Seite 1 von 1

Das System Milch - Andreas Pichler (2017) [Doku]

Verfasst: Do 9. Jul 2020, 18:46
von buxtebrawler
Bild

Originaltitel: Das System Milch

Herstellungsland: Deutschland / Italien (2017)

Regie: Andreas Pichler

Wegen seiner reinen Farbe und seiner unumstrittenen Rolle als Kindernahrung hat Milch in unserer Gesellschaft eine hohe symbolische, ja beinahe mythische Bedeutung. Auf dem globalen Lebensmittelmarkt ist sie ein besonders attraktives Produkt. Von dem bis heute romantisch verklärten Bild der idyllischen Milchviehwirtschaft ist in Wahrheit aber nicht mehr viel übrig. Stattdessen ist aus dem Geschäft mit der Milch eine milliardenschwere Industrie geworden, die dafür sorgt, dass der Milchkonsum überall auf der Welt konstant ansteigt. Obwohl fast zwei Drittel aller Erwachsenen weltweit laktoseintolerant sind. Allein in Europa werden jährlich 200 Millionen Tonnen Milch und Milchpulver produziert und auf den Markt gebracht. Wie wurden die Kühe zu Lieferanten für eine hochtechnisierte Milchindustrie? Welche Alternativen gibt es? Welche Menschen stehen dahinter? Welche Auswirkungen hat die Milch auf unsere Gesundheit? Egal ob in Europa, Asien oder Afrika – Milch steht sinnbildlich für ein auf unkontrolliertes Wachstum getrimmtes Modell globaler Lebensmittelproduktion. Der Grimme-Preisträger Andreas Pichler trifft auf Bauern, Molkereivorstände, Politiker, Lobbyisten und Wissenschaftler. Eine Reise über mehrere Kontinente, die mit Vorurteilen aufräumt und Lösungen aufzeigt.

Quelle: www.arte.tv

[BBvideo][/BBvideo]

Re: Das System Milch - Andreas Pichler (2017) [Doku]

Verfasst: Do 9. Jul 2020, 18:48
von buxtebrawler
„Unsere gesamte Existenz beruht darauf, dass wir einen Liter Milch so günstig wie möglich produzieren.“

Die italienische Grimme-Preisträger und Filmemacher Andreas Pichler („Ausverkauf Europa“) widmet sich in seinem 2017 in Programmkinos gestarteten und seither unregelmäßig im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlten Dokumentarfilm „Das System Milch“ eineinhalb Stunden lang der Produktion von Kuhmilch als für den menschlichen Konsum gedachtes Lebens- und Genussmittel. 2018 hat der Film den Deutschen Wirtschaftsfilmpreis in der „Wirtschaft gut erklärt“-Kategorie gewonnen.

„Man arbeitet nur noch für Konzerne, für die Kraftfutterindustrie und für die Lebensmittelindustrie – und selber bleibt man auf der Strecke.“

Pichler führt als Voice-over-Sprecher durch seinen Film, für den er zunächst exemplarisch zwei unterschiedliche Milchbauernbetriebe besucht: Ein großes dänisches Industrieunternehmen und einen kleinen Bio-Bauernhof in Pichlers Heimat Südtirol. Da treffen erwartungsgemäß Welten aufeinander und die Aussagen des dänischen Großbauern sind an Zynismus schwer zu überbieten. Beiden gemein ist jedoch, dass sie einen riesigen Markt bedienen, der in hiesigen Gefilden seit den 1950ern dadurch anwuchs, dass man der Gesellschaft anerzog, bei Kuhmilch handele es sich um etwas für den Menschen Überlebenswichtiges – obwohl Wissenschaftler die positiven Auswirkungen auf Wachstum und Knochenbau bei Menschen anzweifeln und erhöhter Verzehr sogar im Verdacht steht, krebserregend zu sein. CMA und Konsorten wurden als so etwas wie unabhängige Gütesiegel wahrgenommen, dabei handelt es sich schlicht um Lobbyverbände der Industrie. Obwohl der Großteil der Menschheit laktoseintolerant ist – Chinesinnen und Chinesen sogar zu 90 % –, ist der Milchmarkt durch das jüngst erwachte chinesische Interesse am Milchkonsum noch einmal regelrecht explodiert.

Neben diesem Wissen vermittelt „Das System Milch“, wie bizarr überzüchtete Turbokühe auf Landwirtschaftsmessen präsentiert werden, internationale und sogar interkontinentale Entwicklungen zu einem höchst ungesunden Milchpreisdiktat führen und dass drei Liter Gülle auf die Produktion eines Liters Milch entfallen – wohin damit? Die Regenwaldrodung für die Futtermittelproduktion scheinen die Dänen als eine Art Planspiel zu verstehen, Nitrat verseucht das Grundwasser, die Methangasbelastung schädigt das Klima zusätzlich und trotzdem steigt die Milchproduktion immer weiter. Pichler analysiert das Marketing von Milchprodukten und spricht mit Lobbyisten in Brüssel. Dort verteilt man EU-Subventionen, von denen die meisten an die Agrarwirtschaft gehen, bevorzugt an die Klimakiller der industriellen Landwirtschaft. Überschussproduktion wird gefördert, um die Produktionspreise immer weiter drücken zu können. Pläne, auch Ostasien milchabhängig zu machen, werden unverhohlen formuliert, Pichler filmt chinesische Kuhfarmen. Die überschüssig produzierte Milch findet ihren Hauptabsatzmarkt jedoch in Afrika: Billige EU-Exporte, die afrikanische Volkswirtschaften zerstören, subventioniert durch europäische Steuergelder, von Pichler anhand seiner Besuche senegalesischer Milchbauern dokumentiert. Welch perfides kapitalistische System. Nur über Flüchtlinge, die in ihrer afrikanischen Heimat keine Zukunft mehr sehen und sich auf den beschwerlichen Weg nach Europa machen, sollte sich dann bitte niemand mehr echauffieren.

„Das Ergebnis der Wissenschaftler: Der entscheidende Faktor zur Bekämpfung des Hungers ist nicht die Steigerung der Produktivität, sondern die Verfügbarkeit von Lebensmitteln und ihrer Produktionsmittel vor Ort. Die besten Garanten für eine flächendeckende globale Ernährungssicherheit sind kleinbäuerliche Strukturen. Ein Großteil der Agrarindustrie lehnt diese Ergebnisse ab.“

Schließlich stellt sich heraus, dass der zynische Däne hochverschuldet ist. Während er sich Kriegsrhetorik bedient, erinnert man sich an dessen Antipode, den Südtiroler Biobauern. Wie bei ihm müsste es überall zugehen, dann hätten sich vielleicht nicht 600 (!) französische Bauern in einem Jahr das Leben genommen. Somit lässt sich „Das System Milch“ durchaus als Plädoyer für Milcherzeugung nach Bio-Standards verstehen, die entsprechenden Schlüsse zu ziehen ist das Publikum jedoch selbst aufgefordert: Pichler hat wichtige, unaufgeregte und seriöse journalistische Vorarbeit geleistet, die Konsequenzen ziehen hoffentlich seine Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Überwindung des „Systems Milch“ geht im Idealfall einher mit einer Überwindung des Systems Kapitalismus, der, wie dieser Film eindrucksvoll veranschaulicht, auch auf diesem Gebiet versagt, Mensch, Tier und Natur ausbeutet und Folgeschäden produziert, die uns alle teuer zu stehen kommen. Mich daran erinnernd, wie lange selbst ich gebraucht habe, zu kapieren, dass Milchkühe permanent künstlich schwanger gehalten werden, plädiere ich ferner für ein Schulpflichtfach „Ernährungskunde“ o.ä. und für die Integration dieses Films in den Schulunterricht – vielleicht in einer leicht überarbeiteten Fassung, in der auch die süddeutschen und Südtiroler Gesprächspartner untertitelt werden…