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Die Blinde von Sorrent - Nunzio Malasomma (1934)

Verfasst: Do 7. Jan 2021, 10:14
von Salvatore Baccaro
La cieca di Sorrento (1934).jpg
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Originaltitel: La Cieca di Sorrento

Produktionsland: Italien 1934

Regie: Nunzio Malasomma

Darsteller: Dria Paola, Corrado Racca, Dino Di Luca, Anna Magnani, Mario Steni, Giulio Tempesti

Obwohl der Italiener gemeinhin alles, was ansatzweise eine Kriminalfilmhandlung aufweist, als „Giallo“ bezeichnet, bin ich doch normalerweise etwas vorsichtig, wenn es darum geht, italienische Krimis oder Thriller, die vor Mario Bavas LA RAGAZZA CHE SAPEVA TROPPO und SEI DONNE PER L'ASSASSINO entstanden sind, unter dem gelben Banner zu subsumieren.

Nur weil Mario Camerinis GIALLO aus dem Jahre 1933 diesen Namen trägt, ändert das nichts daran, dass es sich dabei in erster Linie um die Leinwandadaption eines Edgar-Wallace-Theaterstücks handelt, in dem eine Ehefrau ihren Gatten für einen gesuchten Killer hält, und bei dem etwaige beklemmende Momente konsequent leichtfüßigem, manchmal albernem Humor geopfert werden. Schon näher an der Genre-Formula siedelt Pietro Germis UN MALEDETTO IMBROGLIO aus dem Jahre 1959, obwohl der Streifen rein ästhetisch natürlich viel mehr dem sozialkritischen Neorealismus verdankt statt dass er die intensive Inszenierung eines Bava vorwegnimmt.

LA CIECA DI SORRENTO – eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Francesco Mastriani aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts – wiederum hätte ich ad hoc nie und nimmer mit dem Giallo-Genre in Verbindung gebracht, scheint es sich bei dem von Nunzio Malasomma gedrehten Film doch auf den ersten Blick um ein kostümiertes Melodrama zu handeln, das vom Schicksal eines blinden Mädchens im Italien von vor über einhundert Jahren erzählt. Aber lasst euch einmal auf der Zunge zergehen, was genau denn zum Verlust des Augenlichts bei der kleinen Beatrice di Rionero geführt hat: Die nämlich schläft eines Nachts im Bettchen neben ihrer Mutter, als ein vermummter Mann durchs Fenster in die Schlafkammer einsteigt, und die erwachende Frau, scheinbar aus Angst, ihre Schreckensschreie könnten die Polizei alarmieren, im Affekt ersticht. Wie wir zuvor erfahren haben, hat der Mann auch allen Grund, Beatrices Mutter auf gewaltsame Weise den Mund zu stopfen: Er zählt zu einer Gruppe politischer Verschwörer, die sich in einer Kellerkneipe getroffen haben, um konkrete Pläne für einen Sturz der Regierung zu schmieden. Verpfiffen von jemandem aus den eigenen Reihen werden die Dissidenten von der eintreffenden Staatsmacht überrascht. Unser Mörder in spe kann fliehen, hangelt sich in letzter Sekunde durch ein offenes Fenster, - und treibt Beatrices zu schreien drohender Mutter einen Dolch in die Brust, um die eigene Haut zu retten. Tatsächlich schafft es der Bursche, der sich ausgerechnet als Rechtsanwalt Ernesto Basileo entpuppt, anschließend bis in die Arme seiner Frau Anna, der er sogleich reinen Wein einschenkt und für den Fall der Fälle ein Alibi von ihr fordert. Anna erklärt sich bereit, für ihn zu lügen, auch wenn sie die Berichte zutiefst erschüttern, die aus dem Hause der weitläufig bekannten Familie di Rionero zu ihr dringen: Beatrice hat der Anblick des Todes ihrer Mutter so sehr traumatisiert, dass plötzlich ein Schleier über ihren Augen liegt. Alles, woran sie sich erinnern kann, ist das Bild ihrer im Blut schwimmenden Mama, sowie der stechende Blick, mit dem der Mörder das Kind kurz zuvor gestreift hat. Noch ärger nimmt es Anna mit, als auch noch ein Unschuldiger für die Tat ihres Mannes gradestehen soll: Bei dem von der Polizei aufgegriffenen Baldieri handelt es sich zwar ebenfalls um einen der Verschwörer, weshalb die Justiz auch kein Problem hat, ihn sofort ans Messer zu liefern, doch mit dem Mord an Signora di Rionero hat der natürlich nichts zu tun. Noch im Angesicht des Todes erweist Baldieri wahre Größe, indem er Basileo, von dem er ahnt, dass er der gesuchte Mörder ist, nicht an die Polizei verrät. Entehrt und von der Unschuld seines Vaters überzeugt bricht Baldieris Sohn Carlo, nachdem sein Vater am Galgen geendet ist, gen USA auf… Puh, da sage mir jemand, dass das nicht die perfekte Ausgangslage für einen Giallo darstellt: Ein unaufgeklärter Mord; eine Zeugin, die den Mörder identifizieren könnte, würde sie nur ihr Augenlicht zurückgewinnen; Schuld und Rachegefühle, die sich zentnerschwer und meterhoch auf den Schultern gleich mehrerer Figuren stapeln…

Zehn Jahre später: Beatrice ist noch immer blind, umsorgt von Freunden und Familie, und vor allem von Basileo, der mit seinem schlechten Gewissen scheinbar nur dadurch zu Rande kommt, dass er der jungen Frau den Hof macht. Seine Gattin Anna ist davon natürlich wenig begeistert: Endgültig verpufft sind die innigen Gefühle zwischen dem Ehepaar im zurückliegenden Jahrzehnt, die Scheidung steht kurz vor der Tür. Wer ebenfalls vor der Tür steht, das ist Carlo, der sich in der Fremde das Pseudonym Oliver Simon zugelegt und sich zu einem weltberühmten Arzt mit Spezialgebiet Augenheilkunde gemausert hat. Bald verkehrt Carlo freundschaftlich im Hause di Rionero – und das natürlich nicht ohne Hintergedanken: Zum einen fassen Beatrice und er schnell Zuneigung zueinander; zum andern würde es, bekäme er es wirklich fertig, Beatrice wieder zum Sehen zu bringen, möglicherweise neue Erkenntnisse ans Tageslicht fördern, die seinen Vater posthum vom Mordverdacht freisprechen könnten. Carlo wagt es, Beatrice einer neuartigen Therapie zu unterziehen, - was freilich Basileo nicht verborgen bleibt, der nunmehr fürchten muss, von Beatrice enttarnt zu werden. Bald schon wird ein Mordanschlag auf Carlo verübt, als eine Kugel ihm einen Mitternachtsbesuch durch die Fensterscheibe abstattet...

An einem Hauptproblem krankt LA CIECA DI SORRENTO: Seinrt Laufzeit. Gerade mal 68 Minuten gönnt Maalasomma seinem breitgefächerten Figurenreigen, (von dem ich in meiner kurzen Inhaltsangabe tatsächlich nur die wichtigsten aufgezählt habe), was gemessen an dem Umstand, dass LA CIECA DI SORRENTO einen Zeitraum von zehn Jahren abdeckt, dass jeder seiner Protagonisten auf die eine oder andere Weise mit einem andern verwandtschaftlich, freundschaftlich oder sonst wie verbandelt ist, dass die politischen Umbrüche im Italien der 1810er und 1820er Jahre zumindest implizit eine wichtige Hintergrundfolie zum Verständnis manchen Details liefern, schlicht zu wenig ist. Somit bleibt vieles nur angerissen, kursorisch, skizziert, und wir wechseln im Prinzip munter zwischen Szenen, in denen Beatrices Busenfreundin Maria Luisa auf humoristische Weise herauszufinden versucht, ob ein junger Mann, auf den sie ein Auge geworfen hat, genauso fühlt wie sie; welchen, in denen wir das desolate Eheleben der Basileros erleben dürfen; welchen, in denen Carlo Beatrice Stück für Stück zurück zur Sehkraft führt. Auch dramaturgisch steht LA CIECA DI SORRENTO auf eher wackligen Stelzen, wenn die Exposition mit dem Mord an Beatrices Mutter allein schon mehr als ein Drittel Laufzeit einnimmt, und der ganze Rest dadurch umso gehetzter wirkt. Andererseits ist das Meckern auf hohem Niveau, denn unterm Strich hat mich diese eher ungewöhnliche Mixtur aus Kostümdrama, Liebesromanze, Kriminalfilm doch prächtig unterhalten. Kaum sattsehen kann ich mich an der eleganten Schwarzweißphotographie, und wenn Beatrice in Großaufnahme zum ersten Mal die Augenbinden abgenommen werden, und sie zu stammeln beginnt, dass sie undeutliche Umrisse erkenne, dann schaudert es mich, als würde ich einer Allegorie auf das Kino selbst zuschauen. Tja, und die Bezüge zum Giallo-Genre sind natürlich ebenfalls nicht von der Hand zu weisen: Als sei Beatrice eine frühe Vorläuferin der Heldinnen und Helden Argentos, die irgendeine Nuance aufschnappen, wissen, dass sie eine Nuance aufgeschnappt haben, sich partout jedoch nicht erinnern können oder wollen, was für eine Nuance das gewesen sein soll, überführt sie Basileo schließlich als Mörder ihrer Mutter, als dieser in ihrer Anwesenheit voller Zorn mit seiner Ehefrau streitet – und seine Blicke für einen kurzen Moment genau die Raubtierhaftigkeit an den Tag legen, die sie als Kind bereits an ihm gesehen hat, als er ihre Mutter entleibte.

Als besondere Rosine auf der Torte gibt es übrigens noch Anna Magnani in einer ihrer ersten Hauptrolle als Basileos Eheweib zu sehen. Durch die extrem stark geschminkten Augen erhält ihr Gesicht eine nosferatuartige Sexyness – wobei ich noch eine Weile darüber nachdenken muss, inwieweit das nicht ein Widerspruch in sich selbst darstellt.

Spannend finde ich, dass Mastrianis Roman sowohl bereits 1916 verfilmt worden ist, und dann noch einmal 1953 und 1962 auf die Leinwand gebracht wurde – so spannend, dass es mich erheblich reizt, mir diese Filme, sollte ich sie überhaupt in die Finger bekommen, im Vergleich zur 1934er Fassung ebenfalls noch zu Gemüte zu führen…