Cinema Ritrovato - 22.06.-29.06.2019
Verfasst: Mo 8. Jul 2019, 15:14
Alle Jahre wieder schlägt sich Salvatore den Magen mit cineastischer Bolognese voll...
Sabato 22 Giugno
Spring Night, Summer Night (Joseph L. Anderson, USA 1968), 84’
Völlig vergessener Vertreter des New Hollywood, der in herben Schwarzweißbildern und mit semi-dokumentarischem Gestus im Milieu des US-Hinterlandes eine möglicherweise inzestuöse Beziehung zum Thema hat, dabei aber vor allem Desillusionismus, Alkoholismus und Machismus der Landbevölkerung in den Vordergrund stellt. Eingeführt wird der Film von der personifizierten Arroganz in Gestalt eines gewissen Nicholas Winding Refn, der ankündigt, bei einem Q&A mit ihm am Folgetag würde die drei weiblichen Gäste mit den klügsten Fragen einen außergewöhnlichen Preis erwarten – wobei er so eklig selbstgefällig am eigenen ausgemergelten Leib herunterstreicht.
Domenica 23 Giugno
Musidora: La Dixième Muse (Patrick Cazals, Frankreich 2013), 65’
Dokumentarfilm zum Leben und Wirken der Musidora, der das diesjährige Festival eine umfassende Retrospektive widmet. Filmisch innovativ sind die talking heads vor Cazals‘ Kamera nicht, dafür hat er Verwandte und Weggefährten der französischen Schauspielerin und Regisseurin vor die Linse bekommen, und ein gelungener Einstieg ins Thema ist das allemal.
Bab Al-Hadid (Youssef Chahine, Ägypten 1958), 74’
Chahines Meisterwerk: Absolut progressiver, auf mehreren Hochzeiten tanzende Mixtur aus film-noiresquen Elementen, die am Ende gar in einen messerschwingenden Psychothriller münden und Gesellschaftsstudie des Ägyptens der späten 50er zwischen Tradition und Moderne, die exakt das rechte Maß zwischen komischen und tragischen Tönen findet. Dass der komplette Film am Kairoer Hauptbahnhof gedreht wurde, verleiht ihm außerdem einen neorealistischen Touch. Pflichtprogramm!
Coeur de Lilas (Anatole Litvak, Frankreich 1931), 90‘
Absolut merkwürdiges Frühwerk Anatole Litvaks, das sich im Prinzip nie so recht entscheiden mag, ob es nun eine Unterweltgeschichte mit Jean Gabin als halbseidenem Kleinganoven sein möchte, eine frivole Screwball-Comedy um einen Inkognito-Polizeibeamten, der sich in die Frau verknallt, die er observieren soll, oder ein melodramatischer Krimi, bei dem ein des Mordes Verdächtigter verzweifelt versucht, seine Unschuld zu beweisen. Toll sind die eleganten Kamerafahrten, und wenn Fernandel aus dem Nichts auftaucht, und anzügliche Hochzeitsschlager anstimmt, bleibt kein Auge trocken.
Una Storia Moderne – L‘Ape Regina (Marco Ferreri, Italien/Frankreich 1963), 93’
Marco Ferreris erster in Film entstandener Spielfilm, ein outriertes Ehedrama, das immer mal wieder ins rein Surreal-Subversive hinüberkippt, und die wahnwitzige Geschichte eines Mannes erzählt, dem seine jüngere Gattin sukkubusartig die sexuelle Potenz entzieht. So laut wie bei diesem Screening habe ich vielleicht noch nie ein Kinopublikum prusten gehört.
Les Miséres de l’aiguille (Raphael Clamour, Frankreich 1913), 13’
Einer der ersten Filme, in denen Musidora als Akteurin auftritt. Banales Melodram um Liebe, Lust und Leiden, das darin gipfelt, dass sich die Heldin mitsamt ihres Neugeborenen in die Seine schmeißen will, was dann auch die einzige Szene ist, die ich von dem Filmchen noch im Gedächtnis habe.
Jeunes filles d’hier et d’aujourd’hui (Louis Feuillade, Frankreich 1915), 10‘
Unfassbarer Pro-Weltkriegs-Fetzen von dem eigentlich lobenswerten Feuillade, der den europäischen Großkonflikt hier zum Anlass romantischer Verwicklungen stilisiert: Ein Soldat verknallt sich in Musidora; der Krieg trennt sie voneinander; erst durch seine Absenz geht unserer Heldin das Licht auf, dass sie ihn doch eigentlich liebt. Schlimm.
Les Vampires, Episode 3: Le Cryptogramme Rouge (Louis Feuillade, Frankreich 1915), 48’
Die dritte Episode von Feuillades ikonischem Serial um eine Verbrecherbande, die sich „Die Vampire“ nennt, und Irma Vep, eine Femme Fatale aus deren Reihen, die sich, wenn sie nicht gerade sensible Dokumente aus Pariser Wohnungen entwendet, in einem Tanzkabarett verdingt. Logisch ist hier nichts, stattdessen triumphiert beim Kampf eines investigativen Journalisten gegen die Halunken ein proto-surrealistisches Chaos aus Ideen, Zufällen und skurrilen Figuren, und wenn Musidora im Close-Up die Zähnchen bleckt, ist das einer dieser Moment der Filmgeschichte, die einem klar machen, weshalb man dem Kino so sehr verfallen ist.
El Topo (Alejandro Jodorowsky, Mexiko 1970), 124’
Ich bleibe dabei: Das letzte Drittel von Jodorowskys Psychedelic-Western ist vom Zahn der Zeit dann doch bereits ziemlich angenagt worden – fast wirkt es, als sei zwischenzeitlich das Geld ausgegangen, und wenn Jodorowsky versucht, einen auf Monty Python zu machen, scheitert er oft und gerne. Dafür sind die ersten beiden Triptychon-Flügel zeitloses Transgressions-Kino, das einen quasi im Sekundentakt mit unvergesslichen, teilweise ordentlich blutigen Bildern konfrontiert. Eingeführt wird der Film von einem gewissen Nicolas Winding Refn, der seine Eitelkeit erfolglos hinter Selbstironie zu verstecken versucht.
Lunedì 24 Giugno
Herr Arnes Pengar: En Vinterballad in 5 Akter (Mauritz Stiller, Schweden 1919), 109‘
Schwedische Stummfilme sind ja sowieso Garanten für Landschaftsbilder, die man sich am liebsten übers Bett nageln würde, und Stillers Adaption einer Lagerlöf-Erzählung hierbei sogar noch in besonderem Maße. Wenn da ein Schiff im Eis des Polarmeers feststeckt, und man die komplette Kameraausrüstung offenbar in unmittelbarer Nähe auf dem zugefrorenen Ozean positioniert hat, dann klappt mir die Kinnlade in einer Weise herunter, dass ich diesem Meisterwerk selbst einige eher fragwürdige, beinahe misogyne Charakterzeichnungen nicht übelnehme.
La Maschere e il Volto (Augusto Genina, Italien 1919), 85’
Wiederentdecktes Frühwerk Geninas, bei dem es sich um eine spitzig-lockere Gesellschaftskomödie handelt, in der mehrere Pärchen gegenseitig miteinander fremdgehen, tausendfache Verwechslungen ihr Übriges tun, und am Ende eine Frau beerdigt wird, die gar nicht tot ist, sondern mit ihrem Gatten, der sie vermeintlich ermordet hat, ein neues, zweites Leben beginnt. Die letzte Viertelstunde brachte mein Bäuchlein wie wild zum Hüpfen.
Hyeolmaek (Kim Soo-yong, Südkorea 1963), 83’
Hunderte Filme soll der persönlich anwesende südkoreanische Regisseur Kim Soo-yong in seinem Leben gedreht haben, und „Hyeolmaek“ scheint einer seiner bekanntesten und bedeutendsten zu sein. Angekündigt als Mischung aus De Sica und Rossellini bzw. als launige Komödie habe ich das Werk um Kriegsflüchtlinge aus Nordkorea, die in Behelfsunterkünften nahe Seoul unterkommen, jedoch eher als bitteres Drama empfunden, in dem es bis auf das liebenswerte Happy End nicht allzu viel zum Schmunzeln gibt.
Faubourg Montmartre (Raymond Bernard, Frankreich 1931), 115’
Warten auf Artaud. Nachdem ich seinen Namen im Vorspann gelesen habe, harre ich auf sein Erscheinen auf der Leinwand. Beinahe zwei Stunden muss ich dafür einen Film überstehen, der edgy sein will und an Themen wie Drogensucht, Prostitution und sozialer Ächtung kratzt, diese aber immer wieder dadurch mindert, dass er fröhliche Chansons einspielt, infantile Scherze um Pralinen in Katzenform reißt, und sich auf eine ehrlich triviale Liebesgeschichte versteift. Dann aber, einer meiner Höhepunkte des diesjährigen Cinema Ritrovato: Artaud stachelt mit Krönchen, epileptisch zuckend und mit einem Blick direkt in die Kamera, den Zulawski seinen Schauspielern nicht besser hätte abtrotzen können, einen mit Tiermasken ausstaffierten Mob dazu an, Menschenpuppen den Flammen eines Scheiterhaufens zu überantworten. Ich fühle mich danach selbst, als habe man mir mit einem Paddel quer über den Kopf geschlagen.
Los Olvidados (Luis Bunuel, Mexiko 1950), 81’
Wie hart Bunuels neorealistisches Drama über Kinder und Jugendliche in den Slums von Mexico City tatsächlich ausgefallen ist, hat mir nun erst die Zweitsichtung als Open-Air-Event vor Augen geführt: Wer seinen Film damit enden lässt, dass der minderjährige Protagonist als Leiche auf einer Müllkippe endet, der ist entweder ein bösartiger Zyniker oder jemand, der sich eines schonungslosen Naturalismus bedient, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Wo ich Bunuel verorten würde, dürfte klar sein. Was für ein seiner Zeit vorauseilendes Meisterstück!
Martedi 25 Giugno
Iskanderija…Lih? (Youssef Chahine, Ägypten 1972), 125’
Laut Einführung Chahines autobiographischster Film: Während sich Rommels Truppen auf Kairo zubewegen, ficht ein junger Mann seinen persönlichen Kampf mit der eigenen Familie aus, denn er will unbedingt Schauspieler werden, und dafür nach New York übersiedeln. In vielen miteinander verflochtenen Episoden entwirft das Werk ein ägyptisches Gesellschaftspanorama der frühen 40er Jahre, spart nicht mit Melodramatik, aber ebenso wenig mit augenzwinkerndem Humor, und wirkt in seinen besten Momenten wie ein etwas geerdeter Fellini á la AMARCORD.
Tötet nicht mehr! (Lupu Pick, Deutschland 1919), 127‘
1919, als die Zensur im Deutschen Reich kurzzeitig faktisch nicht mehr existierte, versucht sich Lupu Pick an einer leidenschaftlichen Anklage gegen die Praxis der Todesstrafe. Gut gemeint ist aber oftmals nicht gut gemacht: Über weite Strecken verzettelt sich sein Film sich in seiner viel zu ausgewalzten Handlung, die man gut und gerne auch um eine halbe Stunde Laufzeit hätte entschlacken können. Effektiv jedenfalls ist das unglaublich schwarzzeichnerische Finale; außerdem soll der Film seit seiner Uraufführung nirgendwo mehr gezeigt worden sein, und wurde erst kürzlich in den Kellern des Bundesarchivs wiederentdeckt.
Sangen Om Den Eldröda Blomman (Mauritz Stiller, Schweden 1919), 101’
Wenn Stiller etwas kann, dann ist das, die Schicksale seiner Helden auf der Folie atemberaubender Landschaftsaufnahmen zu spiegeln. Inhaltlich ist seine Verfilmung einer populären Literaturvorlage Lars Hansons kein Wurf, der es schafft, eine Strecke zurückzulegen, die über eine eher sentimentale, verquaste Liebesgeschichte hinwegführen würde – was allerdings die gerahmt in Museum gehörenden Bilder reißender Ströme, schneebedeckter Berge, wogender Felder spielerisch aus dem Gedächtnis streichen.
La Montana Sagrada (Alejandro Jodorowsky, Mexiko/USA 1973), 115’
Ich bleibe dabei: Der satirisch-überzeichnete Mittelteil, in dem Jodorowsky uns auf ferne Planeten führt, um anhand eines Ensembles machthungriger Individueen an Verwerfungen der menschlichen Natur Kritik zu üben, ist nicht halb so gut gealtert wie die ihn umlagernden anderen beiden Teilen dieses unfassbar kostspieligen, von exotischen Tieren und hermetischen Symbolen regelrecht überquellenden Transzendenz-Trips; dafür sind der Auftakt und das schlicht geniale metareflexive Finale von einer Zeitlosigkeit, die einem auch Jodorowskys offenkundige Megalomanie noch sympathisch macht.
Mercoledì 26 Giugno
An-Nil Fi Al-Hayat (Youssef Chahine, Ägypten/UDSSR 1969), 109‘
Mein persönlicher Festival-Tiefpunkt: Äußerst mäandernder Film, dem es sichtlich nicht guttut, dass es sich um eine ägyptisch-sowjetische Co-Produktion handelt, von deren Endresultat letztlich beide beteiligten Staaten selbst derart enttäuscht gewesen sind, dass sie für Jahre in den Giftschrank wanderte. Während des Baus des Assuan-Staudamms lernen sich ein russischer Ingenieur und ein ägyptischer Hilfsarbeiter kennen. Es wird endlos geplaudert, hölzerne Liebesgeschichten werden abgerollt, ein elaborierter, jedoch unmotivierter Flashback führt bis in den Kessel von Stalingrad Anno 1942, und spätestens wenn Chahine es für eine gute Idee hält, sämtliche russischen Dialoge von einer arabischen Sprecherin per Overdubbing synchronisieren zu lassen, wird der Kinosessel zum Folterstuhl.
Anders als die Andern (Richard Oswald, Deutschland 1919), 50‘
Dieser beliebte Gast schwuler und queerer Filmfestivals seit den 80ern ist der erste Film, der Homosexualität nicht nur relativ offenherzig thematisiert, sondern zudem kein Stück verteufelt, sondern stattdessen, unter der Ägide Magnus Hirschfelds, als eine kein Stück verurteilenswerte Spielart der Natur darstellt. Kein Wunder, dass bereits die Zensoren der Weimarer Republik den Film zu vernichten suchten, weshalb heute weniger als eine Stunde von ihm erhalten geblieben ist. Nicht nur filmhistorisch Pflichtprogramm, und wer Conrad Veidt als dem gleichen Geschlecht zugetanen Pianisten nicht sexy findet, dem kann ich auch nicht helfen.
Le Sang des Bêtes (Georges Franju, Frankreich 1949), 22‘
Neben „Faubourg Montmartre“ und „Los Olvidados“ mein drittes Highlight: Klar, ich habe Franjus Schlachthaus-Doku schon bestimmt dreißigmal gesehen die letzten fünfzehn Jahre, aber auf der Leinwand und in einem Raum voller vor Entsetzen schreiender und sich angesichts der Gräuelbilder von sterbenden Pferden, ausgeweidet werdenden Rindern und enthaupteter Schafe die Hände vor die Gesichter schlagender Menschen ist das natürlich nochmal eine ganz andere Hausnummer: Man fand mich gebadet im eigenen Schweiß und zitternd wie Espenlaub, als das Licht wieder anging.
La Première nuit (Georges Franju, Frankreich 1958), 23‘
Poetisch-lyrische Töne in diesem Franju-Film, der komplett ohne Dialoge einen minderjährigen Ausreißer bei seiner Nacht in der Pariser Unterwelt begleitet. Sehr feinfühlig schildert dieser Film die Magie im Alltäglichen, und wie sich selbst ein trister Metroschacht unter den Augen eines träumenden Knaben in einen zauberhaften Ort zu verwandeln vermag.
Le Métro (Georges Franju/Henri Langlois, Frankreich 1935), 8‘
Dass ich Georges Franjus und Henri Langlois Fingerübung „Le Métro“ – wahrscheinlich einer der letzten Filme der klassischen französischen Kino-Avantgarde – jemals mal auf der großen Leinwand zu Gesicht bekomme, hätte ich mir ebenso wenig gedacht wie, dass das Debut der beiden seinerzeit blutjungen Filmenthusiasten derart visionär ausgefallen ist: Da wird die titelgebende Untergrund-Bahn aus derart vielen Winkeln gefilmt, dass diese Ode an die Velozität die Grenze zur Abstraktion locker überschreitet.
Lang ist der Weg (Herbert Fredersdorf/Marek Goldstein, BRD 1948), 73‘
Einer der wenigen Filme, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Shoa aus jüdischer Perspektive schildert. Oszillierend zwischen dokumentarischen Aufnahmen und Spielszenen wird das exemplarische Schicksal eines jungen Mannes erzählt, der sich seiner Deportation entzieht, sich einer Partisanen-Gruppe anschließt, nach Kriegsende verzweifelt seine Mutter sucht, und dabei die Liebe seines Lebens findet. Im Vordergrund steht weniger der dann doch etwas holzschnittartige Plot, sondern die unaufdringliche Behandlung des Themas der Entwurzelung deutscher Juden nach 1945.
Giovedi 27 Giugno
Pour Don Carlos (Musidora, Jacques Lasseyne, Frankreich 1921), 90’
Schauplatz des ersten Projekts von Musidoras eigener Filmproduktionsfirma ist eine rurale Gegend Spaniens, in der sich im 19. Jahrhundert die Anhänger Don Carlos‘ und die Bourbonen gegenseitig die Köpfe einschlagen, und unsere Heldin als Rebellenführerinnen ihr Herz an einen Verbündeten der Gegenpartei verliert. Um ihren Schatz aus dem Gefängnis zu befreien, ist ihr jedes Mittel recht – bald riecht es überall nach Munitionspulver und Leichen lüsterner Offiziere stapeln sich. Sehr unterhaltsam.
La Petite Vendeuse De Soleil (Djibril Diop Mambéty, Senegal 1999), 45’
Mambéty ist spätestens seit meiner Erstsichtung von „Touki Bouki“ mein persönlicher Held des post-kolonialen afrikanischen Kinos; seine späten Kurzfilme indes habe ich bislang stets vernachlässigt. Warum nur?, frage ich mich nun, wo ich weiß, dass vorliegende Geschichte um ein gehbehindertes Mädchen aus armen Verhältnissen, das zur erfolgreichen Zeitungsverkäuferin Dakars aufsteigt, so voller Herzenswärme, einem verrückten Humor und niemals plakativer Sozialkritik ausgestattet ist, dass man den Film nur küssen möchte. Die Laiendarsteller – gerade die zuckersüße Titelheldin! – tun ihr Übriges, Mambétys letzte Regiearbeit zum wahren Meisterwerk zu küren: Gerade weil er es scheinbar nicht darauf anlegt, treibt einem dieser Film die Tränen der Rührung in die Augen.
Le Franc (Djibril Diop Mambéty, Senegal 1994), 45’
Und noch eine Großtat des senegalesischen Regiemeisters: Erneut der zärtliche Blick auf einfache Leute in der Hauptstadt des westafrikanischen Staates, aus denen diesmal ein Mietpreller und Hallodri heraussticht, der auf den großen Lottogewinn spekuliert, tatsächlich das große Los zieht, dieses aber dummerweise mit Elefantenkleber, damit es ihm niemand stibitzt, an der Tür seiner Wohnung befestigt hat, von wo er es nun nicht mehr abbekommt.
Hôtel des Invalides (Georges Franju, Frankreich 1951), 22‘
Die heftigste anti-militaristische Dokumentation, die ich mir vorstellen kann – und das, obwohl Franju fast völlig auf explizite Bilder verzichtet, sondern uns einfach nur auf einen Spaziergang durch das Pariser Militärmuseum mitnimmt. Unvergesslich der Gottesdienst am Ende, in dem etliche kriegsversehrte Invaliden sich die Kirchenbänke teilen.
Monsieur et Madame Curie (Georges Franju, Frankreich 1951), 14’
Mini-Biopic über das Physikerehepaar, dessen männlicher Part mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. Für jemanden, der am nächsten Tag seine Mündliche Abi-Prüfung in Physik über die Curies absolvieren muss, sehr hilfreich, im Vergleich mit Franjus übrigem Oeuvre für mich eher vernachlässigbar, da doch recht konventionell ausgefallen.
Mon chien (Georges Franju, Frankreich 1955), 25‘
Ist „Le Sang des Bêtes“ Franjus schockierendster Kurzfilm, so ist dieser hier sein herzzerreißendster. Als eine Familie beschließt, der Schäferhund würde im anstehenden Urlaub doch nur stören, wird er kurzerhand und trotz der Tränen des Töchterchens im Wald ausgesetzt. Anschließend folgt der Film der Odyssee des Hundes zurück zum Haus seiner Besitzer. Da das allerdings verwaist ist, wird er letztlich von Ordnungshütern aufgegriffen, und ins Tierheim gesteckt. Nach zwei Wochen Wartezeit, ob sich doch jemand einfindet, der Anspruch auf ihn erhebt, droht die Todesspitze.
Chacals (André Hugon, Frankreich 1917), 80’
Ist der mühsam-melodramatische Anfang erst einmal überwunden, entpuppt sich dieser Musidora-Film zu einem regelrechten Western, der mich in manchen Einstellungen gar an Stroheims „Greed“ erinnerte: Da wird im spanischen Hinterland nach Gold gejagt, da fallen Schüsse, da verdursten Banditen unter glühender Sonne, und dazwischen erobert Musidora jedes Männerherz im Sturm.
Il Gatto A Nove Code (Dario Argento, Italien 1971), 112’
Für mich bleibt Argentos zweiter Film auch nach der nunmehr dritten Sichtung zumindest bis in die frühen 90er hinein sein misslungenster: Der Plot ist hanebüchen, wobei die himmelschreienden Volten nicht einmal von einer besonders spannenden Inszenierung, Farbräuschen oder surrealistischen Einsprengseln kaschiert werden. Das Publikum sieht das jedoch offenbar anders. Kurz gesagt: Der Saal brüllt, und zwar auch in Szenen, in denen, meiner Meinung nach, nun wirklich überhaupt nichts Witziges vonstattengeht. Ist das so ein kulturelles Ding, aus dem ich als Nicht-Italiener per se ausgeschlossen bin, oder habe ich einfach nur keinen Humor?
Venerdì 28 Giugno
Ghazieh-E Shekl-E Avval, Ghazieh-E Shekl-E Dovvom (Abbas Kiarostami, Iran 1979), 53’
Ein Schulzimmer in Teheran: Sobald der Lehrer der Klasse den Rücken zuwendet, trommelt irgendeiner der Buben gegen seine Holzbank. Da sie sich weigern, den Schuldigen zu verraten, schickt der Lehrer die gesamten beiden letzten Reihen raus in den Flur, wo sie für eine Woche bleiben sollen, wenn denn nicht einer von ihnen doch zur Petze wird. Kiarostami filmt nunmehr zwei Auflösungen: In der einen wird einer der Knaben zum Judas; in einer anderen verharren die Jungen sieben Tage vor dem Klassenraum. Diskutiert wird ihr Verhalten von zahllosen iranischen Intellektuellen, Politikern, Sozialarbeitern in dazwischen geschnitten Interviewsequenzen.
Finis Terrae (Jean Epstein, Frankreich 1929), 80‘
Ein frühes Loblied Epsteins an die Küsten der Bretagne, halb Filmgedicht, halb Dokumentation, und ein bisschen auch Abenteuerfilm, wenn vier Männer auf einer einsamen Insel wochenlang Seetang sammeln, sich Konflikte zwischen ihnen anbahnen, und einer von ihnen sich schließlich lebensbedrohlich verletzt, sodass man trotz ungünstiger Witterung zum Festland hinüberschippen muss. „La Chute de la Maison Usher“, „Mauprat“ oder „La Glace à trois faces” zum Trotz bleibt das für mich wohl Epsteins schönster Streifen.
Judex (Georges Franju, Frankreich 1963), 93’
Hach, wie witzig Franjus Verbeugung vor den Serials Feuillades im Grunde ist, hat sich mir nun auch erst bei meiner ersten Kino-Sichtung des Films erschlossen. So viel gelacht habe ich wohl schon lange nicht mehr bei einem Film – zumal Franju seine Vorbilder weder durch den Kakao zieht noch sie über Gebühr ernstnimmt, sondern in jeder Einstellung spüren lässt, wie sehr er diese haarsträubenden, turbulenten Geschichten von Superverbrechern, als Nonnen verkleideten Femme Fatales und rasanten Autoverfolgungen im Grunde liebt, ohne sie dabei jedoch fetischistisch verklären zu wollen. Die Maskenballszene mit Max-Ernst-Gedächtnis-Vogelköpfen ist ein Goldstück in Franjus Oeuvre!
Les Vampires, Episode 6: Les Yeux Qui Fascinent (Louis Feuillade, Frankreich 1915), 72’
Erneut eine ikonische, konfuse und sehr kurzweilige Vampir-Episode, in der Musidora mit ihrem Catsuit eine Art von lasziver Erotik versprüht, bei der ich verstehe, dass André Breton ihr seinerzeit euphorische Liebesbriefe schrieb, dass Aragon sie zur „zehnten Muse“ ausrief, und dass Pierre Louys gar plante, den eigenen Sohn von ihr sexuell initiieren zu lassen.
Apocalypse Now – Final Cut (Francis Ford Coppola, USA 1983), 183’
Nun endlich also die finale Schnittfassung von Coppolas Magnus Opus: Länger als die damalige Kinoversion, etwa zwanzig Minuten kürzer als die Redux-Variante. Ein dreistündiger Rausch, bei dem ich dann aber doch vorsichtig wäre, ihn als einen der besten Filme aller Zeiten zu bezeichnen. (Eigentlich hatte ich nämlich auch einen weiteren Chahine-Film sehen wollen, doch kurzfristig wurde vom Festival beschlossen, den in Coppolas Anwesenheit auf der Piazza Maggiore als Open-Air-Event aufgeführten Film einfach mal unisono in noch zwei anderen Kinos zu zeigen, da der Platz vor Besuchern scheinbar schon zu platzen drohte.)
Sabato 29 Giugno
The Wild Bunch (Sam Peckinpah, USA 1969), 145’
Klar, ich kapiere schon, auf was Peckinpah mit seinem Abgesang auf Western-Stereotype abzielt, großartig begeistern konnte mich seine stellenweise außerordentlich blutrünstige Genre-Dekonstruktion nicht wirklich: Zu brav folgt er dann doch den ausgetretenen Pfaden, zu konventionell ist der Film inszenatorisch ausgefallen, zu wenig gelang es mir, mich mit den Figuren zu identifizieren, mit denen ich durch die Bank weg nicht unbedingt eine Hacienda überfallen wollen würde.
Al Nasser Salah Al-Din (Youssef Chahine, Ägypten 1963), 186’
Was für ein Festivalabschluss: Drei-Stunden-Epos, das die Ereignisse des Dritten Kreuzzugs, sprich, die Konfrontation zwischen Saladin und Barbarossa, aus arabischer Sicht geschildert, dabei mit seinen knallbunten Pappkulissen aussieht wie ein Peplum, den langen Atem eines Hollywood-Monumentalstreifens besitzt, und ganz offen für Freundschaft zwischen Christentum und Islam wirbt, dass man meint, die Stimme von Lessings Nathan zu hören.
Sabato 22 Giugno
Spring Night, Summer Night (Joseph L. Anderson, USA 1968), 84’
Völlig vergessener Vertreter des New Hollywood, der in herben Schwarzweißbildern und mit semi-dokumentarischem Gestus im Milieu des US-Hinterlandes eine möglicherweise inzestuöse Beziehung zum Thema hat, dabei aber vor allem Desillusionismus, Alkoholismus und Machismus der Landbevölkerung in den Vordergrund stellt. Eingeführt wird der Film von der personifizierten Arroganz in Gestalt eines gewissen Nicholas Winding Refn, der ankündigt, bei einem Q&A mit ihm am Folgetag würde die drei weiblichen Gäste mit den klügsten Fragen einen außergewöhnlichen Preis erwarten – wobei er so eklig selbstgefällig am eigenen ausgemergelten Leib herunterstreicht.
Domenica 23 Giugno
Musidora: La Dixième Muse (Patrick Cazals, Frankreich 2013), 65’
Dokumentarfilm zum Leben und Wirken der Musidora, der das diesjährige Festival eine umfassende Retrospektive widmet. Filmisch innovativ sind die talking heads vor Cazals‘ Kamera nicht, dafür hat er Verwandte und Weggefährten der französischen Schauspielerin und Regisseurin vor die Linse bekommen, und ein gelungener Einstieg ins Thema ist das allemal.
Bab Al-Hadid (Youssef Chahine, Ägypten 1958), 74’
Chahines Meisterwerk: Absolut progressiver, auf mehreren Hochzeiten tanzende Mixtur aus film-noiresquen Elementen, die am Ende gar in einen messerschwingenden Psychothriller münden und Gesellschaftsstudie des Ägyptens der späten 50er zwischen Tradition und Moderne, die exakt das rechte Maß zwischen komischen und tragischen Tönen findet. Dass der komplette Film am Kairoer Hauptbahnhof gedreht wurde, verleiht ihm außerdem einen neorealistischen Touch. Pflichtprogramm!
Coeur de Lilas (Anatole Litvak, Frankreich 1931), 90‘
Absolut merkwürdiges Frühwerk Anatole Litvaks, das sich im Prinzip nie so recht entscheiden mag, ob es nun eine Unterweltgeschichte mit Jean Gabin als halbseidenem Kleinganoven sein möchte, eine frivole Screwball-Comedy um einen Inkognito-Polizeibeamten, der sich in die Frau verknallt, die er observieren soll, oder ein melodramatischer Krimi, bei dem ein des Mordes Verdächtigter verzweifelt versucht, seine Unschuld zu beweisen. Toll sind die eleganten Kamerafahrten, und wenn Fernandel aus dem Nichts auftaucht, und anzügliche Hochzeitsschlager anstimmt, bleibt kein Auge trocken.
Una Storia Moderne – L‘Ape Regina (Marco Ferreri, Italien/Frankreich 1963), 93’
Marco Ferreris erster in Film entstandener Spielfilm, ein outriertes Ehedrama, das immer mal wieder ins rein Surreal-Subversive hinüberkippt, und die wahnwitzige Geschichte eines Mannes erzählt, dem seine jüngere Gattin sukkubusartig die sexuelle Potenz entzieht. So laut wie bei diesem Screening habe ich vielleicht noch nie ein Kinopublikum prusten gehört.
Les Miséres de l’aiguille (Raphael Clamour, Frankreich 1913), 13’
Einer der ersten Filme, in denen Musidora als Akteurin auftritt. Banales Melodram um Liebe, Lust und Leiden, das darin gipfelt, dass sich die Heldin mitsamt ihres Neugeborenen in die Seine schmeißen will, was dann auch die einzige Szene ist, die ich von dem Filmchen noch im Gedächtnis habe.
Jeunes filles d’hier et d’aujourd’hui (Louis Feuillade, Frankreich 1915), 10‘
Unfassbarer Pro-Weltkriegs-Fetzen von dem eigentlich lobenswerten Feuillade, der den europäischen Großkonflikt hier zum Anlass romantischer Verwicklungen stilisiert: Ein Soldat verknallt sich in Musidora; der Krieg trennt sie voneinander; erst durch seine Absenz geht unserer Heldin das Licht auf, dass sie ihn doch eigentlich liebt. Schlimm.
Les Vampires, Episode 3: Le Cryptogramme Rouge (Louis Feuillade, Frankreich 1915), 48’
Die dritte Episode von Feuillades ikonischem Serial um eine Verbrecherbande, die sich „Die Vampire“ nennt, und Irma Vep, eine Femme Fatale aus deren Reihen, die sich, wenn sie nicht gerade sensible Dokumente aus Pariser Wohnungen entwendet, in einem Tanzkabarett verdingt. Logisch ist hier nichts, stattdessen triumphiert beim Kampf eines investigativen Journalisten gegen die Halunken ein proto-surrealistisches Chaos aus Ideen, Zufällen und skurrilen Figuren, und wenn Musidora im Close-Up die Zähnchen bleckt, ist das einer dieser Moment der Filmgeschichte, die einem klar machen, weshalb man dem Kino so sehr verfallen ist.
El Topo (Alejandro Jodorowsky, Mexiko 1970), 124’
Ich bleibe dabei: Das letzte Drittel von Jodorowskys Psychedelic-Western ist vom Zahn der Zeit dann doch bereits ziemlich angenagt worden – fast wirkt es, als sei zwischenzeitlich das Geld ausgegangen, und wenn Jodorowsky versucht, einen auf Monty Python zu machen, scheitert er oft und gerne. Dafür sind die ersten beiden Triptychon-Flügel zeitloses Transgressions-Kino, das einen quasi im Sekundentakt mit unvergesslichen, teilweise ordentlich blutigen Bildern konfrontiert. Eingeführt wird der Film von einem gewissen Nicolas Winding Refn, der seine Eitelkeit erfolglos hinter Selbstironie zu verstecken versucht.
Lunedì 24 Giugno
Herr Arnes Pengar: En Vinterballad in 5 Akter (Mauritz Stiller, Schweden 1919), 109‘
Schwedische Stummfilme sind ja sowieso Garanten für Landschaftsbilder, die man sich am liebsten übers Bett nageln würde, und Stillers Adaption einer Lagerlöf-Erzählung hierbei sogar noch in besonderem Maße. Wenn da ein Schiff im Eis des Polarmeers feststeckt, und man die komplette Kameraausrüstung offenbar in unmittelbarer Nähe auf dem zugefrorenen Ozean positioniert hat, dann klappt mir die Kinnlade in einer Weise herunter, dass ich diesem Meisterwerk selbst einige eher fragwürdige, beinahe misogyne Charakterzeichnungen nicht übelnehme.
La Maschere e il Volto (Augusto Genina, Italien 1919), 85’
Wiederentdecktes Frühwerk Geninas, bei dem es sich um eine spitzig-lockere Gesellschaftskomödie handelt, in der mehrere Pärchen gegenseitig miteinander fremdgehen, tausendfache Verwechslungen ihr Übriges tun, und am Ende eine Frau beerdigt wird, die gar nicht tot ist, sondern mit ihrem Gatten, der sie vermeintlich ermordet hat, ein neues, zweites Leben beginnt. Die letzte Viertelstunde brachte mein Bäuchlein wie wild zum Hüpfen.
Hyeolmaek (Kim Soo-yong, Südkorea 1963), 83’
Hunderte Filme soll der persönlich anwesende südkoreanische Regisseur Kim Soo-yong in seinem Leben gedreht haben, und „Hyeolmaek“ scheint einer seiner bekanntesten und bedeutendsten zu sein. Angekündigt als Mischung aus De Sica und Rossellini bzw. als launige Komödie habe ich das Werk um Kriegsflüchtlinge aus Nordkorea, die in Behelfsunterkünften nahe Seoul unterkommen, jedoch eher als bitteres Drama empfunden, in dem es bis auf das liebenswerte Happy End nicht allzu viel zum Schmunzeln gibt.
Faubourg Montmartre (Raymond Bernard, Frankreich 1931), 115’
Warten auf Artaud. Nachdem ich seinen Namen im Vorspann gelesen habe, harre ich auf sein Erscheinen auf der Leinwand. Beinahe zwei Stunden muss ich dafür einen Film überstehen, der edgy sein will und an Themen wie Drogensucht, Prostitution und sozialer Ächtung kratzt, diese aber immer wieder dadurch mindert, dass er fröhliche Chansons einspielt, infantile Scherze um Pralinen in Katzenform reißt, und sich auf eine ehrlich triviale Liebesgeschichte versteift. Dann aber, einer meiner Höhepunkte des diesjährigen Cinema Ritrovato: Artaud stachelt mit Krönchen, epileptisch zuckend und mit einem Blick direkt in die Kamera, den Zulawski seinen Schauspielern nicht besser hätte abtrotzen können, einen mit Tiermasken ausstaffierten Mob dazu an, Menschenpuppen den Flammen eines Scheiterhaufens zu überantworten. Ich fühle mich danach selbst, als habe man mir mit einem Paddel quer über den Kopf geschlagen.
Los Olvidados (Luis Bunuel, Mexiko 1950), 81’
Wie hart Bunuels neorealistisches Drama über Kinder und Jugendliche in den Slums von Mexico City tatsächlich ausgefallen ist, hat mir nun erst die Zweitsichtung als Open-Air-Event vor Augen geführt: Wer seinen Film damit enden lässt, dass der minderjährige Protagonist als Leiche auf einer Müllkippe endet, der ist entweder ein bösartiger Zyniker oder jemand, der sich eines schonungslosen Naturalismus bedient, um auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen. Wo ich Bunuel verorten würde, dürfte klar sein. Was für ein seiner Zeit vorauseilendes Meisterstück!
Martedi 25 Giugno
Iskanderija…Lih? (Youssef Chahine, Ägypten 1972), 125’
Laut Einführung Chahines autobiographischster Film: Während sich Rommels Truppen auf Kairo zubewegen, ficht ein junger Mann seinen persönlichen Kampf mit der eigenen Familie aus, denn er will unbedingt Schauspieler werden, und dafür nach New York übersiedeln. In vielen miteinander verflochtenen Episoden entwirft das Werk ein ägyptisches Gesellschaftspanorama der frühen 40er Jahre, spart nicht mit Melodramatik, aber ebenso wenig mit augenzwinkerndem Humor, und wirkt in seinen besten Momenten wie ein etwas geerdeter Fellini á la AMARCORD.
Tötet nicht mehr! (Lupu Pick, Deutschland 1919), 127‘
1919, als die Zensur im Deutschen Reich kurzzeitig faktisch nicht mehr existierte, versucht sich Lupu Pick an einer leidenschaftlichen Anklage gegen die Praxis der Todesstrafe. Gut gemeint ist aber oftmals nicht gut gemacht: Über weite Strecken verzettelt sich sein Film sich in seiner viel zu ausgewalzten Handlung, die man gut und gerne auch um eine halbe Stunde Laufzeit hätte entschlacken können. Effektiv jedenfalls ist das unglaublich schwarzzeichnerische Finale; außerdem soll der Film seit seiner Uraufführung nirgendwo mehr gezeigt worden sein, und wurde erst kürzlich in den Kellern des Bundesarchivs wiederentdeckt.
Sangen Om Den Eldröda Blomman (Mauritz Stiller, Schweden 1919), 101’
Wenn Stiller etwas kann, dann ist das, die Schicksale seiner Helden auf der Folie atemberaubender Landschaftsaufnahmen zu spiegeln. Inhaltlich ist seine Verfilmung einer populären Literaturvorlage Lars Hansons kein Wurf, der es schafft, eine Strecke zurückzulegen, die über eine eher sentimentale, verquaste Liebesgeschichte hinwegführen würde – was allerdings die gerahmt in Museum gehörenden Bilder reißender Ströme, schneebedeckter Berge, wogender Felder spielerisch aus dem Gedächtnis streichen.
La Montana Sagrada (Alejandro Jodorowsky, Mexiko/USA 1973), 115’
Ich bleibe dabei: Der satirisch-überzeichnete Mittelteil, in dem Jodorowsky uns auf ferne Planeten führt, um anhand eines Ensembles machthungriger Individueen an Verwerfungen der menschlichen Natur Kritik zu üben, ist nicht halb so gut gealtert wie die ihn umlagernden anderen beiden Teilen dieses unfassbar kostspieligen, von exotischen Tieren und hermetischen Symbolen regelrecht überquellenden Transzendenz-Trips; dafür sind der Auftakt und das schlicht geniale metareflexive Finale von einer Zeitlosigkeit, die einem auch Jodorowskys offenkundige Megalomanie noch sympathisch macht.
Mercoledì 26 Giugno
An-Nil Fi Al-Hayat (Youssef Chahine, Ägypten/UDSSR 1969), 109‘
Mein persönlicher Festival-Tiefpunkt: Äußerst mäandernder Film, dem es sichtlich nicht guttut, dass es sich um eine ägyptisch-sowjetische Co-Produktion handelt, von deren Endresultat letztlich beide beteiligten Staaten selbst derart enttäuscht gewesen sind, dass sie für Jahre in den Giftschrank wanderte. Während des Baus des Assuan-Staudamms lernen sich ein russischer Ingenieur und ein ägyptischer Hilfsarbeiter kennen. Es wird endlos geplaudert, hölzerne Liebesgeschichten werden abgerollt, ein elaborierter, jedoch unmotivierter Flashback führt bis in den Kessel von Stalingrad Anno 1942, und spätestens wenn Chahine es für eine gute Idee hält, sämtliche russischen Dialoge von einer arabischen Sprecherin per Overdubbing synchronisieren zu lassen, wird der Kinosessel zum Folterstuhl.
Anders als die Andern (Richard Oswald, Deutschland 1919), 50‘
Dieser beliebte Gast schwuler und queerer Filmfestivals seit den 80ern ist der erste Film, der Homosexualität nicht nur relativ offenherzig thematisiert, sondern zudem kein Stück verteufelt, sondern stattdessen, unter der Ägide Magnus Hirschfelds, als eine kein Stück verurteilenswerte Spielart der Natur darstellt. Kein Wunder, dass bereits die Zensoren der Weimarer Republik den Film zu vernichten suchten, weshalb heute weniger als eine Stunde von ihm erhalten geblieben ist. Nicht nur filmhistorisch Pflichtprogramm, und wer Conrad Veidt als dem gleichen Geschlecht zugetanen Pianisten nicht sexy findet, dem kann ich auch nicht helfen.
Le Sang des Bêtes (Georges Franju, Frankreich 1949), 22‘
Neben „Faubourg Montmartre“ und „Los Olvidados“ mein drittes Highlight: Klar, ich habe Franjus Schlachthaus-Doku schon bestimmt dreißigmal gesehen die letzten fünfzehn Jahre, aber auf der Leinwand und in einem Raum voller vor Entsetzen schreiender und sich angesichts der Gräuelbilder von sterbenden Pferden, ausgeweidet werdenden Rindern und enthaupteter Schafe die Hände vor die Gesichter schlagender Menschen ist das natürlich nochmal eine ganz andere Hausnummer: Man fand mich gebadet im eigenen Schweiß und zitternd wie Espenlaub, als das Licht wieder anging.
La Première nuit (Georges Franju, Frankreich 1958), 23‘
Poetisch-lyrische Töne in diesem Franju-Film, der komplett ohne Dialoge einen minderjährigen Ausreißer bei seiner Nacht in der Pariser Unterwelt begleitet. Sehr feinfühlig schildert dieser Film die Magie im Alltäglichen, und wie sich selbst ein trister Metroschacht unter den Augen eines träumenden Knaben in einen zauberhaften Ort zu verwandeln vermag.
Le Métro (Georges Franju/Henri Langlois, Frankreich 1935), 8‘
Dass ich Georges Franjus und Henri Langlois Fingerübung „Le Métro“ – wahrscheinlich einer der letzten Filme der klassischen französischen Kino-Avantgarde – jemals mal auf der großen Leinwand zu Gesicht bekomme, hätte ich mir ebenso wenig gedacht wie, dass das Debut der beiden seinerzeit blutjungen Filmenthusiasten derart visionär ausgefallen ist: Da wird die titelgebende Untergrund-Bahn aus derart vielen Winkeln gefilmt, dass diese Ode an die Velozität die Grenze zur Abstraktion locker überschreitet.
Lang ist der Weg (Herbert Fredersdorf/Marek Goldstein, BRD 1948), 73‘
Einer der wenigen Filme, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Shoa aus jüdischer Perspektive schildert. Oszillierend zwischen dokumentarischen Aufnahmen und Spielszenen wird das exemplarische Schicksal eines jungen Mannes erzählt, der sich seiner Deportation entzieht, sich einer Partisanen-Gruppe anschließt, nach Kriegsende verzweifelt seine Mutter sucht, und dabei die Liebe seines Lebens findet. Im Vordergrund steht weniger der dann doch etwas holzschnittartige Plot, sondern die unaufdringliche Behandlung des Themas der Entwurzelung deutscher Juden nach 1945.
Giovedi 27 Giugno
Pour Don Carlos (Musidora, Jacques Lasseyne, Frankreich 1921), 90’
Schauplatz des ersten Projekts von Musidoras eigener Filmproduktionsfirma ist eine rurale Gegend Spaniens, in der sich im 19. Jahrhundert die Anhänger Don Carlos‘ und die Bourbonen gegenseitig die Köpfe einschlagen, und unsere Heldin als Rebellenführerinnen ihr Herz an einen Verbündeten der Gegenpartei verliert. Um ihren Schatz aus dem Gefängnis zu befreien, ist ihr jedes Mittel recht – bald riecht es überall nach Munitionspulver und Leichen lüsterner Offiziere stapeln sich. Sehr unterhaltsam.
La Petite Vendeuse De Soleil (Djibril Diop Mambéty, Senegal 1999), 45’
Mambéty ist spätestens seit meiner Erstsichtung von „Touki Bouki“ mein persönlicher Held des post-kolonialen afrikanischen Kinos; seine späten Kurzfilme indes habe ich bislang stets vernachlässigt. Warum nur?, frage ich mich nun, wo ich weiß, dass vorliegende Geschichte um ein gehbehindertes Mädchen aus armen Verhältnissen, das zur erfolgreichen Zeitungsverkäuferin Dakars aufsteigt, so voller Herzenswärme, einem verrückten Humor und niemals plakativer Sozialkritik ausgestattet ist, dass man den Film nur küssen möchte. Die Laiendarsteller – gerade die zuckersüße Titelheldin! – tun ihr Übriges, Mambétys letzte Regiearbeit zum wahren Meisterwerk zu küren: Gerade weil er es scheinbar nicht darauf anlegt, treibt einem dieser Film die Tränen der Rührung in die Augen.
Le Franc (Djibril Diop Mambéty, Senegal 1994), 45’
Und noch eine Großtat des senegalesischen Regiemeisters: Erneut der zärtliche Blick auf einfache Leute in der Hauptstadt des westafrikanischen Staates, aus denen diesmal ein Mietpreller und Hallodri heraussticht, der auf den großen Lottogewinn spekuliert, tatsächlich das große Los zieht, dieses aber dummerweise mit Elefantenkleber, damit es ihm niemand stibitzt, an der Tür seiner Wohnung befestigt hat, von wo er es nun nicht mehr abbekommt.
Hôtel des Invalides (Georges Franju, Frankreich 1951), 22‘
Die heftigste anti-militaristische Dokumentation, die ich mir vorstellen kann – und das, obwohl Franju fast völlig auf explizite Bilder verzichtet, sondern uns einfach nur auf einen Spaziergang durch das Pariser Militärmuseum mitnimmt. Unvergesslich der Gottesdienst am Ende, in dem etliche kriegsversehrte Invaliden sich die Kirchenbänke teilen.
Monsieur et Madame Curie (Georges Franju, Frankreich 1951), 14’
Mini-Biopic über das Physikerehepaar, dessen männlicher Part mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden ist. Für jemanden, der am nächsten Tag seine Mündliche Abi-Prüfung in Physik über die Curies absolvieren muss, sehr hilfreich, im Vergleich mit Franjus übrigem Oeuvre für mich eher vernachlässigbar, da doch recht konventionell ausgefallen.
Mon chien (Georges Franju, Frankreich 1955), 25‘
Ist „Le Sang des Bêtes“ Franjus schockierendster Kurzfilm, so ist dieser hier sein herzzerreißendster. Als eine Familie beschließt, der Schäferhund würde im anstehenden Urlaub doch nur stören, wird er kurzerhand und trotz der Tränen des Töchterchens im Wald ausgesetzt. Anschließend folgt der Film der Odyssee des Hundes zurück zum Haus seiner Besitzer. Da das allerdings verwaist ist, wird er letztlich von Ordnungshütern aufgegriffen, und ins Tierheim gesteckt. Nach zwei Wochen Wartezeit, ob sich doch jemand einfindet, der Anspruch auf ihn erhebt, droht die Todesspitze.
Chacals (André Hugon, Frankreich 1917), 80’
Ist der mühsam-melodramatische Anfang erst einmal überwunden, entpuppt sich dieser Musidora-Film zu einem regelrechten Western, der mich in manchen Einstellungen gar an Stroheims „Greed“ erinnerte: Da wird im spanischen Hinterland nach Gold gejagt, da fallen Schüsse, da verdursten Banditen unter glühender Sonne, und dazwischen erobert Musidora jedes Männerherz im Sturm.
Il Gatto A Nove Code (Dario Argento, Italien 1971), 112’
Für mich bleibt Argentos zweiter Film auch nach der nunmehr dritten Sichtung zumindest bis in die frühen 90er hinein sein misslungenster: Der Plot ist hanebüchen, wobei die himmelschreienden Volten nicht einmal von einer besonders spannenden Inszenierung, Farbräuschen oder surrealistischen Einsprengseln kaschiert werden. Das Publikum sieht das jedoch offenbar anders. Kurz gesagt: Der Saal brüllt, und zwar auch in Szenen, in denen, meiner Meinung nach, nun wirklich überhaupt nichts Witziges vonstattengeht. Ist das so ein kulturelles Ding, aus dem ich als Nicht-Italiener per se ausgeschlossen bin, oder habe ich einfach nur keinen Humor?
Venerdì 28 Giugno
Ghazieh-E Shekl-E Avval, Ghazieh-E Shekl-E Dovvom (Abbas Kiarostami, Iran 1979), 53’
Ein Schulzimmer in Teheran: Sobald der Lehrer der Klasse den Rücken zuwendet, trommelt irgendeiner der Buben gegen seine Holzbank. Da sie sich weigern, den Schuldigen zu verraten, schickt der Lehrer die gesamten beiden letzten Reihen raus in den Flur, wo sie für eine Woche bleiben sollen, wenn denn nicht einer von ihnen doch zur Petze wird. Kiarostami filmt nunmehr zwei Auflösungen: In der einen wird einer der Knaben zum Judas; in einer anderen verharren die Jungen sieben Tage vor dem Klassenraum. Diskutiert wird ihr Verhalten von zahllosen iranischen Intellektuellen, Politikern, Sozialarbeitern in dazwischen geschnitten Interviewsequenzen.
Finis Terrae (Jean Epstein, Frankreich 1929), 80‘
Ein frühes Loblied Epsteins an die Küsten der Bretagne, halb Filmgedicht, halb Dokumentation, und ein bisschen auch Abenteuerfilm, wenn vier Männer auf einer einsamen Insel wochenlang Seetang sammeln, sich Konflikte zwischen ihnen anbahnen, und einer von ihnen sich schließlich lebensbedrohlich verletzt, sodass man trotz ungünstiger Witterung zum Festland hinüberschippen muss. „La Chute de la Maison Usher“, „Mauprat“ oder „La Glace à trois faces” zum Trotz bleibt das für mich wohl Epsteins schönster Streifen.
Judex (Georges Franju, Frankreich 1963), 93’
Hach, wie witzig Franjus Verbeugung vor den Serials Feuillades im Grunde ist, hat sich mir nun auch erst bei meiner ersten Kino-Sichtung des Films erschlossen. So viel gelacht habe ich wohl schon lange nicht mehr bei einem Film – zumal Franju seine Vorbilder weder durch den Kakao zieht noch sie über Gebühr ernstnimmt, sondern in jeder Einstellung spüren lässt, wie sehr er diese haarsträubenden, turbulenten Geschichten von Superverbrechern, als Nonnen verkleideten Femme Fatales und rasanten Autoverfolgungen im Grunde liebt, ohne sie dabei jedoch fetischistisch verklären zu wollen. Die Maskenballszene mit Max-Ernst-Gedächtnis-Vogelköpfen ist ein Goldstück in Franjus Oeuvre!
Les Vampires, Episode 6: Les Yeux Qui Fascinent (Louis Feuillade, Frankreich 1915), 72’
Erneut eine ikonische, konfuse und sehr kurzweilige Vampir-Episode, in der Musidora mit ihrem Catsuit eine Art von lasziver Erotik versprüht, bei der ich verstehe, dass André Breton ihr seinerzeit euphorische Liebesbriefe schrieb, dass Aragon sie zur „zehnten Muse“ ausrief, und dass Pierre Louys gar plante, den eigenen Sohn von ihr sexuell initiieren zu lassen.
Apocalypse Now – Final Cut (Francis Ford Coppola, USA 1983), 183’
Nun endlich also die finale Schnittfassung von Coppolas Magnus Opus: Länger als die damalige Kinoversion, etwa zwanzig Minuten kürzer als die Redux-Variante. Ein dreistündiger Rausch, bei dem ich dann aber doch vorsichtig wäre, ihn als einen der besten Filme aller Zeiten zu bezeichnen. (Eigentlich hatte ich nämlich auch einen weiteren Chahine-Film sehen wollen, doch kurzfristig wurde vom Festival beschlossen, den in Coppolas Anwesenheit auf der Piazza Maggiore als Open-Air-Event aufgeführten Film einfach mal unisono in noch zwei anderen Kinos zu zeigen, da der Platz vor Besuchern scheinbar schon zu platzen drohte.)
Sabato 29 Giugno
The Wild Bunch (Sam Peckinpah, USA 1969), 145’
Klar, ich kapiere schon, auf was Peckinpah mit seinem Abgesang auf Western-Stereotype abzielt, großartig begeistern konnte mich seine stellenweise außerordentlich blutrünstige Genre-Dekonstruktion nicht wirklich: Zu brav folgt er dann doch den ausgetretenen Pfaden, zu konventionell ist der Film inszenatorisch ausgefallen, zu wenig gelang es mir, mich mit den Figuren zu identifizieren, mit denen ich durch die Bank weg nicht unbedingt eine Hacienda überfallen wollen würde.
Al Nasser Salah Al-Din (Youssef Chahine, Ägypten 1963), 186’
Was für ein Festivalabschluss: Drei-Stunden-Epos, das die Ereignisse des Dritten Kreuzzugs, sprich, die Konfrontation zwischen Saladin und Barbarossa, aus arabischer Sicht geschildert, dabei mit seinen knallbunten Pappkulissen aussieht wie ein Peplum, den langen Atem eines Hollywood-Monumentalstreifens besitzt, und ganz offen für Freundschaft zwischen Christentum und Islam wirbt, dass man meint, die Stimme von Lessings Nathan zu hören.