des Films verzückt hat = An der Wand von C.‘s Zimmer hängt doch tatsächlich das Poster eines Films von Truffaut, und zwar sogar eines seiner unbekannteren Werke, nämlich seines letzten realisierten Projekts VIVEMENT DIMANCHE aus dem Jahre 1983. Eine Sache, die mir zum Abschluss des Films den Magen umgedreht hat = Dieser unsägliche, mit Autotune vollgepumpte, textlich infantile Pop-/Hip-Hop-Song einer mir unbekannten Formation, der nicht nur komplett die melancholische Stimmung der Schlussszene ruiniert, sondern genauso klingt wie etwas, das mich davon fernhalten würde, auch nur einen Fuß über die Schwelle eines Clubs zu setzen.
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