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Gefahren der Großstadt-Straße - Toni Attenberger (1924)

Verfasst: Di 2. Jun 2020, 13:30
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Gefahren der Großstadt-Straße

Produktionsland: Deutschland 1924

Regie: Toni Attenberger

Darsteller: Autos, Straßenbahnen, Fahrräder, Laiendarsteller, Polizisten, Polizeispürhunde, allesamt aus München
Was für eine unterhaltsame Mischung aus Loblied auf die Münchner Verkehrspolizei, Knigge für Fußgänger, Straßenbahnfahrer, Autofahrer, ("Wie steige ich korrekt in eine Straßenbahn ein?", "Wie überquere ich eine stark befahrene Straße ohne unter die Räder zu kommen?", „Wie vermeide ich es beim Biegen um eine Ecke mit anderen Passanten zu kollidieren?“), und Warnschrei vor Bettel, Taschendiebstahl, Zuhälterei und was die Großstadt noch an, wie es in den Zwischentiteln heißt, „lichtlosem Gesindel“ bereithält!

Unterteilt ist der 1924 von Toni Attenberger inszenierte Dokumentarstreifen, der dem München-Freund als Zusatzschmankerls zahllose hübsche Aufnahmen der bayrischen Hauptstadt vor den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs bietet, in fünf Kapitel: In „Strasse und Verkehr“ mokiert sich der etwa einstündige Film unter anderem über das „verkehrsstörende Verhalten der Fußgänger“: Wieso müssen diese auch andauernd den eigentlichen Herrschern über die Großstadtstraßen, den Automobilen, in die Quere geraten? Um den Fußgängern, wenn man sie schon nicht völlig aus dem urbanen Raum verbannen kann, wenigstens einige Handreichungen dafür zu geben, doch immerhin so wenig störend aufzufallen wie möglich, erklärt uns der Film in einer Reihe von Vignetten, wie man schadlos durch die Turbulenzen der Metropole gelangt. Zuweilen wirkt es, als würde man eins dieser didaktischen Fahrschul-Videos im Vintage-Stil sehen, wenn beispielweise zunächst unter Beteiligung hemmungslos changierender Laiendarsteller veranschaulicht wird, wie man eine Verkehrskreuzung unter keinen Umständen betreten sollte, um diesem Fehlverhalten sodann sofort die richtige Herangehensweise gegenüberzustellen. In Segment Zwei, „Kinder auf der Straße“, wird einerseits um Verständnis für die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft geworben, denn, heißt es, in der Großstadt sei der einzige Spielplatz, den die kleinen Menschenwesen hätten, höchstens der Innenhof der Wohnhäuser, und ansonsten bliebe ihnen eben nichts anderes übrig, als sich draußen im Verkehrsgewühl zu tummeln. Andererseits gibt es aber auch eher bizarre Szenen, in denen sich die Großstadtkinder als wahre Monstren entpuppen, die es für einen angenehmen Zeitvertreib halten, sich selbst und ihre Mitmenschen in Lebensgefahr zu bringen, wenn sie beispielweise wie eine Herde Affen über die Fahrbahn springen, um die Autofahrer zu irritieren, oder gar regelrechte Jagden auf einzelne Automobile veranstalten. Dass dabei manchmal eins der Kinder leblos im Straßengraben liegenbleibt, ist nur die folgerichtige Konsequenz, die uns der Film mit erhobenem Zeigefinger aufzeigt. Anschließend wird noch vor den Gefahren gewarnt, die den Kindern im Großstadtleben von ihren Mitmenschen drohen, namentlich: Von sogenannten „Kinderfreunden“, die sich das Vertrauen der Jungen und Mädchen erschleichen, um sie in irgendeinen Hinterhalt zu locken, (eine Sequenz, die fast wirkt wie eine grobe Frühform von Fritz Langs M.) Mein liebster Kriminellentypus jedoch ist definitiv der „Zopfabschneider“:, ein Halunke, der – nein, ich denke mir das nicht aus! - seine perverse Befriedigung daraus schöpft, vor Schaufenstern stehenden Mädchen die Pferdeschwänze abzuschneiden, und mit der erbeuteten Haarpracht sodann stiften geht: Eine Szene, die durch die Ernsthaftigkeit, mit der sie vorgebracht hat, nur noch an Absurdität gewinnt.

„Strasse und Bettel“ nennt sich Kapitel Nummer Drei, bei dessen Inhalt es sich, wie die Zwischentitel explizit herausstellen, nicht um „Fantasiegebilde eines Filmschriftstellers“ handelt. In drei Kategorien – „Notbettel“, „Gewohnheitsbettel“ sowie „Betrügerischer Bettel“ – bekommen wir unterschiedliche Bettlertypen vorgeführt – vom kriegsversehrten Veteran über den Arbeitsfaulen bis hin zum Verbrecher, der seine lahmenden Beinen nur vortäuscht –, wobei der allgemeine Tenor jedes Mal ist: Gib keinem Straßenbettler auch nur einen Groschen, sondern lass die Zuwendungen lieber Wohltätigkeitsvereinen und Kirchen zukommen! Nützliche Tipps wie den, wie man eine Sperrkette an der Wohnungstür richtig anbringen soll, um zu verhindern, dass der im Treppenhaus lauernde Bettler sie mit einem Metallstäbchen einfach losmacht, während man im Nachbarzimmer das Geld holt, komplettieren das Segment genauso wie eine Parade an Bettlertypen, die unangenehme Erinnerungen an ähnliche Zusammenstellungen von Menschentypen beispielweise in Fritz Hipplers DER EWIGE JUDE wachruft: Die gleiche taxonomische Strenge; die gleiche Klassifizierungswut; die gleiche Reduzierung des Individuums auf seine Physiognomie, von der aus der gesamte Charakter abzuleiten sein soll. In „Strasse & Taschendiebe“ wiederum begegnen wir zunächst Robert Bressons PICKPOCKET in seiner noch ungeschlachten Form: Eine Diebesbande nutzt die Rennbahn, um den Wettenden auf höchst kreative Weise die Portemonnaies aus den Hosentaschen zu zaubern. Daneben gibt es aber auch noch den „galanten Dieb“, der alleinstehende, abenteuerlustige Damen, die nach Geld ausschauen, in Cafés aufreißt, sie beim anschließenden Parkspaziergang mit in Narkotika getränkten Tüchern schachmatt setzt, und sodann um ihren gesamten Schmuck erleichtert, sowie den Dieb, der sich mit einem falschen gebrochenen Arm neben Dich auf die Parkbank setzt, und mit seinem in den Manteltaschen versteckten gesunden Arm, während Du nichts Böses ahnst, nach Deinem Geldbeutel angelt.

Kapitel 5 ist „Strasse & Verbrechen“: Einmal mehr bekommt die Münchner Polizei eine ganze Honigwabe um den Mund geschmiert für ihren unermüdlichen Einsatz im Namen von Gesetz und Ordnung, - und selbst für den Polizeispürhund hat man hätschelnde Worte übrig. Abgekanzelt indes werden weitere verbrecherischen Methoden, die in der Großstadt, hat man inzwischen den Eindruck, an wirklich jeder Ecke lauern. Der „Fahrradmarder“ reißt sich herrenlose Drahtesel unter den Finger; der „Leichenfledder“ plündert arglose Passanten, die sich ein Nickerchen im Mittagssonnenschein auf der Parkbank gönnen; ein falscher Kofferträger nimmt das Gepäck von Reisenden, die gerade am Hauptbahnhof angekommen sind, und flüchtet damit in die nächstbeste Straßenbahn auf Nimmerwiedersehen. Im finalen Kapitel wird es dann „Nacht auf der Strasse“, und der Film endgültig zu einem spekulativen Kolportageroman, wenn die Polizei ein wahres Zuhältersyndikat aushebt, inklusive Verfolgungsjagden und Schusswechseln.

Ich wiederhole: Was für ein außerordentlich unterhaltsames Stück Film- und Zeitgeschichte!