Stromboli - Roberto Rossellini (1950)

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Salvatore Baccaro
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Stromboli - Roberto Rossellini (1950)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Stromboli

Produktionsland: Italien 1950

Regie: Roberto Rossellini

Darsteller: Ingrid Bergman, Mario Vitale, Renzo Cesana, Mario Sponzo

Ende der 40er dämmert auch einem der führenden Köpfe des Italienischen Neorealismus, dass man dessen Konzept nicht ewig weiterführen könne: Für immer drehen in zerbombten Städten, urbanen Nachkriegslandschaften, vom Trauma des Faschismus zerrütteten Gesellschaften ist schon allein deshalb nicht möglich, weil die Bombenschäden nach und nach behoben werden, sich die Städte wieder mit Leben füllen, die zurückliegenden Traumata halbherzig aufgearbeitet oder unter den Tisch gekehrt werden. Nach seiner Neorealistischen Trilogie, - bestehend aus ROMA CITTÀ APERTA (1945), PAISÀ (1946) und GERMANIA ANNO ZERO (1948) - stellt STROMBOLI für Roberto Rossellini demnach so etwas wie einen Neuanfang dar: Nur in seinem Auftakt, der in einem Kriegsflüchtlingslager spielt, verweist der Film noch auf das aktuelle Zeitgeschehen, ansonsten siedelt er im quasi ahistorischen Raum der Vulkaninsel Stromboli unweit Siziliens, und erzählt die zwar raumgebundene, jedoch zeitlose Geschichte einer jungen Frau, die sich mit ihrer neuen Lebensrealität arrangieren muss. Zugleich ist es der erste von drei Filmen, die Rossellini mit der ihn bewundernden Hollywood-Schauspielerin Ingrid Bergman drehen wird, die ihm kurze Zeit nach den Dreharbeiten dann auch das Ja-Wort gibt. Nicht zuletzt stellt STROMBOLI für ganze Generationen nachfolgender Filmemacher eine unerschöpfliche Inspirationsquelle dar: Sowohl die existenzialistischen Gesellschaftsstudien eines Michelangelo Antonioni wie auch die Ikonoklasmen der Nouvelle Vague lassen sich deutlich auf dieses kanonische Werk zurückführen. Einmal abgesehen von seiner filmhistorischen Bedeutung ist STROMBOLI aber vor allem ein heute noch ergreifender Film, der unter der Handvoll Rossellinis, die ich im Laufe meines Lebens gesehen habe, einen der Spitzenplätze einnimmt.

1948 in einem italienischen Flüchtlingslager: Als ehemalige Geliebte eines Wehrmachtssoldaten ist die Litauerin Karin seit geraumer Zeit interniert, und ohne wirkliche Aussicht, alsbald die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht zu bekommen. Da kommt ihr der junge Soldat Antonio wie gerufen, der ihr nicht nur amouröse Avancen macht, sondern ihr auch in Aussicht stellt, sie nach der Hochzeit mit auf seine Heimatinsel, das von ihm in schillernden Farben geschilderte Eiland Stromboli im Mittelmeer, zu nehmen. Weniger aus Herzensliebe, sondern aus pragmatischen Gründen leistet Karin ihm das Eheversprechen, - nur um angelangt auf Stromboli festzustellen, dass sich die Realität der Insel kaum mit den romantischen Phantasien deckt, die sie sich von ihr gemacht hat: Karg und felsig ist die Landschaft; die Bewohner sind archaischen Idealen verpflichtet, und beäugen Karin von Anfang an kritisch, da die emanzipierte, weltgewandte Frau so gar nicht in die traditionelle Frauenrolle zu passen scheint; Antonio selbst bekommt Karin kaum zu Gesicht, da er tagaus tagein beim Fischfang schuften muss, um ein bisschen Geld zu erwirtschaften, mit dem er sich und seine Frau über die Runden bringen kann. Karins Tage sind trist: Die weiblichen Dorfbewohner tadeln sie mit stummen Blicken, sobald sie nur mit einem anderen Mann ein Gespräch anknüpft; Antonio kommen Gerüchte zu Ohren, dass seine Gattin etwas zu flirtaffin sei; als sie sich nicht um Klatsch und Tratsch schert, und die Dorfprostituierte besucht, um sich von ihr ein Kleidungsstück ausbessern zu lassen, gereicht ihr das noch mehr zum Nachteil. Einziger Vertrauter ist der örtliche Priester, bei dem Karin sich Not und Anstand erhofft, letztlich aber zurückprallt vor seinem christlichen Glauben, den sie grundheraus ablehnt. In einer Schlüsselszene des Films eilt sie wie von Sinnen durch enge Dorfgassen, einen Ausweg suchend und nicht findend. Als Antonio sie gar zu Hause einsperrt, und sie zudem bemerkt, dass sie ein Kind unter dem Herzen trägt, wachsen sich ihre halbseidenen Fluchtversuche zu einem Plan aus: Wieso nicht wagen, über den Vulkanberg in den Hafen auf der anderen Inselseite zu gelangen, wo sie das erstbeste Schiff in die Freiheit besteigen könnte?

STROMBOLI ist ein Film, der eine spezifische Landschaft nicht bloß als reine Hintergrundfolie nutzt, um seine menschlichen Dramen auf ihr auszubreiten, sondern ein Film, bei dem Handlung und Landschaft unweigerlich miteinander vernetzt sind: Diese verhärmten Gesichter der Dorfbewohner, die Karin mit unausgesprochener Kritik mustern, finden ihre Korrespondenz in den zerklüfteten Felsen, mit denen sich die Inselküste vor der Außenwelt abschirmt; wenn Karin wie eine Maus im Labyrinth durch die Gassen hetzt oder mutterseelenallein in der Vulkanlandschaft steht, dann übersetzt Rossellini das Innenleben seiner psychologisch ausgefeilt gezeichneten Heldin kongenial in ihre äußere Umgebung. Dabei setzt der Film aber weniger auf forcierte Metaphern, sondern auf den dokumentarischen Impetus, den man bereits aus Rossellinis früheren Werken kennt: In Statistenrollen agieren Laiendarsteller; gedreht wird nicht im Studio, sondern tatsächlich im Schatten des noch immer aktiven und manchmal bedrohliche Rauchwolken aushustenden Vulkans; wenn in einer der großartigsten Szenen des Films zur Thunfischjagd geblasen wird, stagniert die Handlung für einige Minuten, und die Kamera klebt hautnah an den aufgespießten, aus dem Meer gehievten und in den Booten zuckend umherschlängelnden Fischen – affektive Szenen, die wirken, als hätten Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel ihre großartige 2012er Dokumentation LEVIATHAN über die nordamerikanische Fischfangindustrie in halbes Jahrhundert früher zu drehen versucht. In einer weiteren Szenen nimmt Rossellini gar die vielen Duelle zwischen unterschiedlichen Tierarten in italienischen Mondo-, Kannibalen- und Emmanuelle-Nera-Streifen vorweg, wenn er – erneut als visueller Außenstand des Seelenlebens der von Ingrid Bergman absolut überzeugend verkörperten Heldin – ein Frettchen zeigt, das ein Kaninchen zu Tode beißt. Wie so oft beim Neorealismus ist der einzige Wermutstropfen für mich der bombastische Orchestersoundtrack, der mir ein wenig gegen den naturalistischen Ansatz Rossellinis anzuspielen scheint: So, als ob man eine nüchterne Dokumentation mit einem überladenden Aufgebot an Pathos begraben wolle. Andererseits kann mir aber kein Symphonieorchester der Welt die Glorie dieses wundervollen Films vergällen.
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