Originaltitel: Als wir die Zukunft waren - Sieben Geschichten aus einem verschwundenen Land
Herstellungsland: Deutschland / 2016
Regie/Mitwirkende: Peter Kahane, Thomas Knauf, Andreas Voigt, Hannes Schönemann, Gabriele Denecke, Ralf Marschalleck, Lars Barthel
Einst glaubten sie an eine Zukunft, an ein großes besseres Deutschland, an eine deutsche demokratische Republik, die dem schurkischen kapitalistischen Westen das Wasser reichen konnte. Die Kinder der 1950er und 1960er, die in der einstigen DDR aufwuchsen, glaubten tatsächlich, dass sie die Zukunft des Landes waren. In sieben Geschichten werden reale Erinnerungen dieser Generation erzählt, die im sozialistischen Osten versuchten zu leben und auch dem Regime zu entkommen...
Re: Als wir die Zukunft waren - diverse (2016) [Doku]
Verfasst: Di 3. Sep 2019, 15:48
von buxtebrawler
Welche Erinnerungen bleiben an ein Land, das irgendwann zu existieren aufhörte? Welche persönlichen Gedanken dominieren beim Rückblick auf die eigene Jugend und bestimmten die subjektive, die emotionale Seite der Erinnerung? Für diesen 2016 veröffentlichten Film setzten sich sechs in der DDR sozialisierte, mittlerweile über 60-jährige Regisseure und eine ebensolche Regisseurin mit diesen Fragen auseinander und gewähren in sieben Episoden individuelle, intime Einblicke, die auf unterschiedliche Weise ihr ambivalentes Verhältnis zum untergegangenen autoritär-sozialistischen Staat skizzieren.
Alle sieben haben sich in einem Landhaus in der Uckermark zusammengefunden, was den Eindruck erweckt, sie würden ihre Erinnerungen untereinander austauschen. Den Anfang macht der 1949 geborene Peter Kahane („Stubbe – Von Fall zu Fall“). In seiner Episode erzählt er aus dem Off, bis ihn ein Kind als Sprecher ablöst: Nun berichtet sozusagen der junge Peter, und zwar aus dem Leben als Sohn jüdischer Eltern im geteilten Nachkriegsberlin, genauer: in Pankow. Seinen Beitrag illustriert Kahane mit animierten Zeichnungen, alten Familienfotos und historischen Bewegtbildern, teilweise nachgespielten Szenen und Ausschnitten aus „Reiterfilmen“.
Drehbuchautor und Dokumentarfilmer Thomas Knauf („Shalom Israel“) erzählt von 1968 und seinen damaligen Erfahrungen in Warschau. Dort verbrachte er eine Nacht im Gefängnis, weil er sich mit den Opfern der Niederschlagung des Prager Frühlings solidarisch gezeigt hatte.
Andreas Voigt („Invisible - Illegal in Europa”) ist 1953 als Sohn von Buchhändlern in Eisleben geboren und später nach Dessau gezogen. Er erinnert sich an Besuche des FKK-Elbstrands, ans Westfernsehen-Gucken mit der Familie und wie er Geld für Kuba sammelte, an seine Schul- und Pionierzeit, an West- und Ostpakete. Das Porträt einer ganz normalen DDR-Kindheit, möchte man meinen.
Nach einem Intermezzo im Landhaus, das die Versammelten für Statements nutzen, zeigt Hannes Schönemann („LaBENDIG“) seinen Film: Zu Bildern der See und schneebedeckter Landschaften erzählt er von seinem in den Westen abgehauenen Vater und wie seine Mutter ins Krankenhaus und die Kinder ins Heim kamen. Er berichtet von Erfahrungen im Kinderheim, dass er im Kirchenchor sang und sich der Kirche schließlich anschloss. Nachdem seine Mutter im Krankenhaus gestorben war, schmiedete er naive Fluchtpläne, die er jedoch immer wieder verschob, weil er sich verknallt hatte. Das war kurz vorm Mauerbau…
Gabriele Denecke („Schlaflose Tage“) wuchs zunächst als kleines Kind in Beiersdorf nahe der polnischen Grenze auf. Ihr Vater sollte die dortigen Bauern zum Sozialismus bekehren, was jedoch nicht gelang. 1956 ging es zurück nach Ost-Berlin, wo sie in eine erste Klasse eingeschult wurde, die aufgrund der Abwanderungen in den Westen der Stadt immer leerer wurde. Kindlich naive Erfahrungen im noch offenen Berlin (ihr Vater half später beim Mauerbau mit) finden sich bei ihr ebenso wie eine sehr witzige Anekdote eines Treffens mit der Westverwandtschaft.
Eine weitere Unterbrechung wird für aktuelle Statements genutzt, bevor Ralf Marschalleck das letzte Drittel einleitet: Der 1953 in Weimar geborene Regisseur, der ausgerechnet 1990 mit dem abendfüllenden Dokumentarfilm „Streng vertraulich oder Die innere Verfassung“ nach einem Kurzfilm und diversen Drehbüchern debütierte, besucht sein altes Wohnhaus und berichtet von seiner Familie. Sein Vater war ein SED-Kader, jedenfalls so lange, bis sich die Chance ergab, mit seiner Geliebten in den Westen abzuhauen und seine Familie im Stich zu lassen. Ralfs Mutter ging daraufhin keine neue Beziehung zu einem etwaigen Stiefvater ein, sodass Ralf schon früh der Mann im Haus wurde – und ein eigensinniger Rabauke, aber eben auch Filmemacher in der DDR. Den Westen hasste er bis zum Schluss.
Zu guter Letzt ist es Lars Barthel („Letztes Jahr in Deutschland“) aus Erfurt, der noch einmal von Westpaketen erzählt, seine Familie vorstellt und erst mit Schmalspurfilm-Ausschnitten, die sein Großvater gedreht hatte, und anschließend damit überrascht, die DDR schließlich Richtung Indien verlassen zu haben.
Mit seinen sich inhaltlich und stilistisch stark voneinander unterscheidenden Episoden tritt dieser Film einem gesamtdeutschen Publikum gegenüber den Beweis individueller Biographien innerhalb einer angeblich so gleichgeschalteten Gesellschaft an. Daraus resultiert zudem ein Beispiel für sorgsame, unaufgeregte Erinnerungskultur, die nur wenig mit lediglich als biographisch getarnten, in erster Linie die Delegitimierung des Sozialismus zum Ziel habenden Filmen und ihrem verurteilenden Duktus gemein haben. Anhand der Publikumsreaktionen lässt sich erahnen, wer ein ehrliches Interesse an persönlichen, anekdotischen, mal lustigen, öfter traurigen, mal kuriosen, mal erschütternden authentischen Geschichten hat und wer stattdessen eine vorgefestigte Meinung aus ideologischer Perspektive bestätigt sehen möchte. Zugebenen: Und natürlich, wen all das kalt lässt, weil er oder sie keinen oder kaum Bezug zum übergeordneten Thema hat – weil der Staat nun einmal längst verschwunden ist und es Zeitzeugenfilme wie dieser sind, die bleiben.
Re: Als wir die Zukunft waren - diverse (2016) [Doku]
Verfasst: Di 3. Sep 2019, 20:07
von FarfallaInsanguinata
Das klingt interessant.
Ich muss zugeben, dass ich es erst nach der Grenzöffnung und Anfang der 90er in die ehemalige DDR schaffte. Immerhin habe ich aber meine persönlichen Eindrücke von Besuchen in Prag (1982), Budapest (1983) und Moskau (1985), was irgendwie auch ganz spannend war, vor allem unterm dem Gesichtspunkt, damals etwas erlebt zu haben, was es so heute nicht mehr gibt.
Re: Als wir die Zukunft waren - diverse (2016) [Doku]
Verfasst: Mi 4. Sep 2019, 08:29
von buxtebrawler
FarfallaInsanguinata hat geschrieben:Das klingt interessant.
Ich muss zugeben, dass ich es erst nach der Grenzöffnung und Anfang der 90er in die ehemalige DDR schaffte. Immerhin habe ich aber meine persönlichen Eindrücke von Besuchen in Prag (1982), Budapest (1983) und Moskau (1985), was irgendwie auch ganz spannend war, vor allem unterm dem Gesichtspunkt, damals etwas erlebt zu haben, was es so heute nicht mehr gibt.
Ich habe die ersten sechs Jahre meines Lebens in der DDR verbracht, wurde dann aber im Westen sozialisiert. Vom Ostblock habe ich zu Zeiten des Kalten Kriegs kaum etwas gesehen. Aber kurz nach dessen Zusammenbruch war ich in Prag, was ich auch als ziemlich spannend in Erinnerung habe.