Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot (2018)

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Salvatore Baccaro
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Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot

Produktionsland: Deutschland 2018

Regie: Philip Gröning

Darsteller: Julia Zange, Josef Mattes, Urs Jucker, Stefan Konarske, Zita Aretz
Zweiter April, Hannover: Im Stadtwald von Hannover gibt es ein Rasenlabyrinth. Kieselsteinschneisen umfassen schmale Rasenflächen; die Zwischenflure kann man entlanglaufen, und, wenn man viel Zeit und viel Geduld hat, von einem beliebigen Ausgangspunkt zur Linde gelangen, um die sich sämtliche Radläufe symmetrisch winden. Schon im siebzehnten Jahrhundert in der Stadtchronik erwähnt, soll das „Rad“ früher vor allem als „Brautlauf“ gedient haben: Frischvermählte und die versammelte Hochzeitgesellschaft laufen die Speichen aus unterschiedlichen Richtungen bis zur Linde ab, wo man sich dann zum ausgelassenen Tanzen trifft. Zurückverfolgen kann man solche Rasenlabyrinthe aber noch bis in germanische Zeit, wo sie den Stellenwert von Kultstätten besaßen. Die versöhnende Symbiose mit der Natur dürfte im Mittelpunkt der rituellen Wanderschaften in den Speichen dieses Hamsterrads mit Direktdraht zur Transzendenz gewesen sein. Vielleicht kann man solche Rasenlabyrinthe nicht nur als Orte bezeichnen, die sich strukturell von denen des Alltags unterscheiden, sondern auch als welche, in denen die Zeit eine andere Qualität besitzt, oder gleich völlig in der Weise, wie wir sie wahrzunehmen gelernt haben, zu existieren aufhört. Dieses Abschreiten der einzelnen Linien, deren Verästelungen und Verknüpfungen einem, blickt man aus Vogelperspektive auf sie herab, niemals derart luzide erscheinen dürfte, wie wenn man die eigenen Füße benutzt, um sie nachzuzeichnen, hat etwas Meditatives dadurch, dass es den Charakter reiner Gegenwart trägt. Man kommt nicht sichtbar näher zu einem Ziel, solange bis man dann endlich vor der Linde steht, man spürt eigentlich auch gar nicht die Wegstrecke, die man bereits zurückgelegt hat. Als ob Zukunft und Vergangenheit für ein paar Momente die Lichter ausgeknipst hätten, schiebt man sich vorwärts in einem Zeitraum, der eigentlich weder einen wirklichen Raum noch eine wirkliche Zeit zu besitzen scheint.

Elena und Robert sind Geschwister. Manchmal stehen sie sich an zwei entfernten Punkten eines Zimmers gegenüber, und sie fragt: Wer kommt zuerst, Du oder ich?, und er sagt: Du!, und dann läuft Elena zu ihm hin, oder er sagt: Ich!, und dann setzt er sich selbst zu ihr in Bewegung. Elenas Abitur steht an; Mündliche Prüfung in Philosophie. Für 48 Stunden verlassen die Beiden ihr Elternhaus, um sich inmitten eines wogenden Kornfelds zu installieren, und zusammen zu pauken. Einziger Kontakt zur Zivilisation: Eine Tankstelle in Sichtweite der kaum befahrenen Landstraße. Ansonsten: Der Wald; Der Waldsee; Die Alpen, wie eine Mauer in der Ferne; Die Wiese; Das Korn; Die Ameisen, die ihnen über die nackten Füße und Arme wuseln; Die Wespen, die sich die Überreste ihrer Äpfel schmecken lassen; Ein toter Hase im Wald; Ein Grashüpfer, der mit einer leeren Zigarettenschachtel als Boot eine Seefahrt unternimmt; Ach ja, und eine Wette: Ob Elena es schaffen sollte, bis zum Ende des Wochenendes ihre Jungfräulichkeit zu verlieren? Gewinnt Robert, der dagegen stimmt, bekommt er das Auto, das Elena von den unsichtbaren, sonst mit keiner Silbe erwähnt werdenden Eltern zum bestandenen Abi in Aussicht gestellt worden ist. Gewinnt Elena, dann soll Robert wiederum, das nämlich ist ihr größter Wunsch, sich etwas von ihr wünschen. Es ist Sommer, brütende Hitze. Elena raucht zum ersten Mal, und verschluckt sich an ihrem Husten. Robert säuft ein Krombacher nach dem andern. Man besucht die Tankstelle, wo entweder ein Jüngling namens Adolf den Posten hält, oder Erich, ein alter Bekannter der Geschwister, die an diesem Ort, wie immer wieder suggeriert wird, ihre halbe Kindheit verbracht haben. Ansonsten wird der Zeitbegriff durchexerziert: Aus der Perspektive Augustinus‘, aus der Perspektive Novalis‘, und vor allem Heidegger, Heidegger, und immer wieder Heidegger. Sein und Zeit heiß nicht umsonst dessen Hauptwerk, das er in den 20ern gar nicht so weit weg von dem Ort geschrieben hat, an dem unsere Helden ihre Kindheit begraben, sich mittels immer exzessiver werdender Spiele gegen ihr Erwachsenwerden stemmen, und an dem, trotz aller Dialoge und Monologe - über Hoffnung als Ur-Grund jedweder Zeit; über die kaum fassbare Schnittstelle zwischen Zukunft und Gewesenheit; über die Natur von Melodien, deren holistisches Dasein ein rein imaginäres ist, denn zu keinem Zeitpunkt existieren alle Töne, die sie überhaupt erst als Melodie konstituieren, gebündelt in absoluter Synchronität - geht es schlussendlich doch nur um Sex und Macht: Wie die Tankstellengäste Elenas Hintern anstarren, und wie sie diesen ihnen kokett entgegenhebt; wie sie versucht, einen Mann auf der Tankstellentoilette zu vergewaltigen; wie die Geschwister endlich eine echte Waffe versteckt in der Tankstellenkasse finden, und auf Sportwagenjagd gehen.

MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT dauert, für Philip Grönings Filme der letzten Jahre kaum verwunderlich, fast drei Stunden. MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT spielt, für einen Film über das Wesen der Zeit wenig verwunderlich, komprimiert an zwei Wochenendtagen. Eine Vorgeschichte gibt es nicht, eine wirkliche Quintessenz vielleicht schon. Gröning, für mich spätestens seit seiner Kartäuser-Kloster-Dokumentation DIE GROSSE STILLE zu den interessantesten Regisseure dieses Landes gehörend, hat keine Lust, Dinge zu erklären, Symbole nur deshalb in den Raum zu werfen, damit wir sie dekonstruieren und das Dahinter begreifen, und schon gar nicht daran, eine klassische comic-of-age-Geschichte zu erzählen. Natürlich inkorporiert sein Film etliche Referenzen: Einen Eifersuchts-Teenie-Plot mit Fremdknutscherei wie aus einer Seifenoper; eine Bonnie-&-Clyde-Episode, als sei Oliver Stone für seine NATURAL BORN KILLERS in den Schwarzwaldkreis gefahren; ein bisschen PIERROT LE FOU, oder bilde ich mir das ein?; Tarkovskij-hafte Observationen von Flora und Fauna in Echtzeit, wo in Detailaufnahme der Wind beobachtet wird, wie er über das Fell eines toten Hasen dahinhaucht; oder wo wir den unaufgeregten Wellen beim Entstehen zusehen, die unsere Helden beim Schwimmen auf der Oberfläche des Waldsees verursachen; oder wo ein Grashüpfer nach einem Paar Kopfhörer greift, aus denen Serge Gainsbourgs „La javanaise“ erklingt. MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT ist naturalistisch, mystisch, elegisch, allegorisch und nicht zuletzt von einer absurden, teilweise die Grenzen des Grotesken spielerisch überschreitenden Komik: Wenn Elena sich die Lippen und die vorderen Zahnreihen per Lippenstift rot färbt, als sei sie aus einem Horrorfilm gestolpert; wenn Robert volltrunken in der Tankstelle zusammenbricht, und Elena ihn mit einem Pornoheftchen zudeckt, bevor sie sich mit Erich zu einer mitternächtlichen Mofa-Spritztour aufmacht; wenn die Geschwister andauernd ohne ersichtlichen Grund untereinander Faustschläge und Ohrfeigen austauschen. Rätselhaft ist aber möglicherweise der Begriff, der diesem kleinen Meisterstück am besten zu Gesicht steht: Die unerwarteten Volten, die der Plot andauernd beschreibt, sowie seine prinzipielle hermetische Verschlossenheit gegenüber allzu simplen Interpretationen sind letztendlich lediglich die Rahmungen für so viele eigenartigen und eigenwilligen Momente, die mich gerade dadurch verzaubert haben, dass ich sie in keine der üblicherweisen zum Füllen bereitstehenden Klassifizierungsschubladen habe stopfen können. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, was ich besser finden soll: Das phänomenale Schauspiel von Julia Zange und Josef Mattes, die die drei Stunden quasi im Alleingang auf ihren Schultern tragen; die langgezogenen, wunderschönen Natur-, Landschafts- und Tieraufnahmen, die den Blick schärfen, weil sie die Dinge aus Winkeln und aus einer Nähe zeigen, wie man sonst kaum wagt, sie zu betrachten; der wilde Wahn, der von Anfang wie ein Stachel in diesem Film steckt, und sich mit zunehmender Laufzeit immer tiefer in ihn eingräbt bis er sein Herz erreicht, und, zack!, platzen lässt. Nein, vielleicht beeindruckt mich am meisten, dass Gröning sich, wie auch schon beim Vorgänger DIE FRAU DES POLIZISTEN, für die Post-Produktion alle Zeit der Welt nimmt: Gedreht wurde MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT im Sommer 2013; in die Kino kommt der Film sage und schreibe erst im Spätjahr 2018.

Dritter April, Hannover: Wir sind so aufgekratzt, dass wir gar nicht zu plappern aufhören können. Keine Ahnung, sage ich, was Heideggers Zeitphilosophie mit Inzest und metareflexiv gebrochenen Räuberpistolen á la Godard zu tun haben, aber, was ich weiß, das ist, gerade einen großartigen Film gesehen zu haben. Es regnet in Strömen, auch dann noch, als ich endlich im Trockenen bin, nachdem ich während der Zugfahrt permanent die Augen geschlossen hielt, aus Angst, die Bilder zu verlieren, die sich meiner Netzhäute eingraviert haben. Zu Hause erfahre ich, dass der Vater eines engen Freundes überraschend gestorben ist; dass ich scheinbar endlich einen Verlag für meine Studie über Borowczyk gefunden habe; dass es schlecht aussieht für die Studienpläne einer Freundin, bei ihrem Abischnitt. Ich habe mich spontan und heftig erkältet, kann kaum einschlafen, weil meine Nase völlig verstopft ist. Bestimmt klinge ich, denke ich kurz bevor ich vor Erschöpfung dann doch wegdämmere, wie ein plattschnäuziger Hund, der kaum die Nüstern richtig aufbekommt, und wäre ich nicht allein, würde man mir dauernd mit dem Ellenbogen in die Seite stoßen, oder mit Kissen nach mir werfen, damit das verdammte Schnarchen endlich aufhört.
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Adalmar
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Re: Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot (2018)

Beitrag von Adalmar »

Klingt sehr interessant. "Die Frau des Polizisten" war ja auch ein sehr intensiver und dichter Film. Gestört hat mich jedoch, dass die Szenen durchnummeriert waren und ständig Einblendungen à la "Abschnitt 54" (oder so ähnlich) kamen. Ich hoffe mal, dass hier nicht auch der Fall ist? Was auch immer Gröning sich dabei gedacht hat, es hat mich immer sehr aus dem Film rausgerissen.
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Salvatore Baccaro
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Re: Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Adalmar hat geschrieben:Gestört hat mich jedoch, dass die Szenen durchnummeriert waren und ständig Einblendungen à la "Abschnitt 54" (oder so ähnlich) kamen. Ich hoffe mal, dass hier nicht auch der Fall ist?
Das stimmt, anstrengendes Stilmittel, (soll es aber wohl auch sein.) Ohne all die Auf- und Abblenden zwecks Kapiteleinteilung wäre DIE FRAU DES POLIZISTEN außerdem wahrscheinlich mindestens fünf Minuten kürzer. Bei vorliegendem Film gibt's solche Manierismen jedenfalls nicht: Der Film ist total organisch und homogen, und die drei Stunden verflogen mir wie im Flug.
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