Motherless Brooklyn
Motherless Brooklyn
USA 2019
Regie: Edward Norton
Bruce Willis, Edward Norton, Willem Dafoe, Gugu Mbatha-Raw, Leslie Mann, Bobby Cannavale, Ethan Suplee,
Michael Kenneth Williams, Alec Baldwin, Dallas Roberts, Fisher Stevens, Cherry Jones
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OFDB
New York, irgendwann ab der Hälfte der 50er. Der Privatdetektiv Lionel schnüffelt sich im Auftrag seines Freundes und Chefs Frank Minna durch New York, und ist dabei eigentlich recht zufrieden mit seinem Leben. Recht zufrieden bedeutet eine kleine Wohnung mit Aussicht auf die Brooklyn Bridge, gute Freunde in der Arbeit, und etwas im Kopf was wie Glas ist, und ihn manchmal die Kontrolle über sich und sein Verhalten verlieren lässt. Lionel hat Tourette.
Lionel zieht also mit seinem Freund und Chef Frank Minna einen Auftrag durch, der gnadenlos in die Hose geht. Am Ende ist Frank tot, erschossen, und die letzten Worte Franks geben ein Rätsel auf. Aus alter, sehr alter Freundschaft heraus, will Lionel das Rätsel lösen.
New York, irgendwann ab der Hälfte der 50er. Am Broadway läuft
Look back in anger, und in den Clubs geben sich Thelonious Monk, Chet Baker und Miles Davis die Instrumente in die Hand. Die Stadt summt vor Aktivität, vor Aufregung, vor Rhythmus und Kriminalität. Be Bop und Cool Jazz untermalen die Herrschaft von Korruption und Mafia, den zunehmenden Ärger über die Rassentrennung und den Aufstieg einer jungen und nervös-neugierigen Generation, die später mal als Beatniks bekannt werden. Und mittendrin dieser kleine Schnüffler mit der merkwürdigen Krankheit, der sich oft nicht zurückhalten kann und Schweinereien schreit. Oder sein Gegenüber berührt. Und wieder. Und nochmal. Und der ganz tief im Müll dieser großen Stadt wühlt um ihre Geheimnisse zu entdecken.
Die Stadt ist fest in der Hand einiger Bauunternehmer, die die Slums abreißen und durch Straßen, Brücken und Parks ersetzen wollen. Und was ein Slum ist, das definieren die Bauunternehmer selber. Der Bürgermeister? Ist Teilhaber bei den Baufirmen. Der zuständige Stadtrat? Dem gehört die Baufirma. Lionel? Der stochert in diesem Sumpf aus Korruption und Mord herum, hat keine Ahnung auf was er sich da eigentlich eingelassen hat, aber er kriegt ein paar Mal böse was in die Schnauze. Wenn da nicht die Freundschaft zu Frank wäre. Und die zart aufkeimende Liebe zur jungen Laura, die den Bauunternehmer und Stadtrat Moses Randolph angehen will, und deswegen selber höchst gefährlich lebt.
Was Lionel bei seiner verzweifelten Suche entdeckt übersteigt sein Begriffsvermögen jedoch bei weitem. Und das des Zuschauers auch. Die Handlung von MOTHERLESS BROOKLYN orientiert sich an den klassischen Noirs der 40er-Jahre, bei denen es auch nicht wirklich um das Geflecht aus Geschäft und Kriminalität ging, sondern um das Vermitteln einer Stimmung. Eines Flairs. Einer Geschichte in die man sich hineinfallen lassen kann, auch wenn man nicht versteht worum es geht, und die Story selber sich irgendwann als ein einziger MacGuffin entpuppt der nur dazu dient, coole Männer und schöne Frauen auf harte Gangster mit großen Wummen und korrupte Cops mit noch größerem Hunger auf Geld treffen zu lassen.
Und genauso funktioniert auch MOTHERLESS BROOKLYN. Das Beziehungsgeflecht, dass Paul, Randolph und Lionel da versuchen wortreich zu erläutern, ist konfus und undurchsichtig und interessiert schnell nicht mehr. Viel aufregender ist es, Edward Norton dabei zu beobachten, wie er durch die Straßen eines längst untergegangen scheinenden New Yorks zieht und eine junge Frau observiert. Wie er in einer Kaschemme in Harlem Jazz lebt. Wie er mit Tricks und Schummeleien seinen Job bis zum Äußersten treibt, nur um dann am Schluss doch wieder mit leeren Händen da zu stehen. Tut er das? Nein, nicht wirklich. Das bemerkenswert actionlose Ende ist eines, das viele Handlungsebenen zufriedenstellend zu Ende bringt, ohne dass ein einziger Schuss fällt, oder ohne irgendwelchen Toten oder gar noch Schlimmerem. Ein paar Leute freuen sich, andere werden sich ärgern (was man aber nicht mehr sieht), und als Zuschauer stellt man fest, das dieses kühle Ende zu der lakonischen Geschichte passt wie Schließfach zu Schlüssel. Denn der ganze Film ist irgendwie wie ein Herbstspaziergang durch eine andere Zeit. Man beobachtet die Männer in ihren Trenchcoats und den großen Hüten, man bestaunt die Karossen die auf den Straßen unterwegs sind, freut sich über die altmodischen Häuser, und irgendwann geht man einen Kaffee trinken oder verzieht sich in einen Club zum Jazz hören. Man raucht ein Haschpfeifchen und lässt den Tag mit Charly Parker und einem Glas Whiskey ausklingen, oder man beobachtet den Verkehr auf der Brooklyn Bridge und schläft mit Thelonious Monk im Ohr ein.
Und wer jetzt denkt, dass MOTHERLESS BROOKYLN vielleicht langweilig klingt, dem sei gesagt, dass von den 145 Minuten wirklich jede einzelne gefüllt ist mit Musik, mit Stimmung, mit Liebe und mit Tod. Der Film ist keine Minute zu lang, und er kann seine Geschichte(?) so gut hinter den erstklassigen Schauspielern verbergen, dass man als Zuschauer andauern darauf wartet, dass dieses oder jenes Rätsel endlich gelöst wird, und der Fokus liegt hier durchaus auf dem Begriff
Spannung. Und spannenderweise(!) hält der Film diese Spannung, auch wenn der Krimi irgendwann sich ein wenig auflöst, verklingt wie ein cooles Arpeggio im Wind.
Hm, eigentlich wollte ich etwas ganz anderes schreiben. Von den klitzekleinen Regiefehlern, die zeigen, dass Produzent, Drehbuchautor, Regisseur und Hauptdarsteller Edward Norton in Personalunion sich an der ein oder anderen Stelle vielleicht doch ein ganz klein wenig verhoben hat. Von der weitgehenden Unmöglichkeit, das Flair der 50er so authentisch darzustellen, dass man sich tatsächlich in einem Film aus dieser Zeit wähnt. Davon, dass MOTHERLESS BROOKLYN kein Noir im reinen Sinne ist. Wie merkwürdig der Name des Films, der auch der Spitzname Lionels ist, wirkt. Warum die Hauptfigur unbedingt Tourette haben muss (Da gibt es tatsächlich eine Antwort drauf: Weil das in der Romanvorlage auch so ist!). Dass die Frage auftaucht, ob der Name Randolph wohl zufällig gewählt wurde, oder als Anspielung auf den Medientycoon Randolph Hearst zu verstehen ist. Und auf wen der Trompeter mit der Narbe, der nach 9 Jahren wieder in New York spielt und neue Töne mitgebracht hat, auf wen dieser Mann wohl in der Wirklichkeit verweist. Und dass nicht immer alles ganz stimmig ist in dieser Welt.
Aber irgendwie scheinen diese Punkte im Rückblick egal, sind die kleinen Verstimmungen unwichtig gegenüber dem großen Ganzen, das den Zuschauer so kühl-elegant und lakonisch einfängt und nicht mehr loslassen mag. MOTHERLESS BROOKLYN ist großes Märchenkino für alle, die den Stoff aus den 40ern und 50ern mögen. Die Musik. Die Autos. Die Frauen. Und natürlich die Filme.
8/10