Anapeson - Francesco Dongiovanni (2015)
Verfasst: Di 1. Dez 2020, 19:14
Produktionsland: Italien 2015
Regie: Francesco Dongiovanni
Darsteller: Das Gelände des "Casino del Duca" in all seiner ruinösen Pracht
Graf Carl Ulysses von Salis-Marschlins (1760-1818) war ein Schweizer Gelehrter und Politiker, den seine Faszination für die Forschungsfelder Botanik, Landwirtschaft, Biologie auf umfangreiche Reisen unter anderem ins Königreich Neapel geführt hat. Über seinen dortigen Aufenthalt 1789 publiziert er vier Jahre später einen Bericht unter dem Titel „Reisen in verschiedene Provinzen des Königreichs Neapel“ – ein Konvolut von mehreren hundert Seiten, über dem, wie über so vielen Reisetagebüchern der Goethe-Zeit, die Wellen der Geschichte längst zusammengeschlagen sind. Mehr als zweihundert Jahre müssen ins Land ziehen bevor der an der Schnittstelle zwischen Experimentalfilm und Ethnographie operierende italienische Regisseur Francesso Dongiovanni den arkanen Text wieder ausgräbt. Dessen Herzstück – der Aufenthalt Salis-Marschlins‘ auf dem herrschaftlichen Landsitz des Herzogs von Martina in der Apulien-Ortschaft St. Basilio, dem sogenannten „Casino del Duca“ – nutzt Dongiovanni als literarische Blaupause für einen audiovisuellen Ausflug zu dem, was heute noch von dem einst prächtigen Palast und den angrenzenden Ländereien übriggeblieben ist: Verfallene Gebäudekomplexe, deren Mauern sich die Natur längst zurückerobert hat, sodass Bäume in ihnen wuchern, sich ihre Außenflächen mit Unkraut wie mit einem grünen Gewand bedecken, die Umgrenzungen früherer Pferdekoppeln und Schafsställe unter dem Wildwuchs nur noch mit Mühe auszumachen sind.
„Dieser Herr ist aus dem Geschlecht der Caraccioli“, schreibt Salis-Marschlins über seinen wohlbegüterten Gastgeber, „einem der edelsten des Reichs. Er besitzt in dieser Provinz und in den Principati di Salerno wirklich fürstliche Herrschaften. Ich war schon zuvor durch den Erzbischof, meinen Reisegefährten, für ihn eingenommen, da er mir nicht nur seinen moralischen Charakter, sondern auch seine Liebe zum Landleben und seine Gleichgültigkeit gegen Hof- und Stadtleben vorgerühmt hatte.“ Auch die neunzigjährige Mutter des Herzogs erregt das äußerste Wohlgefallen unseres Autors: „Wie entzückte mich die fürstliche Matrone, die in ihrem hohen Alter des vollkommensten Gebrauchs aller ihrer Sinne, und besonders eines lebhaften durchdringenden Verstandes genießt.“ Kurzum: „Ich war im ersten Augenblick bei diesen guten Leuten schon zu Hause.“ Ihre Tage verbringen Salis-Marschlins und sein neugewonnener Freund damit, dass letztere dem wissbegierigen Gasst seine üppigen Bestände an Schafen und Ziegen vorführt, dass er ihn an einem „tartarischen Auftritt“ teilhaben lässt, bei dem seine kostbarsten und prestigeträchtigsten Pferde für ihn paradieren, dass er ihm in geistreichen Konversationen die Sitten und Gebräuche der Landbevölkerung auseinandersetzt. Salis-Marschlins schildert „Casino del Duca“ als ein wahrhaftes Arkadien, in dem die Tugend des Landesherrn dafür Sorge trägt, dass der Ort zu einem Paradies auf Erden wird. Zweihundert Jahre später sind von diesem aristokratischen Glanz freilich nicht mal mehr Spuren zu erahnen.
Am ehesten müsste man Dongiovannis ANAPESON, (wenn man denn überhaupt in solchen Kategorien denken möchte), dem (freilich definitorisch wenig präzise umrissenen) Genre des Slow Cinema oder Kontemplativen Kino zuordnen: Die Bildkompositionen sind manieristisch, oftmals statisch; falls es Kamerabewegungen gibt, dann handelt es sich um elegische Schwenks, die sich streng an der horizontalen oder vertikalen Bildachse orientieren. Zwar liest eine Männerstimme aus dem Off uns aus einer italienischen Übersetzung von Salis-Marschlins‘ Reiseerinnerungen vor; ansonsten jedoch verzichtet der knapp vierzigminütige Film auf jedweden Kommentar und Kontext, und verlässt sich ganz auf seine Bilder. Diese erweisen sich als eine Sammlung von Momentaufnahmen, mit denen Dongiovanni offenbar versucht, den gegenwärtigen Zustand der ehemaligen Herzogresidenz aus so vielen Perspektiven wie möglich einzufangen. Rein ästhetisch könnten die Passagen bei Salis-Marschlins und die Aufnahmen Dongiovannis kaum weiter entfernt voneinander sein: Die Prosa des Schweizer Intellektuellen kommt schwärmerisch daher, verliert sich in breit ausgewalzten Detailbeschreibungen über die Flora St. Basilios, über die Innovationen, die der Herzog bei der Schafs- und Ziegenzucht entwickelt hat, über die konkreten Zahlen und Daten zu Größe der Residenz, zum Bestand der Nutztiere, zur Anzahl der Dörfer, die unter die Obergewalt des Herzogs fallen. Dongiovannis Bilder demgegenüber präsentieren sich als nacktes, steinbruchartiges Material, versprühen Kargheit und Tristesse, wirken eher wie eine traurige Ode als ein festlicher Preisgesang. Den jungen Filmemacher faszinieren die widerstreitenden Farbspiele an den Innenwänden der Gebäude, wo der Verputz bereits in mehreren Schichten herabgerieselt ist und sich Wind und Wetter derart ins Gemäuer eingraviert haben, dass es zu verblüffenden Kombinationen von Braun-, Weiß-, Rot-, Blau- und Grüntönen kommt, die stellenweise an abstrakte Gemälde erinnern; von einem schmucken Turm, der unweit des Wohngebäudes aufgeragt hat, steht lediglich noch der Sockel, umsäumt von Steinbrocken, über die Wiese und Felder längst hinwegzurollen begonnen haben; die einstigen Zimmer, in denen die herzogliche Familie gewohnt hat, mutet an wie Katakomben mit ihren teilweise zusammengebrochenen Mauern und fehlenden Deckengewölben, ihrer bedrückenden Leere, den schimmelfeuchten Bodenfliesen. Vereinzelt eingeblendete alte Zeichnungen oder Photographien, die Dongiovanni mutmaßlich im nächstgelegenen Stadtarchiv gesichtet und gefilmt hat, vermitteln zusätzlich zu den Elogien Salis-Marschlins, wie beeindruckend das Anwesen noch bis ins 20. Jahrhundert gewesen sein muss. Eine Erklärung für den Verfall liefert ANAPESON nicht: Als würde eine elliptische Montage die beiden voneinander trennen, haben wir nur die glorreiche Vergangenheit auf der einen und die ernüchternde Gegenwart auf der andern Seite, ohne jedwedes Zwischenstadium, so, als habe eine unerklärbare, undarstellbare Naturgewalt mit dem Casino del Duca kurzen Prozess gemacht - eine Naturgewalt, die man auch einfach Zeit nennen könnte.
Während wir uns den Großteil der Laufzeit von ANAPESON auf dem Gelände des Herzogssitzes umherbewegt haben, sind Zeichen der Moderne rar gesät gewesen: Ein paar Windräder weit im Bildhintergrund riefen uns im Grunde als einzige ins Gedächtnis, dass wir uns im Italien des Jahres 2015 befinden. Erst in der letzten Handvoll Einstellungen tritt Dongiovanni von seinem Sujet so weit zurück, dass wir es eingebettet in einen größeren topographischen Kontext zu sehen zu bekommen: Offenbar verläuft unweit der Ruinen eine Schnellstraße mit angegliedertem Parkplatz; es sind Häuser einer nahen Ortschaft zu sehen; der Verkehrslärm bricht in die andächtige, beinahe sakrale Stille, die weit über eine halbe Stunde geherrscht hat. Mich überfällt das Gefühl eines anachronistischen Schocks: Als würde mir bei einem altrömischen Wagenrennen auf einmal eine Armbanduhr am Handgelenk eines der Wettstreiters auffallen.
Mit seiner Gegenüberstellung von literarisch vermitteltem Pomp und filmisch vermitteltem Puritanismus ist ANAPESON tatsächlich eine der schönsten Studien zum Verfall der Schönheit und zur Schönheit des Verfalls, die ich seit langem gesehen habe, und dabei so kontemplativ, besonnen, einen auf sich selbst zurückwerfend, dass man sich gewiss mehrere Meditations-Stunden sparen kann...