Profondo Giallo - Romain Lehnhoff (2016)

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Salvatore Baccaro
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Profondo Giallo - Romain Lehnhoff (2016)

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Originaltitel: Profondo Giallo

Produktionsland: Frankreich 2016

Regie: Romain Lehnhoff

Darsteller: Chafik Benlebna, Imen Bahia Chelli, Chrystelle Gagey, Fanny Piot, Marine Renoir, Manya
Ich muss zugeben: Meine Erwartungshaltung hätte geringer kaum sein können. PROFONDO GIALLO. Meine Güte, was für ein einfallsloser Titel! Und dann scheint es sich bei dem dreißigminütigen Kurzfilm des Nachwuchsregisseurs Romain Lehnhoff auch noch um ein von und mit Laien realisiertes Filmhochschul-Projekt zu handeln, dessen auf der IMDB veranschlagte eintausend Euro doch bestimmt größtenteils in Farbfilter geflossen sein dürften, die das Werk auf Analog-Kino trimmen sollen. Muss ich mir das wirklich antun, wo ich mich noch immer nicht wirklich von dem Schock erholt haben, den mir letztes Jahr der bislang miserabelste von mir gesichtete Neo-Giallo, namentlich: ABRAKADABRA der argentinischen Onetti-Brüder, versetzt hat? Allerdings kann ich, entgegen aller Vorurteile, zur Entwarnung blasen: Denn PROFONDO GIALLO bringt es tatsächlich fertig, zwar die üblichen Genre-Ingredienzien nahezu unbefleckt beizubehalten – Morde, begangen in Duschen mit schwarzen Handschuhen; Wohnungswände voller selbstreferentieller Filmposter beispielweise von Brian de Palmas BODY DOUBLE; ein Subtext, der pausenlos von Blicken bzw. Blicktabus handelt, sprich: davon, was man sieht, wie man es sieht, und ob man es überhaupt sehen sollte –, diese aber wirklich originell zu variieren versteht.

Im Zentrum der Handlung steht eine namenlose junge Frau, deren soziale Isolation zum Himmel schreit. Wenn sie die ununterscheidbar ineinanderfließenden Tage in ihrem Pariser Appartement nicht damit fristet, dass sie sich auf einer Streaming-Seite namens „Le Blog de Tom Peeping“, (Untertitel: „Centralisation de films d’horreur et fantastiques“), herumtreibt, die unter anderem solche Klassiker wie Lucio Fulcis L’ALDILÀ im Sortiment hat, entwickelt sie eine wahre Obsession für die Wohnung im Nachbarhaus, die ihrer eigenen direkt gegenüberliegt. Natürlich ahnt deren Bewohner, ein gutaussehender junger Mann Marke Unterwäschemodel, nichts davon, dass sein Alltag mehr und mehr zum Studienobjekt, Unterhaltungsmedium, Sehnsuchtskatalysator der vereinsamten Frau wird, die alsbald ihr gesamtes eintöniges Leben um die Einblicke in ein fremdes, und so viel aufregenderes Leben nur einen Steinwurf entfernt zentriert. Gerne hätte unsere Heldin solch einen Mann an ihrer Seite, nur leider steht ihr nicht nur die eigene Schüchternheit dabei im Wege, die sie sich niemals würde trauen lassen, den Angebeteten einfach auf offener Straße anzusprechen, sondern vor allem auch die Tatsache, dass ihr Verehrter derzeit eine bildhübsche Freundin an seiner Seite hat. Alsbald schafft es unsere Heldin aber, über soziale Medien den Namen ihres Objekts der Begierde herauszufinden, kontaktiert ihn kurzerhand mit einem Fake-Account voller Bilder eines Models, die sie wahllos aus dem Netz gefischt hat, und bringt ihn gar dazu, dass er sich heimlich hinter dem Rücken seiner Liebsten mit ihr an irgendeiner Metro-Station zu treffen bereit ist. Kaum jedoch hat sie den Gigolo aus seiner Wohnung gelockt, streift sie sich die berühmten Lederhandschuhe über, - denn für die allein zurückgebliebene Freundin ihres Traumprinzen hat unsere Heldin eine besondere Überraschung parat…

Puh, was hat Romain Lehnhoff mit PROFONDO GIALLO nicht alles richtig gemacht! Beleuchtung, Kameraführung, Schnitt – hätten die bereits erwähnten (und gescholtenen) Onettis sich nur ein kleines bisschen etwas von der Professionalität abgeguckt, mit der hier offenkundige Amateure agieren, wäre ihr ABRAKADABRA möglicherweise sogar beinahe ansehnlich geworden. Hochanzurechnen ist Lehnhoff vor allen Dingen, dass er sich nicht zu einer Farbrauschorgie hinreißen lässt, wie sie Neo-Giallos in ihrem unbedingten Willen, noch die buntesten Bilderreigen eines Argentos oder Bavas überrumpfen zu wollen, so gerne praktizieren. Ja, es kommen Farbfilter zum Einsatz, und ja, das Chiaroscuro ist jederzeit kunstvoll, und ja, die Buntscheinwerfer bleiben ebenfalls nicht ausgeknipst, doch übertreibt es Lehnhoff zu keinem Zeitpunkt mit seiner Heldenverehrung, belässt es vielmehr bei vertrauten Tupfern, ohne diese bis zum faden Exzess zu steigern. Selbst aus seinen Defiziten macht der Film noch eine Tugend: Falls Kostengründe dafür gesorgt haben sollten, dass währen der ganzen Zeit keine Originaltöne, nicht mal gesprochene Dialoge erklingen, hat Lehnhoff dieses vermeintliche Manko in eine der Stärken seines Films verwandelt, indem er ihn streckenweise gar wie eine Studie über den Zusammenhang zwischen (unfreiwilligem) Eremitendasein in der Großstadt und massiver Realitätsflucht ins World Wide Web wirken lässt. Unsere namenlose Heldin scheint nicht nur den Großteil ihrer Tage vor ihrem Laptop zuzubringen, um billige Giallo- und Slasher-Filme zu konsumieren, sondern nutzt auch äußerst aktiv die Möglichkeit Sozialer Medien à la Facebook, sich eine fremde Identität zusammenzuzimmern, in der sie sich genau so darstellen kann, wie sie selber gerne sein würde. Nicht zuletzt spielt PROFONDO GIALLO gar virtuos mit dem Topos, dass die Sichtung allzu vieler gewaltaffiner Streifen zur Gewalt im realen Leben führen könne, wenn unsere Heldin von ihrem speziellen Filmgeschmack geradezu dazu inspiriert wird, den Frauenverschleiß ihres Traumprinzen auf der andern Straßenseite, sagen wir, gewaltsam „einzudämmen“. Obwohl wir allerdings der übrigens formidabel ein zugleich zerbrechliches wie zerstörerisches Wesen verkörpernde Chrystelle Gagey über weite Strecke der Handlung dabei zusehen, wie sie vor ihrem Laptop in Chat-Fenster tippt oder aber vor ihrem Fenster steht, und, James Stewart Konkurrenz machend, das Privatleben ihres erträumten Geliebten observiert, verfällt PROFONDO GIALLO niemals in einen inhaltlichen wie ästhetischen Leerlauf, wie er ebenfalls symptomatisch für so viele Neo-Gialli ist. Die Inszenierung bleibt stets dynamisch, wechselt nahezu tänzerisch zwischen Welt außerhalb und innerhalb der Chats, klebt aber vor allem ganz dicht an der armen, kranken Seele unserer Hauptfigur, deren Abdriften in die eher derangierten Gefilde menschliche Psyche wir wie in einem Sog folgen, dass wir es auf rein psychologischer Ebene dann doch eher mit einem direkten Nachfahren von Polanskis REPULSION zu tun haben als mit einem verquasten Murder Mystery. Nicht zuletzt hat sich Lehnhoff beim Soundtrack die mittlerweile abgeschmackten Goblin-Pastichen gespart, und stattdessen ausnahmslos auf Kompositionen von Vivaldi zurückgegriffen, was in Verbindung mit dem Retro-Look und der düsteren Grundstimmung einen wirklich großartigen Kontrast abgibt, der dem Film dann noch den allerletzten Feinschliff verpasst.

Ihr seht, ich bin ziemlich angetan von dieser kleinen, feinen Hommage an eins meiner liebsten Genres, und wundere mich sehr darüber, dass PROFONDO GIALLO zumindest auf der IMDB den Abschluss der Filmographie dieses vielversprechenden jungen Talents bildet: Sollte Lehnhoff danach tatsächlich bereits den Regiestuhl an den Nagel gehängt haben!?
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