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Ästhetik des Drastischen - Benjamin Moldenhauer
Verfasst: Mi 29. Apr 2020, 00:26
von sid.vicious
Wer sich irgendwann mit jungen Jahren für das Kino begeistert hat oder wer als Vater Kinder zu erziehen hat, der ist dem Phänomen wahrscheinlich schon einmal begegnet: der Lust, sich dem Grauen des Horrorfilms auszusetzen. Mag sein, dass das vor allem das männliche Geschlecht betrifft, doch das Phänomen ist weit verbreitet. Und so ist Benjamin Moldenhauers Studie "Ästhetik des Drastischen - Welterfahrung und Gewalt im Horrorfilm" auch nicht die erste Untersuchung dieses filmischen Genres. Doch sie ist auf dem neuesten Stand. Und zudem tiefschürfend und faktengesättigt. Wer also schon immer mal wissen wollte, was die Höhlenbilder von Lascaux, frühe Kreuzigungsdarstellungen oder die Gemälde eines Francis Bacon mit Filmen wie "Blutgericht in Texas" oder "Das letzte Haus links" zu tun haben, der bekommt in dem nun vorliegenden Band erschöpfende Antworten. (Klappentext)
Ich habe, nachdem meine Stammbuchhandlung in der letzten Woche wieder öffnete, das bestellte Buch endlich abholen können. Die ersten 100 Seiten haben einen überaus guten Eindruck auf mich gemacht. Der Schreibstil ist sehr angenehm und transportiert viele interessante Betrachtungen. Fesselnd und definitiv bereichernd.
Re: Ästhetik des Drastischen - Benjamin Moldenhauer
Verfasst: Mo 18. Mai 2020, 18:51
von sid.vicious
Ich habe das Buch mittlerweile ausgelesen, habe viel dazugelernt und bin in der Lage, Horrorfilme mit einem schärferen Auge zu betrachten und die (auch genreüberfgreifende) visualisierte Gewalt besser zu erfassen. Sehr angenehm!
Re: Ästhetik des Drastischen - Benjamin Moldenhauer
Verfasst: Mo 18. Mai 2020, 21:16
von Arkadin
Meine Review von vor drei Jahren:
„Ästhetik des Drastischen – Welterfahrung und Gewalt im Horrorfilm“ ist der etwas sperrige Titel eines der interessantesten Filmbücher, die mir in den letzten Jahren untergekommen sind. Die erweiterte Fassung der Dissertation des Bremer Kulturwissenschaftlers Benjamin Moldenhauer ist ein echter Brocken, der aber gar nicht schwer im Magen liegt, sondern dem Kopf ordentlich Futter bietet, um möglicherweise bereits verkrustete Denkschemata zum Thema Horror und Gewalt aufzubrechen, an die frische Luft zu holen und ordentlich durchzulüften. Dabei wird nicht Altbekanntes wiedergekäut, sondern eine sehr nachvollziehbaren filmästhetische Theorie des Horrorfilms zur Gewalt der Bilder hergeleitet. Dabei gelingt Benjamin Moldenhauer das Kunststück, seinen wissenschaftlichen Text so zu formulieren, dass man als Laie, der nicht im Bereich Kulturwissenschaften oder Psychologie promoviert hat, trotz der vielen Fachbegriffe kein Problem hat, den Kernaussagen zu folgen.
Man muss allerdings auch die Bereitschaft aufbringen, sich von Moldenhauer durch die vielzähligen theoretischen Ansätze, seine Interpretationen und die sich daraus ergebenden neuen Denkansätze führen zu lassen. Das soll heißen: „Ästhetik des Drastischen“ ist keine Strandlektüre und erfordert vom Lesen schon ein gehobenes Maß an Konzentration und geistiger Regheit.
Für mich sehr aufschlussreich und gewinnbringend war vor allem der erste Teil des Buches, welcher sich primär mit der Geschichte des Horrorfilms und seiner Rezeption beim Publikum und in der Theorie auseinandersetzt. Das ist hervorragend formuliert und hergeleitet. Demnach war der Horrorfilm bis 1960 vor allem von dem Verdrängten der Seele, dem freudschen Kampf von Über-Ich, ich und Es geprägt. Eine Deutung, die sich bis heute gehalten hat. Für Moldenhauer stellt aber die Premiere von „Psycho“ im Jahre 1960 eine Zäsur da, da hier ein neues Element dazu kam und dem freudschen Prinzip des „Heimlichen“ und „Unheimlichen“ eine ganz konkrete Angst entgegen gesetzt wurde. Horror heißt hier dann wirklich Schrecken und Angst. Die Filme zielten auf die Erfahrung des Publikums und wollte einen körperliche Reaktion hervorrufen. Primär ging es um die Furcht um die eigene körperliche Unversehrtheit, der Furcht, dass einem selber etwas schlimmes, schmerzhaftes zustoßen könne. Was dies sein könnte, wurde nun „drastisch“ auf der Leinwand gezeigt. Das „Monster“ lebt also nicht mehr in der eigenen Seele, sondern ist Bedrohung von außen, die darauf aus ist uns grausame Schmerzen zuzufügen. Und diese Bedrohung muss nicht zwangsläufig übernatürlicher Herkunft sein, sondern kann ihre Wurzeln auch in dem Grausamen haben zu dem Menschen fähig sind.
Der anschließende Teil, der sich vor allem eine weitergehende Erklärung psychologischer Theorien und die Abrechnung damit ist, wäre meines Dafürhaltens nicht zwangsläufig nötig, um Moldenhauers Theorie des Drastischen nachzuvollziehen, ist für an psychologischer Theorie Interessierte aber ein zusätzliches Bonbon.
In der zweiten Hälfte des Buches wird die Theorie des Drastischen an vier konkreten Beispielen detailliert erläutert. Diese sind Tobe Hoopers „Texas Chain Saw Massacre„, Wes Cravens „Last House on the Left„, Alexandre Ajas „The Hills Have Eyes„-Remake und Rob Zombies „The Devil’s Rejects„. Einerseits erläutert Moldenhauer hier, was diese vier Filme in dem Zuschauer auslösen, andererseits nimmt er den Leser auch gleich mit auf eine Reise durch das Backwoods-Genre, dem Rape’n‘-Revenge-Film, den sogenannten „Torture Porn“, stellt Originale und Remakes gegeneinander und arbeitet die unterschiedlichen Wirkungen der Filme auf den Zuschauer heraus. Besonders interessant sind dabei seine Beobachtungen zu „The Devil’s Rejects“, dem er merklich zwiegespalten gegenübersteht.
Zusammengefasst, eines der spannendsten und geistreichsten Bücher über den oftmals verfemten, häufig einseitig betrachteten oder überpsychologisieren Horrorfilm, das frische und jederzeit gut nachvollziehbare Argumente für eine neue Herangehensweise an die theoretischen Grundlagen dieses Genres liefert. Klare Empfehlung.
Re: Ästhetik des Drastischen - Benjamin Moldenhauer
Verfasst: Mi 20. Mai 2020, 11:30
von sid.vicious
Ich kann mich deinen Worten nur anschließen.
Re: Ästhetik des Drastischen - Benjamin Moldenhauer
Verfasst: Mi 20. Mai 2020, 17:12
von karlAbundzu
Ich war ja auch begeistert, obwohl oder gerade weil ich bei seinem anfänglichen Ansatz noch Zweifel hegt, ob das geht. Wenn ich es recht in Erinnerung habe, sozusagen die individuelle Erfahrung als Ausgangspunkt der Einordnung zu setzen.
Ich habe viel dabei nachgedacht, und das Buch brachte mich dazu, meine eigenen Überlegungen zu überdenken und genauer für mich zu formulieren.
Sowas hätte ich vor 20 Jahren, zum Ende meines Studiums gebraucht.