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Two Years at Sea - Ben Rivers (2011)

Verfasst: Di 4. Aug 2020, 20:27
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: Two Years at Sea

Produktionsland: Großbritannien 2011

Regie: Ben Rivers

Darsteller: Jake Williams

A SPELL TO WARD OFF DARKNESS, die Gemeinschaftsarbeit der Regisseure Ben Rivers und Ben Russell aus dem Jahre 2013, hat mich kürzlich an einem Platz abgeholt, an dem ich noch gar nicht geahnt hatte, dass ich auf solch ein kontemplatives, entschleunigtes, sich in elegischer Langsamkeit selbstverzehrendes Meisterwerk wartete. Bloß eine Frage der Zeit ist es deshalb gewesen bis ich mich tiefer hineinwühle in die Filmographien dieser beiden Herren.

TWO YEARS AT SEA ist nach etwa zwanzig Kurzfilmen Ben Rivers‘ Langfilm-Debut aus dem Jahre 2011. Der Titel des Films erschließt sich ebenso wie die „Handlung“ nur, wenn man auf Sekundärquellen zurückgreift, Paratexte wie vor allem Interviews mit dem Filmemacher, in denen er ein bisschen Hintergrundinformationen zu dem ausschließlich schwarzweiß mit einer alten 16mm-Bolex geschossenen Streifen liefert: Dass Hauptdarsteller bzw. einziger Darsteller Jake Williams ein Eremit ist, der im schottischen Hochland fernab der Zivilisation lebt; dass Williams bereits Dreh- und Angelpunkt eines früheren Kurzfilms von Rivers gewesen ist; dass Williams vor seinem Rückzug in die Wildnis zwei Jahre lang als Matrose auf hoher See verbracht hat. Da TWO YEARS AT SEA komplett ohne Dialoge auskommt und nichts weiter tut als seinem Protagonisten eineinhalb Stunden bei seinem Alltag zuzuschauen, sind diese Fakten für den eigentlichen Filmgenuss möglicherweise aber auch reichlich bedeutungslos.

Die Themen und stilistischen Eigenheiten, die auch A SPELL TO WARD OFF DARKNESS durchziehen bzw. konstituieren, sind in TWO YEARS AT SEA bereits angelegt: Ein Mann, der Menschheit, Moderne, Materialismus den Rücken zukehrt, und sich in unberührter Natur auf einen Selbstfindungstrip begibt, bei dem Askese großgeschrieben wird; lange Einstellungen, in denen vermeintlich nichts geschieht, wenn wir beispielweise fünf Minuten lang Williams beim Angeln zusehen, oder wie er in seinem heruntergekommenen Wohngebäude aus Abfall und Zufallsfunden solche Dinge wie ein Floß konstruiert, oder wie er scheinbar ziellos, vor allem aber endlos durch Wälder stapft, wie er Country-Platten lauscht, wie er mit dem Auto durch die Gegend fährt; eine gewisse Verweigerungshaltung, mehr zu liefern als einen Fluss hermetischer, wenn auch wunderschöner Bilder, die offen sind für jedwede Interpretationen, die man nichtssagend oder übervoll von Bedeutung finden kann, und die im Fall von TWO YEARS AT SEA aufgrund des archaisch anmutenden Filmmaterials, das körnig ist, schattig, ständig flackert wie beseelt von einem geheimen Innenleben, zumindest für mich stellenweise stark nach einer dezidierten Black-Metal-Ästhetik ausschaut, (was allein deshalb Sinn macht, da A SPELL TO WARD OFF DARKNESS ja ebenfalls mit einem halbstündigen Black-Metal-Konzert endet.) Dass Rivers zwischendurch Großaufnahmen von Photographien einblendet, die offenbar Menschen aus Williams‘ früherem Leben zeigen – einen alten Mann; zwei kleine Kinder –, trägt ebenso wenig zur Enträtselung bei wie eine irritierend surreale Szene, in der sich Williams‘ Wohnmobil, während er darin seinen Mittagsschlaf hält, wie von Zauberhand in die Luft schwingt, um sich in der Krone eines Baums zu verfangen. Gerade dieser Moment enthüllt aber: Entgegen der landläufigen Meinung, bei TWO YEARS AT SEA handle es sich um einen Dokumentarfilm, ist der Film, wie Rivers auch selbst offen zugibt, von Anfang bis Ende inszeniert; er dirigiert Williams wie einen Schauspieler; die einzelnen vermeintlichen Alltagsbeobachtungen sind wohldurchdacht, streng komponiert. Allein für die Finalszene hat Rivers mehrere Anläufe gebraucht bis sie ihm geeignet für den Endschnitt schien: Bald zehn Minuten sehen wir dort Rivers‘ Gesicht, das von einem sterbenden Lagerfeuer erhellt wird – auch dies ein Bild, das ganz ähnlich in A SPELL TO WARD OFF DARKNESS wiederkehren wird: Die Flammen fallen immer mehr in sich zusammen, die Schatten schieben sich immer undurchdringlicher über das Gesicht des weißhaarigen, bärtigen Alten; am Ende ist die Kinoleinwand bzw. der Fernsehschirm noch für ein, zwei Minuten stockfinster bevor der Abspann sich entrollt.

Die ausnahmslos kritischen, wenn nicht gar empörten User-Kritiken auf der IMDB zeigen deutlich: Diese Art von non-narrativem, die Phantasie eher stimulierendem als dämpfendem Kino, dieser eklektizistische Minimalismus, dieses Retour-à-la-Nature der Bilder ist nicht für die breite Masse gedacht. Sicher, es ist das gute Recht von jedem, nichts Produktives daraus schöpfen zu wollen oder zu können, neunzig Minuten einen alten Mann dabei zu beobachten, wie er in seiner Werkstatt hantiert, wie er Plastikbehälter über Felder trägt, wie er sich beim morgendlichen Erwachen aus seinem Bettzeug schält. Für mich allerdings stellt ein Film wie TWO YEARS AT SEA eine Seherfahrung dar, die mehr mit dem Betrachten eines Gemäldes als mit dem Lesen eines Romans zu tun hat: Als ob man sich lange genug in einem Bild versenkt, dass es sich abwechselnd bis zur Abstraktion auflöst und sich dann wieder zu glasklaren Details zusammenfindet - eine Manipulation meines Zeitgefühls, die die Betrachtung auch dieses Rivers-Werks zu einer spektakulären somatischen Erfahrung für mich gemacht hat.