100 Millionen Views - Itamar Rose (2019) [Doku]

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100 Millionen Views - Itamar Rose (2019) [Doku]

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Originaltitel: 100 Millionen Views

Herstellungsland: Israel / 2019

Regie: Itamar Rose
Auf der Suche nach dem Geheimnis der Viralität trifft der satirische Videokünstler Itamar Rose YouTube-Stars auf der ganzen Welt - und wirft einen kritischen Blick hinter die Kulissen der Internetplattform YouTube.
Quelle: www.ofdb.de

Trailer: :arrow:
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Re: 100 Millionen Views - Itamar Rose (2019) [Doku]

Beitrag von buxtebrawler »

„YouTube wurde zu einer Art Maschine, in der man einheitlich und relevant bleiben muss. Wir waren einmal ein zentraler Ort für all die seltsamen Kids, die einfach nur Trost suchten und in ihre Kunst eintauchen wollten, die da draußen niemand akzeptierte. Jetzt fühlt es sich so an, als macht es jede dritte Kid nur wegen des Geldes und wegen des Geschäfts.“

Der israelische Satiriker und Videokünstler Itamar Rose geht in seinem 2018 gedrehten und 2019 auf dem Münchener Dok.fest uraufgeführten, 53-minütigen Dokumentarfilm dem Phänomen YouTube auf den Grund: Wie funktioniert die 2005 gegründete und 2006 vom Google-Konzern übernommene Internet-Video-Plattform, wer sind die Menschen, die zu YouTube-Stars wurden, was ist das Geschäftsmodell – und: Wie landet man einen viralen Hit?

Um dies herauszufinden, schaut er sich das allererste YouTube-Video an, besucht YouTuber, deren Videos viral gingen, wie den „Yosemite Double Rainbow Guy“ Paul „Bear“ Vasquez, dreht mit dem Tierpräparator Chuck Testa und macht David DeVore, den nach einem Zahnarztbesuch von seinen Eltern gefilmten Jungen, und dessen Familie ausfindig. Auch US-Talkerin Ellen DeGeneres und andere Influencer(innen) und Multiplikator(inn)en wie dem lesbischen Sängerinnenpaar Bria & Chrissy stattet er einen Besuch ab.

„YouTube ist zum Big Brother geworden.“

Da Rose, der auch als Voice-over-Erzähler durch den Film führt, selbst einmal ein erfolgreiches Video auf YouTube platzieren will, versucht er, seine jeweils gewonnenen Erkenntnisse in die Videoproduktion einfließen zu lassen – jedoch zumeist mit mangelndem Erfolg. Eine Ausnahme stellt ein Video dar, das seine Frau mit einer Ziege zeigt und die Persiflage einen ähnlich fragwürdigen Tiervideos ist. Dass es mutmaßlich in erster Linie Perverse sind, die jenes zweideutig zu interpretierende Video „liken“, liegt auf der Hand. Schnell wird deutlich: Rose ist ein sehr schmerzbefreiter Satiriker, dem seine Frau offenbar in nichts nachsteht. Einleitend wurden bereits erschreckende und entlarvende Auszüge eines seiner Projekte gezeigt, die seine israelischen Landsleute dabei dokumentieren, wie sie ohne Weiteres auf Flüchtlinge schießen würden. Der YouTube-Dreh mit seinem Baby mündet in schwarzem Nazihumor, der gar nicht gut bei der YouTube-Gemeinschaft ankommt. Weitaus harmloser mutet da seine Vlogger-Persiflage an: Seine Alltags-Vlogs sind gezeichnet von Langweilig- und Belanglosigkeit.

„YouTube ist ein politischer Akteur mit eigenen Interessen und Werten, und Menschen, die auf diese Werte hinarbeiten.“

Satire, Persiflage und Humor sind jedoch lediglich ein Teilaspekt dieses Dokumentarfilms, der im weiteren Verlauf zunehmend in den Hintergrund gerät, wenn Rose sich den Schattenseiten des Phänomens widmet. Davids Familie profitiert monetär vom Ruhm, den das Video nach dem Zahnarzttermin ihr einbrachte. Sie trat damit jedoch eine Welle an Trittbrettfahrern los, wodurch es beunruhigende Ausmaße annahm, in welchen unschönen Privatsituationen Eltern ihre Kinder filmen und weltweit öffentlich ins Netz (bloß-)stellen. Dies bringt Rose dazu, sich den Algorithmus erklären zu lassen und das letztlich auf finanzkräftigen und damit einflussreichen Werbekundinnen und -kunden basierende YouTube-Geschäftsmodell zu skizzieren. Wie infolgedessen Menschen ihr Privatleben vor YouTube ausbereiten und schon Kinder um YouTube-Abonnent(inn)en betteln, ist mehr als nur bizarr.

So entpuppt sich dann auch das israelische „Social Media Festival“ PlayCon als eine Hölle voller gruseliger Selbstdarstellerinnen und -darsteller. Dort versucht Rose erfolglos, sich an den verbrecherischen Lebensmittelkonzern Nestlé zu verkaufen und wird wegen kritischer Fragen aus einer Konferenz herausgeworfen. Sieht so also YouTubes „Demokratisierung“ aus? Im Rahmen dieser Doku geht Rose anschließend relativ ausführlich auf einen hinsichtlich dieser Frage entscheidenden Aspekt ein, der den meisten eher passiven YouTube-Nutzerinnen und -nutzern gänzlich unbekannt sein dürfte: Die gezielte Demonetarisierung, also das Streichen der Beteiligung an den Werbeeinnahmen für Videoproduzentinnen und -produzenten, vermeintlich „werbeunfreundlicher“ Videos. YouTube sah sich nach Boykottandrohungen durch Industriewerbekundinnen und -kunden zu diesem Zweck gezwungen, die ihre Werbespots – zunächst einmal verständlich – nicht im Zusammenhang mit Terrorvideos oder politisch untragbaren Inhalten präsentiert sehen wollten. Die Folge ist jedoch die Diskriminierung oder gar Löschung einer Vielzahl kreativer und kritischer, unbequemer oder progressiver Videos (konkretes Beispiel: LBGT-Themen). Das Kapital erklärt also möglichst seichte Inhalte, an denen niemand Anstoß nehmen kann, zu den lukrativsten YouTube-Videos, und nimmt anderen die Möglichkeiten, am YouTube-Geschäftsmodell zu partizipieren. Sogar wichtige Augenzeugenvideos von Kriegsverbrechen u.ä. werden entfernt. Das ist 1984 in modern und entspricht letztlich den Befürchtungen, mit denen seinerzeit dem Privatrundfunk begegnet wurde. An Irrsinn kaum zu überbietende Konsequenz: Sog. ASMR-Videos, sprich: inhaltslose Einschlafhilfen in Videoform, werden vermehrt für YouTube produziert, da diese konzeptionell bereits darauf ausgelegt sind, völlig frei von etwaigen Störfaktoren zu sein und sich als besonders lukrativ erweisen, da sie stets bis zum Ende durchgestreamt werden – schließlich schläft das Publikum währenddessen ein. Einen anderen Weg ging die verzweifelte YouTuberin Nasim Aghdam. Die vegane Tierschutzaktivistin wurde ein Opfer dieser Zensurmaßnahmen YouTubes, woraufhin sie die YouTube-Zentrale stürmte, um sich schoss und sich selbst das Leben nahm.

„Haben sie Millionen Videos aus Konfliktzonen gelöscht, um den Herrschern riesiger Märkte wie China und Russland zu zeigen, dass sie keinen russischen oder chinesischen Frühling auf YouTube befürchten müssen?“

Roses Film macht klar: YouTube verfügt als marktführender De-facto-Monopolist über ein Ausmaß an Macht, das der Konzern mitnichten für demokratische Zwecke einsetzt – im Gegenteil. Seine Algorithmen sind zudem intransparent und haben vornehmlich ein Ziel: Die Anhäufung privaten Gewinns. Zudem lässt er sich problemlos missbrauchen, um eine eigene politische Agenda durchzudrücken. Wie so vieles im Bereich sog. sozialer Netzwerke und Web-2.0-Anwendungen gehört YouTube somit dem Google-Konzern entzogen und vergesellschaftlicht. Warum dem so ist, hat Itamar Rose mit diesem Film mit viel Humor und Sarkasmus gewürzt ebenso eindrucksvoll wie unterhaltsam veranschaulicht, weshalb diese fabelhafte Dokumentation eigentlich jede(r) einmal sehen sollte, der/die YouTube zumindest hin und wieder nutzt – und wer tut das nicht?
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Diese Filme sind züchisch krank!
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