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Noidan kirot - Teuvo Puro (1927)

Verfasst: Fr 12. Jul 2019, 13:44
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Noidan kirot

Produktionsland: Finnland 1927

Regie: Teuvo Puro

Darsteller: Heidi Blåfield, Einar Rinne, Kaisa Leppänen, Yrjö Tuominen, Toivo Suonpää

Letztes Jahr hatte ich die Freude, zusammen mit einigen Kollegen aus der Redaktion des 35mm-Magazins den finnischen Schauerfilmklassiker VALKOINEUN PEURA aus dem Jahre 1952 im Rahmen des Braunschweiger Filmfestivals auf der großen Leinwand präsentieren zu dürfen. Der märchenhaft-folkloristische schneebedeckte Film erzählt von einer jungen Frau, die, nachdem die Hochzeit mit einem Hirten sie in die Einöde Lapplands geführt hat, alsbald, da ihr Gatte ständig außer Haus ist, von seuxellem Frust geplagt wird: Was also anderes tun, als sich auf Hexenzauber einzulassen, der jedoch derart schiefläuft, dass die Gute sich letztlich des Nachts in ein weißes Rentier verwandelt, um ihre unbefriedigte Lust an wehrlosen Mannsbildern auszuagieren…

Erstaunt hat es mich, der ich bis vor Kurzem dachte, Erik Blombergs Film sei zusammen mit dem im gleichen Jahr erschienenen, thematisch verwandten NOITA PALAA ELAMAAN der älteste finnische Ausflug in horrorähnliche Gefilde, dass der nordeuropäische Staat mit NOIDAN KIROT bereits 1927 eine Produktion vorgelegt hat, die überraschende Kongruenzen gerade zu VALKOINEUN PEURA aufweist: Auch der von einem gewissen Teuvo Puro inszenierte Film handelt von einer frischgebackenen Ehefrau, Selma, die es mit ihrem Liebsten Simo in die lappländische Eiswüste verschlägt, wo dieser gemeinsam mit seiner blinden Schwester Elsa in autarker Abgeschiedenheit lebt. Da die Mitgift von Selmas Familie indes in einer lebendigen Kuh besteht, die mit einigen Anstrengungen einen Fluss hinauf bis zu Simos Grund und Boden geschafft werden muss, verlässt dieser unsere Heldin alsbald wieder, um besagtes Rindvieh abzuholen. Allein mit Selma entpuppt sich Elsa nicht nur als körperlich äußerst angeschlagene junge Frau – tagelang liegt sie kränkelnd, teilweise halluzinierend im Bett –, sondern auch als jemand, der es versteht, seine Mitmenschen mit Schauermärchen in Angst und Schrecken zu versetzen: So führt sie Selma zu einem merkwürdigen Steinhaufen, von dem sie zu berichten weiß, dass dort vor Jahrhunderten ein bitterböser Schamane von den aufgebrachten Finnen zu Tode gebracht worden sei – eine Legende, die uns NOIDAN KIROT dankenswerterweise in einer schönen Rückblende zeigt: Da überfallen die Finnen den bärtigen, bärigen Hexer in seiner Hütte und führen ihm, nachdem er einen von ihnen per Pfeilschuss erledigt hat, dem verdienten blutigen Ende zu – jedoch nicht, ohne dass der Zauberer noch die Möglichkeit hat, den gesamten Landstrich zu verfluchen, und jedem Finnen, der dort jemals Wurzeln schlagen wird, ein düsteres Schicksal zu versprechen. "Alle eure Nachkommen sollen... usw." Ihr kennt das.

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Die grenzenlose Einsamkeit der Landschaft, die sich beinahe bedrohlich um das zerbrechliche Gehöft herum aufbauscht, sowie die Tatsache, dass ihr einziger Kontakt zu einer psychisch wie physisch reichlich zerrütteten Dame besteht, sind erfolgreich darin, dass Selma sich das Ammenmärchen vom Schamanenspuk mehr zu Herzen nimmt als es ihr guttut: Schlimme Träume suchen sie heim, in denen per Überblendung der hysterisch gackernde Zauberer durch Wälder und Zimmer wütet, und kaum traut sie sich noch, ihrer täglichen Aufgabe, der Kontrolle der im Flusslauf ausgespannten Fischernetze, nachzugehen. Bei einem dieser Kontrollgänge indes stößt sie auf drei Holzfäller unter der Führung eines Rüpels namens Paku-Sakari, die wir vorher schon kennengelernt haben, als sie Simo bei seiner Abreise proletenhaft gegenübergetreten sind. Kaum haben die wilden Burschen das Mädchen in seinem Floss entdeckt, zeichnen sich auf ihren Gesichtern schon die widerlichsten Gedanken ab. Was genau die Bande mit Selma anstellt, das spart der Film zwar aus, zeigt uns aber als Substitut für die Vergewaltigung stattdessen Simo bei seinen Schwiegereltern unruhig sich im Bett herumwerfend, während neben ihm auf der Matratze ein waschechter Nachtmahr sitzt: Ein äffchenhafter Dämon – (offenbar ein kleines Kind im Ewok-Kostüm!) –, das aufgeregt umherzappelt, putzig und verstörend zugleich.

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Zurückgekehrt zu Selma findet Simo diese auf einmal wortkarg, verschlossen, melancholisch vor. Dass ihr die verrückte Schwester die Räuberpistolen vom umgehenden Schamanen eingetrichtert habe, liegt für ihn auf der Hand, weswegen er das steinerne Monument, das den Hinrichtungstod des Unholds anzeigt, Stück für Stück abträgt, und in den Fluss schmeißt. Der Tod Elsas besiegelt für ihn außerdem die Phase von Selmas Grabesstimmung – zumal das junge Paar feststellt, dass sie ein Kind erwarten. Die Jahre ziehen dahin, der Frühling kommt, Simo bekommt den erhofften Sohnemann – doch erweist sich der als ein sehr unbändiger Junge, der am liebsten die Hofhühner zu Tode erschreckt, die Abendsuppe grundlos ins Kaminfeuer kippt, und nicht mal davor zurückschreckt, den eigenen Vater mit Schlägen zu traktieren. An Selmas weichherzigen Erziehungsmethoden kann das allein nicht liegen, denkt Simo sich, dem immer mehr auffällt, wie sehr der Satansbraten in seinem Aussehen und seinem ganzen Verhalten dem angeblich vor Jahren bei einer Wirtshausschlägerei verstorbenen Paku-Sakari ähnelt. Sollte Selma ihm etwa ein Kuckuckskind untergeschoben haben…?

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Dass die Stummfilme von Staaten wie Norwegen, Dänemark und vor allem Schweden es verstehen, die Schicksale ihrer Protagonisten sich in atemberaubenden Natur- und Landschaftsaufnahmen spiegeln zu lassen, das ist ein Allgemeinplatz – und wundert schon allein deshalb nicht, wenn man bedenkt, was für Panoramen Regisseure wie Carl Theodor Dreyer (GLOMDALSBRUDEN) oder Mauritz Stiller (HERR ARNES PENGAR) quasi vor der eigenen Haustür hatten. Auch NOIDAN KIROT wurde offenbar fernab steriler Studiokulissen an Originalschauplätzen in Lappland gedreht, und vernetzt die Landschaften eng mit dem Innenleben seiner Figuren: Signalisiert werden deren emotionale Kapriolen andauernd durch Veränderungen in der Natur, sprich, wenn es taut, dann erwachen unsere Helden aus schlimmen Lebensphasen, und wenn ein Schneesturm tobt, können wir sicher sein, dass auch in ihren Herzen gerade Chaos herrscht. Darüber hinaus nutzt Tevuo Puro die Analogieschlüsse zwischen innerer und äußerer Natur aber nicht nur zu psychologischen und melodramatischen Effekten. Gerade in der ersten Hälfte, wenn Selma von der Tristesse ihrer neuen Heimat regelrecht übermannt wird, evoziert NOIDAN KIROT eine regelrecht gotische Schauerstimmung. Man meint den einsam pfeifenden Wind in den Dachbalken zu hören; das Knirschen der Dielen in dem einzig von Elsas Röcheln belebtem Holzhaus; das Rascheln der Schatten, die die verloren brennenden Kerzen an die Wände werfen. Das ist zu keinem Zeitpunkt grell-expressionistisch, sondern zutiefst naturalistisch. NOSFERATU wäre da eine Referenz, gerade weil Murnau sich dort ja auch mit vollen Händen bei der Vorliebe von Freilichtkulissen der Schweden bedient.

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NOIDAN KIROTs Horror-Appeal endet aber noch nicht bei ein bisschen gänsehäutiger Lagerfeuerstimmung. Die optischen Effekte, mit denen Selmas überreizte Phantasie den bärenhaften Schamanen überallhin projiziert, habe ich schon erwähnt, und ebenfalls die Rückblende, die prototypisch die Prologsequenz etlicher Gothic-Horrorfilme der 60er wie Bavas LA MASCHERA DEL DEMONIO antizipiert. Herzstück des Films – (für mich zumindest) – bildet jedoch das Auftauchen des Äffchen-Sukkubus an Simos Schlafstatt. Da zitiert der Film nicht nur offensichtlich Füsslis berühmten „Nachtmahr“ und das Kostüm des (Kinder-)Darstellers ist einfach nur zum Verlieben. Gerade durch ihre Kürze verblüfft die Szene: Kaum hat man kapiert, was man da sieht, ist sie auch schon wieder vorbei. (Ich habe nachgemessen: In meiner Fassung ist das Äffchen keine fünf Sekunden zu sehen.) Hinzukommt, dass der Film diese Erscheinung zu keinem Zeitpunkt erklärt. Wahrscheinlich ist das haarige Kerlchen ein integraler Bestandteil des lokalen Mythenschatzes und jeder Finne, der den Film sieht, weiß schon, was damit gemeint sein soll – mich hat die flüchtige, von der Handlung nur halbseiden motivierte Erscheinung dieses Wesen fast so sehr irritiert wie die wahnwitzige Wendung, die die Story nach seiner gotischen ersten Hälfte unerwarteterweise nimmt, denn plötzlich sind wir nicht mehr bei einer Nordland-Effi-Briest, sondern erst mitten in einem aufwühlenden Ehedrama und zu guter Letzt in einem reinrassigen Rape-&-Revenge-Thriller, wenn Simo beschließt, den, wie sich herausstellt, doch noch am Leben befindlichen Paku-Sakari zu jagen, und Rache an ihm für die Vergewaltigung Selmas zu nehmen. Selbst das zuckerkitschige Happy End hilft nur halbherzig dabei, darüber hinwegzutäuschen, wie sehr die vorherigen siebzig Minuten über die Stränge geschlagen sind. Sicher, das ist nun kein HÄXAN, aber im Vergleich zu den Horrorfilmen der Universal Studios wenige Jahre später wirkt dieses Konglomerat aus Backwood-Vergewaltigungen, Teufeln in Kindergestalt, die ihre eigenen Väter attackieren, Schamanenspuk und – ich kann gar nicht oft genug erwähnen, wie sehr ich diese Szene feiere! – Nachtmahren im Affenpelz, als ob sich Kernelemente eines 70er-Jahre-Exploitation-Streifens per Zeitmaschine in ein naturalistisches Stummfilmmelodram der 20er gebeamt hätten.

Begeistert bin ich!