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ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Fr 2. Okt 2020, 11:03
von Salvatore Baccaro
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Originaltitel: ORG

Produktionsland: Italien 1978

Regie: Fernando Birri

Darsteller: Terence Hill, Lidija Juracik, Isaac Twen Obu

Abt. Salvatores Selbstkasteiungen

Vor etwa genau einem Jahr kürte ich Jairo Ferreiras O VAMPIRO DA CINEMETCA zum anstrengendsten Experimentalfilm, der jemals meine Augen gestreift hat. Nun muss der brasilianische Streifen seinen wohlverdienten Königsplatz allerdings schon wieder räumen. Nein, beileibe: Nichts und niemand hätte mich auf das Monstrum vorbereiten können, das Fernando Birris ORG darstellt…

Zu den Fakten:

Fernando Birri zählt zu den Gründervätern des Neuen Lateinamerikanischen Kinos. Nach Lehrjahren in Italien, wo er als Regieassistent unter anderem für Carlo Lizzani und Vittorio de Sica tätig ist, kehrt er Ende der 50er in die argentinische Heimat zurück, um in seiner Geburtsstadt Santa Fé mit dem Instituto de Cinematografía de la Universidad del Litoral die erste Filmhochschule ihrer Art auf südamerikanischem Boden zu gründen. In der Folge kümmert sich der 1925 geborene Birri nicht nur um den künstlerischen Nachwuchs Argentiniens, sondern dreht selbst kurze Dokumentarfilme, verfasst kinorevolutionäre Manifeste, und landet mit seinem 1961er Spielfilmdebut einen Welterfolg: Für LOS INUENDOS hagelt es Preise und Renommee. Die Filmfestspiele in Venedig zeigen die Gesellschaftskomödie ebenso wie die Ostblock-Oscarverleihung in Karlovy Vary. LOS INUENDOS erfüllt mit Bravour genau die Forderungen, für die Birri zuvor theoretisch eingetreten ist: Der Film ist wirklichkeitsnah, volkstümlich, national. Deutlich geschult am Italienischen Neorealismus mit seinen fragmentarischen Erzählstruktur, seinem semi-dokumentarischen Flair, seinen von tiefem Humanismus gezeichneten Figuren erzählt LOS INUENDOS von einer Familie in den Slums Santa Fés, die vom alljährlich Flusshochwasser dazu gezwungen werden, ihre Wellblechhütten zu verlassen, - und durch Väterchen Zufall mitsamt ihrer Behausung in einem Viehwaggon auf eine Reise quer durchs Land mitgenommen werden.

Zehn Jahre später finden wir Birri in Italien. Bereits 1965 hat er sich aufgrund eines Militärputsches aus seiner Heimat verabschiedet. Jahrelang irrt Birri durch Lateinamerika, kehrt schließlich in jenen europäischen Staat zurück, dem er seine künstlerische Ausbildung verdankt. Filme veröffentlicht er keine mehr, arbeitet stattdessen im stillen Kämmerchen an einem Opus Magnum, das alles bislang Geschaffene in den Schatten stellen soll. Ein Zelluloid gewordener Alptraum, in dem Birri verarbeiten möchte, wie er aus der Ferne der Schließung seiner Filmhochschule zuschauen musste, wie entwurzelt er sich fühlt, getrennt von seiner Heimaterde, ein Fremder unter Fremden, wie sehr ihn seine jahrelangen Irrfahrten durch verschiedene Länder mitgenommen haben, bevor er endlich in Italien gestrandet ist. Zugleich schwebt Birri aber auch ein Archiv an Bildern und Tönen vor, mit denen die zurückliegenden politischen, gesellschaftlichen, künstlerischen Umwälzungen seit den 60ern illustriert werden sollen, die sich abarbeiten an der 68er Revolte, am Aufschwung und Niedergang autoritärer Regime, an Filmemachern, die politische Filme machen wollen, und denen, die Politik durch Filme machen wollen.

Finanziert wird der Film von Terence Hill, der den Film auch produziert. Im Endergebnis ist der Streifen zumindest in seiner ungekürzten Fassung fast drei Stunden lang. Sein Drehbuch basiert auf derselben indischen Legende, die Thomas Mann zu seiner Langerzählung „Die vertauschten Köpfe“ inspiriert hat, (die wiederum bereits 1957 von Alejandro Jodorowsky in seinem frühen Kurzfilm LA CRAVATE adaptiert worden ist.) Neben Terence Hill spielen Isaac Twen Obu, der keinen weiteren Leinwandauftritt zu verzeichnen hat, sowie Lidija Juracik, die immerhin noch in einer Handvoll experimenteller Filme agierte. Der Großteil der Dreharbeit findet 1968 statt, - danach nimmt sich Birri knapp eine Dekade Zeit für die Post-Production, bevor ORG 1978 seine Premiere feiert. Dem Endergebnis sieht man an, dass da viel Zeit und Handarbeit hineingeflossen ist: Weit über 700 einzelne Audio-Tracks sind in ORG verwertet, und nicht weniger als 26.000 Schnitte soll der Film zählen. Kaum veröffentlicht, verschwindet ORG aber auch schon wieder von der Bildfläche. Birris Hauptwerk wird zum Phantom, zur Monstrosität, über die man nur flüsternd spricht, zum perfekten Nährboden für Legendenbildungen. Inzwischen liegt natürlich auch dieser mythenumrankte Streifen auf DVD vor. Bei vielen Filmen frage ich mich ernsthaft, wie es sein konnte, dass sie zum Zeitpunkt ihrer Erstveröffentlichung derart vom Publikum verkannt wurden. Bei ORG indes kann ich nur allzu gut nachvollziehen, was es gewesen ist, das Birris Projekt seinerzeit sowohl bei Publikum wie Kritik kolossal scheitern ließ. Müsste ich ORG in einem Satz zusammenfassen, würde ich schreiben: ORG ist ein Film, der seine Zuschauer mit Stahlbesen aus dem Kino jagen soll, als seien sie dem Leibhaftigen begegnet.

Anders als bruchstückhaft kann ich mich ORG nicht nähern. Deshalb nachfolgend eine Verschriftlichung meiner während der Filmsichtung gemachten Notizen.

Die Hauptfiguren werden uns in einer Lochblende wie zu Stummfilmzeiten vorgestellt. Terence Hill ist Zohommm!!!. Isaac Twen Obu ist Grrr??? Lidija Juracik ist Shuick… Zwei Männer, eine Frau. Eifersucht, Freundschaft, Neckereien, Liebe, Ménage-à-trois.

Pah, Pustekuchen: Störgeräusche am laufenden Band. Ausschnitte aus Stan Brakhages SONG NO. 16. Zitate von William Blake und Walter Whitman, die unmotiviert auf der Leinwand auftauchen. Photographien oder Bewegtbildaufnahmen von Mao Tse Tung und Che Guevara. Fetzen aus Filmen von Georges Méliès und Giovanni Pastrones CABIRIA.

Unsere Protagonisten verständigen sich mittels Comic-Sprechblasen. Zooom!, und Bäääm!, und Aaaah! Terence Hill raucht, taumelt mit seinen Gefährten im Astronautenkostüm durch die Landschaft, schläft mit Shuick…, diskutiert mit Grrr??? All die Ton- und Bildschnitte verhindern aber, dass man die Dialoge auch nur ansatzweise versteht, oder von der Sexszene mehr mitnimmt als ein flirrendes Tohuwabohu an bunten Funken. Überhaupt verlässt ORG gerne und oft seine figurativ-gegenständliche Ebene: Dann zerfasert das Bild in Prismen, in farbigen Flächen, in Lichtblitzen. Einmal sehen wir dabei zu, wie sich das 35mm unter Einwirkung von Hitze allmählich auflöst.

Eine Hand in Großaufnahme, die Tarotkarten legt. Ein älterer Herr als Zauberer oder Zeremonienmeister scheint die Fäden und Geschicke unserer „Helden“ in Händen zu halten. Terence Hill mit blutverschmiertem Mund im Dracula-Sarg. Animationen sind in das Filmmaterial eingefügt: In Zeitraffer bewegt Shuick… eine gefühlte Ewigkeit ihren Kopf hin und her, dass die Haare wie ein Wasserfall um ihren Kopf tosen. Überdeckt wird sie dabei immer wieder von kreidezeichnungsartigen Ornamenten. Kurz drauf dreht sie sich splitterfasernackt vor der Kamera um die eigene Achse. Eine US-Flagge fungiert als Feigenblatt, das ihre Scham bedeckt.

Eine Gruppe Rhesusaffen in Käfigen. Die Angeklagten. Das Tribunal ist bizarre Objektkunst mit Hammer und Sichel unter freiem Himmel in irgendeiner Felslandschaft arrangiert. Bei der Verurteilungsverkündung springen die Schauspieler mit Affenmasken und Affenkostümen vor der Kamera umher. Jede Sekunde ein Schnitt, dann minutenlange Schwarzblenden. Zwischendurch dreht Birri den Ton auch schon mal komplett ab: Dann verliert sich der extrem geschminkte Hill mit einer Schaustellertruppe in karnevalesken Performances, die in einem Kinosaal enden, wo man sich offenbar ORG projizieren lässt.

Shuick… trägt die blutigen Köpfe Zohommm!!!s und Grrr???s spazieren. Die Tonspur ist reinstes Chaos: Italienische Sprachfetzen, deutsche Sprachfetzen, französische Sprachfetzen. Dokumentaraufnahmen von Studentenprotesten. Interviewsequenzen mit Berufskollegen wie Jean-Luc Godard, Roberto Rossellini, Jonas Mekas, allerdings derart zusammenmontiert, dass kein vollständiger Satz übrigbleibt, und zudem mit ins Bild eingefügter Schrift und Gekrakel visuell beinahe unkenntlich gemacht. Zwischentitel: Eros vs. Thanatos. Storia Universale Di Violencia. Dann wieder minutenlanges Schwarzbild, einzig unterbrochen von einer weiteren Texttafel: La Chambre Noir.

Kinderplärren. Schrille Schreie, direkt aus dem Fegefeuer. Getöse wie vom Dritten Weltkrieg. Terence Hills Augen im Close-Up und überzogen von einem beißenden Rotfilter. Photographien von Streiks, Bürgerkriegen, Aufständen. Eine Hakenkreuzflagge verbrennt in Slow Motion. Zohommm!!! und Grrr??? attackieren einander mit Gladiatorenhelmen. Minutenlange statische Einstellung von den drei Protagonisten an einem Sandstrand, wo sie der Kamera ihre Rücken zukehren. Kinderlachen. Ein Atompilz, überzogen von einem beißenden Rotfilter.

Am Ende erklingt ein italienisches Volkslied, dann eine verzerrte Dudelsackmelodie, dann die Internationale in Zeitlupengeschwindigkeit. Archivaufnahme einer Elefantenschlachtung, abgefilmt von einer Leinwand. Das Bild wird erst blendendweiß, dann tiefrot. Die letzten fünf Minuten wartet man eigentlich nur noch darauf, dass sich gnädiges Schwarz über den blutigen Bildkader hüllt.

Tja, und das sind wirklich nur eine Handvoll Eindrücke dieses wie gesagt 170 Minuten in Anspruch nehmenden Epos, das in jeder seiner Minuten mehr Tricks, mehr Effekte, mehr kreative Ideen, mehr audiovisuellen Overkill verbrät als die meisten Filme während ihrer gesamten Laufzeit. Ich bin wirklich einiges gewöhnt, was experimentelles Kino betrifft. Doch im Fall von ORG stellte sich bei mir schon in den ersten zwanzig Minuten ein Fluchtreflex ein: Flucht vor all den desorientierenden Schnitten, vor dem infernalischen Tonspurlärm, vor all den semantischen Inhalten, die mir um die Ohren geschlagen werden, vor all den bizarren Bildwelten, die Birri sich wie beiläufig aus dem Ärmel schüttelt.

Stellt euch vor, dass jemand die radikalsten, sprich, zuschauerunfreundlichsten Momente von Filmemachern wie Godard, Tinto Brass, Dušan Makavejev, Carmelo Bene zu einer mehrstündigen Kompilation nicht einfach nur zusammenfasst, sondern zunächst einmal nach allen Regeln der Kunst auseinandernimmt, um sie wahllos neu zusammenzufügen, visuell und akustisch zu verfremden, schneegestöberartig durcheinanderzuwirbeln, - und ihr habt vielleicht eine ungefähre Ahnung davon, was für eine kopfschmerzbereitende Strapaze einem bevorsteht, wenn man sich auf einen gemütlichen Filmabend zusammen mit Fernando Birris ORG einlässt.

Ich jedenfalls konnte dieses tobende Mammut nur häppchenweise „genießen“: Ohne eine Pause alle halbe Stunde mit etwas Tee zum Runterkochen und einem kleinen Spaziergang am Waldrand hätte ich sicher in einer Zwangsjacke geendet. Wie mag dieser Handkantenschlag in die Fresse der Konvention wohl nur im Originalformat auf der großen Leinwand wirken? Nein, ich mag es mir gar nicht ausdenken, und zum Abschluss nur noch einmal betonen: Ich weiß nicht, was Birri mir mit diesem Film sagen will. Ich weiß nicht, was Terence Hill und Thomas Mann mit diesem Film zu tun haben. Ich weiß nicht mal, ob ich ORG nun frenetisch feiern oder herzhaft hassen soll dafür, dass er mich an die Grenzen des für mich Erträglichen brachte. Eins weiß ich aber: Ich habe endlich meinen Meister gefunden. Einen Film, vor dem ich bereitwillig die Segel streiche und die Friedensflagge hisse: Bis hierhin und nicht weiter! Ich gebe auf, lege die Waffen nieder!

Odysseus kehrt nach Ithaka zurück, und erkennt den eigenen Hund nicht mehr.

Re: ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Fr 2. Okt 2020, 11:37
von jogiwan
Danke, dass du mir diese Bürde abgenommen hast. Ich hab den ja schon ewig daheim, aber da hat mich neben der Laufzeit schon die mehr als seltsame FSK-Freigabe "als Infoprogramm" (!!!) auf der DVD abgeschreckt... Den spar ich mir dann wohl gerne... :)

Re: ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Fr 2. Okt 2020, 12:00
von Salvatore Baccaro
jogiwan hat geschrieben: Fr 2. Okt 2020, 11:37 Danke, dass du mir diese Bürde abgenommen hast. Ich hab den ja schon ewig daheim, aber da hat mich neben der Laufzeit schon die mehr als seltsame FSK-Freigabe "als Infoprogramm" (!!!) auf der DVD abgeschreckt... Den spar ich mir dann wohl gerne...
Oh nein! Schau ihn Dir getrost an!

Er wird Dir sicher besser gefallen als jeder Terence-Hill-Western und außerdem bin ich auf Deine hochgeschätzte Meinung gespannt... :D

Re: ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Fr 2. Okt 2020, 15:54
von buxtebrawler
Du weißt aber schon, dass man (andere) Filme auch durchaus als Genuss konsumieren kann, z.B. zu Unterhaltungs- oder Zerstreuungszwecken, gelle, Salvschi? Gute Tipps gibt's immer bei www.deliria-italiano.de. :D

Re: ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Sa 3. Okt 2020, 10:44
von Salvatore Baccaro
buxtebrawler hat geschrieben: Fr 2. Okt 2020, 15:54 Du weißt aber schon, dass man (andere) Filme auch durchaus als Genuss konsumieren kann, z.B. zu Unterhaltungs- oder Zerstreuungszwecken, gelle, Salvschi? Gute Tipps gibt's immer bei www.deliria-italiano.de. :D
Hehe. Ja, aber über die schreibe ich nicht. Fürs Protokoll: Ich habe gestern Abend Umberto Lenzis brillantes Bubenstück ZORRO CONTRO MACISTE mit sexy Pierre Brice und Knuddelbär Sergio Ciani geschaut... ;-)

...und Jogi soll das Wochenende nutzen, um ORG zu besehen! :ugeek:

Re: ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Fr 9. Okt 2020, 19:00
von jogiwan
eine halbe Stunde habe ich geschafft... meine Güte, da geht es wohl wirklich nur darum neue Belastbarkeitsgrenzen auszuloten. Leider ist "ORG" aber dabei nicht interessant, sondern lediglich ziemlich nervig und wirkt, wie wenn er absolut dilettantisch zusammengeschnitten wurde. Bild, Ton und deren Abfolge passen ja auch nicht zueinander und zwischendurch gibt es bedeutungsschwangere Worthülsen, die man hingeschmissen bekommt. "ORG" wirkt so, als hätte man im Schneideraum über Jahre die Reste aufgesammelt und dann im Zufallsprinzip aneinandergestoppelt. So etwas kann man wohl als Kunstinstallation irgendwo laufen lassen, aber drei Stunden am Stück ist das nicht nur mühsam, sondern wirklich unschaubar. Ich scheue normalerweise keine cineastischen Herausforderungen, aber da hatte ich schon nach 30 Minuten absolut keine Lust mehr.

Re: ORG - Fernando Birri (1978)

Verfasst: Mo 12. Okt 2020, 12:03
von Salvatore Baccaro
An dieser Stelle muss ich dem Ehren-Jogi mit seinen Nerven und Augen aus Stahl unironischen Respekt dafür zollen, dass er wirklich versucht hat, sich diese Tour de Force anzusehen, zumal NACHDEM er meine Kurzkritik hierzu gelesen hatte...:D :thup: