Debris Documentar - Marian Dora (2003/2012)
Verfasst: Mo 21. Sep 2020, 17:45
Originaltitel: Debris Documentar
Produktionsland: Deutschland 2003/2012
Regie: Marian Dora
Darsteller: Carsten Frank, Martina Adora, Ulli Lommel, die Stimmen von Jess Franco, Katja Bienert, Peter Martell, David Hess
Hitzacker im Oktober 2018: Am Rande einer wissenschaftlichen Tagung diskutiere ich mit zwei Freunden über das Thema „Unwatchable Movies“. Im Frühstücksaal des Luxushotels, in dem man uns untergebracht hat, beginnen wir, während der Binnenhafen draußen sich unter seinen Nebelbänken wie aus einem Edgar-Wallace-Krimi gar nicht hervorzutrauen scheint, eine Liste mit potentiellen Kandidaten zu erstellen: Welche Filme haben uns in unserem Leben bislang derart abgestoßen, dass wir sie für nahezu unansehnlich halten? Die üblichen Verdächtigen fallen wie überreife Äpfel: Lucifer Valentine mit seinem SATANIC VOMIT DOLLS, und Fred Vogel mit seinem AUGUST UNDERGROUND, und Otto Mühl mit seinen abgefilmten Sixties-Performances à la SCHEISSKERL, und bald auch DIE MELANCHOLIE DER ENGEL vom selbsternannten Filmkünstler Marian Dora, den zumindest zwei von uns zu dem Zeitpunkt bereits gesehen haben.
Im Dezember des gleichen Jahres schlagen die Beiden bei mir auf, wo wir Doras MELANCHOLIE einer gemeinsamen Sichtung unterziehen. Die Bandbreite an Reaktionen reicht von peinlich berührtem Kichern bis zu eisernem Schweigen und entrüstetem Kopfschütteln: In bald drei Stunden versammelt der Ulli-Lommel-Schüler einen ganzen Katalog an Grenzüberschreitungen. Vergewaltigungen und drastische Morde? Check. Tiersnuff, bei dem beispielweise einem arglosen Kätzchen die Kehle durchtrennt wird? Check. Künstliche Darmausgänge, kotierende After in Großaufnahme, Urin, der wie Regen prasselt? Check. Dargeboten wird das Ganze in einem pseudo-poetischen Sstil, der sich sichtlich darum bemüht, an das Kino der 70er anzuknüpfen. Den von Dora in Interviews so gerne angeführten übergroßen Vorbildern wie Pasolini, Jodorowsky oder Fassbinder wird MELANCHOIE DER ENGEL allerdings zu keinem Zeitpunkt gerecht. Stattdessen versumpft der non-narrative, monothematisch um seine Tabubrüche zirkulierende Streifen abseits der Schock-Sequenzen in lähmender Geschwätzigkeit, unfreiwillig komischem Schauspiel und ermüdenden Bildkompositionen nach dem Arthouse-Lehrbuch. Unvergesslich indes sind für mich die Bonusfilme, die sich auf der österreichischen Deluxe-Ausgabe des Films finden lassen: Wer schon immer mal sehen wollte, wie eine Frau in einem BDSM-Szenario die Brustwarzen abgeschnitten bekommt, bevor sie mittels eines halbverwesten Schweinekopfs geschändet wird, ist bei Doras BLUE-SNUFF-Kurzfilmen genau richtig – und wer nach intellektuell reizvollen, inszenatorisch durchdachten filmischen Aufarbeitungen des Konnex zwischen Eros und Thanatos sucht, genau an der falschen Adresse.
Fast zwei Jahre sind vergangen und ich fühle mich dieses Wochenende bereit, mir mit DEBRIS DOCUMENTAR die „Einblicke in die Vorproduktion von MELANCHOLIE DER ENGEL“ anzuschauen, die Dora bereits 2003 noch vor seiner Hommage an den Kannibalen von Rothenburg CANNIBAL fertiggestellt, jedoch erst 2012 auf Video veröffentlich hat. Tja, und was soll ich sagen? Ein absoluter Spitzenreiter meiner persönlichen „Unwatchable-Movies“-Liste ist hiermit endlich gefunden, denn bisher hat es noch kein Film geschafft, mich noch während der Sichtung zum Erbrechen zu bringen. Ich wiederhole: Marian Dora hat mit DEBRIS DOCUMENTAR geschafft, was kein Fred Vogel, kein Lucifer Valentine, kein Otto Mühl vollbracht haben, nämlich mir mein Abendessen in hohem Bogen die Speiseröhre hinauf zu katapultieren. Nachfolgende Zeilen sollen deshalb ganz bewusst wie eine Warnung klingen: Wer in diesen Film eintritt, der lasse - frei nach Dante - nun wirklich alle Hoffnung fahren!
DEBRIS DOCUMENTAR folgt semi-dokumentarisch den alltäglichen Verrichtungen von Doras Lieblingsdarsteller Carsten Frank, der in MELANCHOLIE DER ENGEL die Hauptrolle „Katze“ übernehmen, in CANNIBAL den titelgebenden Anthropophagen spielen, und letzterem Film zudem als Produzent finanziell unter die Arme greifen wird. Zum Zeitpunkt, als DEBRIS DOCUMENTAR entsteht, ist der glatzköpfige, spitzbartragende, zur Korpulenz neigende Anfangdreißigjährige ebenfalls bereits als ausführender Produzent tätig – nämlich für Doras Busenfreund Ulli Lommel, der gerade eine Trash-Gurke namens ZOMBIE NATION in den Kasten bringt. (Für die Effekte zuständig: Marian Dora.) Obwohl Frank immer mal wieder an Lommels Set herumhängt, (was uns - hust - "metareflexive" Einblicke hinter dessen Kulissen gewährt), scheint er besonders viel nicht zu tun zu haben, und verfolgt stattdessen Pläne, ein eigenes Regie-Debut in Angriff zu nehmen – einen Film, der die Kinohistorie revolutionieren soll, ein Film, der Dinge zeigt, die niemals zuvor zu sehen gewesen sein sollen, ein somatisch affizierender Film, der als Attacke auf alle Sinne funktionieren soll. So zumindest umschreibt Frank sein Projekt, (bei dem es sich natürlich um nichts anderes als Doras opus magnum MELANCHOLIE DER ENGEL handelt), den zum Vorsprechen in seine Wohnung geladenen Jungschauspielerinnen, die er per Inserate akquiriert – und die allesamt schnell Reißaus nehmen, als sie feststellen, dass Nacktheit vor laufender Kamera noch das geringste Übel ist, das der kauzige Lüstling ihnen abverlangen möchte. Wenn Frank nicht gerade reichlich unbeholfen und in grenzenloser, (scheinbar allerdings von Dora überhaupt nicht selbstironisch gemeinter), Selbstüberschätzung versucht, sich aus dem Schatten Lommels zu befreien, führt er einen tristen, monotonen und vor allem ziemlich ekelerregenden Lebenswandel, den Dora nicht scheut, uns in all seiner expliziten Pracht zu zeigen. Noch halbwegs amüsant ist es ja, dass Frank in jeweils einer Szene mit solch illustren Persönlichkeiten wie Katja Bienert und Jess Franco telefoniert – und das scheint auch kein augenzwinkernder Gag zu sein, sondern am anderen Ende der Leitung befinden sich wirklich die ehemalige deutsche B-Movie-Heroine und der spanische Altmeister, deren KILLER BARBYS VS. DRACULA Frank ein Jahr zuvor produziert hat. Auf die Ohren gibt es außerdem David Hess, der Dora freundlicherweise eine Eigenkomposition für MELANCHOLIE DER ENGEL zur Verfügung gestellt hat, die auch bereits in DEBRIS DOCUMENTAR zu hören ist, (und den man kurz bei Aufnahmen zu ZOMBIE NATION sieht, in dem er mitspielt) sowie den Italo-Western-Star Peter Martell, der wiederum in MELANCHOLIE DER ENGEL zum letzten Mal in seinem Leben eine Leinwand betreten wird, (und den Frank bittet, ihm doch für sein Filmprojekt eine Kamera zu leihen.)
Wie man sich denken kann: Nein, die Stimmchen all dieser interessanten Figuren der abseitigeren Filmgeschichte haben mir nicht den Magen umgekrempelt, sondern das, womit Frank ansonsten seine Zeit totschlägt. Wie schon in MELANCHOLIE DER ENGEL ist die Kameraarbeit krampfhaft auf GROSSE KUNST™ getrimmt, die verfremdenden Filter liegen in mehreren Schichten über den Bildern, zu hören sind melancholisch-zarte Klavierklänge, die in herbem Kontrast zu dem stehen, was uns Dora an (pubertären) Provokationen vorführt: Frank joggt im Morgentau über Wiesen und Felder und bleibt nur stehen, um sich (vor Erschöpfung?) am Wegesrand zu übergeben; Frank photographiert und sammelt tote Tiere, auf die er bei seinen Spaziergängen zufällig stößt, darunter einen toten Fuchs, den er dann auch gleich zur Ausweidung mit nach Hause nimmt; Frank verzehrt im Close-Up Hornhaut seiner Füße und Dinge, die er mit den Fingern seinen Nasenhöhlen entnommen hat; Frank sitzt vorm Fernseher und genießt ausgewählte Filetstücke seiner Splatterfilm-Sammlung; Frank schnippelt mit Messern und Glasscherben an sich herum und entzückt das fließende Blut zu begaffen; Frank greift – puh, und nun muss sowohl jeder Mitlesende wie auch der Autor dieser Zeilen besonders stark sein – nach dem Duschen nach einem Handtuch, das in seiner verschissenen Toilette aufbewahrt wird und trocknen sich damit ab; Frank besucht eine Prostituierte, (bei der es sich ebenfalls um eine in MELANCHOLIE DER ENGEL auftretende Darstellerin handelt), die sich vor seinen Augen einen Einlauf verpasst, worauf sie wiederum ihm ihre Faust in den kotverschmierten Anus einführt; Frank kniet onanierend in seiner Wohnung, verrichtet sein Geschäft auf dem Teppichboden, kostet seine Darmerzeugnisse und erbricht sich anschließend. Muss ich extra betonen, dass es sich bei all diesen Eskapaden eben nicht um Spezialeffekte oder Kameratricks handelt? Möglicherweise niemals hat sich ein Individuum innerhalb der Filmgeschichte derart in seelischem und körperlichem Schmutz und Abfall gewälzt, wie es Carsten Frank in vorliegendem, ehm, „Experimentalfilm“ (Quelle: Wikipedia) tut. Ich weiß nicht, wer da nun seine Sexualfetische auslebt oder ob Frank und Dora sich gegenseitig in einer stetig steigenden Spirale in diese perversen Obsessionen hineingesteigert haben. Was ich weiß, ist, dass es mir nicht mal geholfen hat, in den heftigsten Momenten die Äuglein zuzukneifen: Noch einen Tag später brauchen mir nur ausgewählte Bilder dieses Machwerks vorm inneren Auge aufzublitzen, und ich schiebe den köstlichsten Teller kulinarischer Perlen mit einem „Nein, danke!“ von mir weg.
Sicher bin ich mir, dass Marian Dora der felsenfesten Überzeugung ist, mit DEBRIS DOCUMENTAR ikonoklastisches Körperkino geschaffen zu haben, transgressive Kunst, die über unser Verhältnis zu Phänomen des Abjekten reflektiert, ein kühn montiertes, inhaltlich radikales, noch im schlimmsten Auswurf die Poesie suchendes Meisterstück, das in Museen besser aufgehoben wäre als in der hintersten Ecke eines zwielichtigen Videoladens. Einmal ganz abgesehen von all den Kritikpunkten, die man aus rein filmischer Sicht DEBRIS DOCUMENTAR vor die Füße werfen kann, bietet dieser Film vor allem die einfallsloseste Pointe, die mir seit langem über den Weg gelaufen ist. Weit über eine Stunde sind wir abgetaucht in die derangierte Welt des Herrn Frank, als dessen triebhaften Leidenschaften sich endlich Bahn brechen und er eine weitere Jungschauspielerin, die bei ihm zu Gast ist, überfällt, zerstückelt, teilweise verspeist. Zuvor übrigens hat er ihr von Marian Doras BLUE-SNUFF-Filmen vorgeschwärmt. Sicher bin ich mir, dass auch diese Selbstreferenz bitterernst gemeint ist, sprich, dass Dora kein bisschen am eigenen Genie zweifelt. Positiv ist eigentlich nur, dass Dora – im Gegensatz zu MELANCHOLIE DER ENGEL – auf all die gestelzten Dialoge verzichtet, und seinen Protagonisten diesmal keine Zeilen von Goethe oder Rilke in die Münder stopft. Dadurch aber, dass offenbar alle Dialoge in DEBRIS DOCUMENTAR äußerst schlecht nachsynchronisiert wurden, wird jede verbale Lautäußerung nur zu einem weiteren unangenehmen Nadelstich.
Mittlerweile habe ich den Film übrigens auch meinen beiden „Unwatchable-Movies“-Freunden zukommen lassen. Ihr einhelliges Urteil lautet im Chor: Bäh! Einer schreibt: „Für mich jedenfalls steht jetzt schon fest, dass Marian Dora der wohl schlechteste Regisseur ist, der auf sich hält, Kunstfilme zu produzieren. Ulli Lommel mit DANIEL DER ZAUBERER steht da vielleicht hintenan, aber der ist ja anscheinend auch bester Freund von Dora. Das passt doch wie das Enema in den After.“